Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

Dienstag, 15. Oktober 2019 ∙Nr. 239∙240.Jg. AZ 8021Züri ch∙Fr. 4.90 ∙€4.


Zürcher Seeufer: Bar- und Klubbetreiber fordern mehr Cafés statt Alkoholverbot Seite 17


Syrien-Konflikt
NeuePartner:Russland fädelt Allianz
zwischenKurden und Asad ein. Seite 7

Unvers tändnis:US-PräsidentTrump
stösst seinePartei vor denKopf. Seite 7

Kommentar:Trump verhilft Putin
zum Triumph. Seite 11

Erdogan lässt sich nicht stoppen


Trotz Sankti onsdrohungen aus Washington und Brüssel setzt Ankara den Einmarsch in Syrien fort


Im Kampf gegen die türkische


Invasion erhalten dieKurden


seit MontagRückendeckung


durch das Asad-Regime. Die EU


droht mit einemWaffenembargo.


Aber nur Moskau kann


Ankara wohl noch aufhalten.


CHRISTIAN WEISFLOG, BEIRUT


Bereits am Sonntagabend schickte
Damaskus ersteTruppenverbände nach
Nordosten, um «die türkische Aggres-
sion zu bekämpfen».Gleichzeitig bestä-
tigten dieKurden die Einigung mit dem
Asad-Regime auf Schützenhilfe und
gewährten denTruppen der syrischen
Armee Einlass auf das von ihnenkon-
trollierte Gebiet östlich des Euphrats.
Kurz zuvor hatte MazlumAbdi, der
Oberbefehlshaber der kurdisch geführ-
ten SDF-Miliz, in einem Meinungsbei-
trag für das Magazin «ForeignPolicy»
geschrieben: «Wir wissen, dass wir
schmerzhafteKompromisse gegenüber
Moskau undBashar al-Asad machen
müssen, wenn wir mit ihnen zusam-
menarbeitenwollen.Aber wenn wir die
Wahl zwischenKompromissen und dem
Genozid unseresVolkes haben, wählen
wir mit Sicherheit das Leben.»


Kurdenfrageist aufgeschoben


Angesichts des überstürzten Rück-
zugs ihres amerikanischenVerbünde-
ten war dieVerhandlungsposition der
Kurden äusserst schwach. «Es handelt
sich nur um ein vorläufiges militärisches
Abkommen», erklärte ein hoher kurdi-
scherFunktionär der Nachrichtenagen-
tur Reuters am Montag. Die politischen
Fragen,will heissen eine möglicheAuto-
nomi eoder Minderheitenrechte für die
Kurden, würden später diskutiert.
Gemäss unterschiedlichen Quel-
len stationierteDamaskus am Montag
erste Einheiten in den strategisch wichti-


gen StädtenAin Issa undTellTamer ent-
lang der M-4-Autostrasse. DieserVer-
kehrsweg verbindet den ganzen Norden
Syriens von Aleppo bis an die irakische
Grenze.Bei AsadsVerstärkungen han-
delt es sich aber offensichtlich bis jetzt
nicht um schlagkräftigePanzerkolon-
nen. Im Internet verbreiteteVideos zei-
gen, wie syrischeTruppen in grossen Sat-
telschleppern und auf Pick-ups in den
Nordosten desLandes gebracht werden.
Zu direkten Kampfhandlungen zwi-
schen syrischen Soldaten und der tür-
kischen Armee und den mit ihnen ver-

bündeten arabisch-syrischenRebellen-
gruppen ist es bisher noch nicht gekom-
men. An derFront leisteten weiterhin
die Kämpfer der kurdisch dominierten
SDF-MilizWiderstand gegen die hefti-
gen türkischen Angriffe.Auch am Mon-
tag gelang es ihnen vorerst, die von drei
Seiten eingekesselte GrenzstadtRas al-
Ain zu verteidigen.

Asads Armee zuerst in Manbij


Zu einemAufeinandertreffen zwischen
den türkischenVerbänden und der syri-
schenArmeekönnte es indes bald in den
StädtenKobane und Manbijkommen,
wo immer noch amerikanische Soldaten
stationiert sind.Damaskus kündigte am
Sonntagabend an, innerhalb der nächs-
ten 48 Stunden seineTruppe n au ch dort-
hin zu schicken. Dies jedoch wollte der
türkische PräsidentRecep Tayyip Erdo-
gan unbedingt verhindern. Sein Ziel ist
die Errichtung einer 30 Kilometer tie-
fen Pufferzone entlang der ganzen tür-
kischen Südgrenze: einerseits, um dort
di e mit derKurdischen Arbeiterpartei
(PKK) verbandelten Kräfte zu vertrei-
ben, und anderseits, um einen grossen
Teil der 3,6 Millionen syrischen Flücht-
linge aus derTürkei anzusiedeln.
Die Kurdenregion Afrin imWesten
hatte Ankara bereits 2018 erobert. Der
GrenzabschnittzwischenTellAbiad und
Ras al-Ain ist nun auch schon fast unter
türkischerKontrolle und soll durch die
Eroberung vonKobane und Manbij an
Afrin angeschlossen werden. Erdogan
gab sich am Montag daher entschlos-
sen: «Unsere Entscheidung zu Manbij
ist gefallen, jetzt werden wir sie umset-
zen.»Auch den Angriff auf die Grenz-
stadtKobane will Erdogan fortsetzen:
«Was Kobane betrifft, sehe ich dank der
positiven russischen Haltung momentan
keine Probleme.»

Am Montagabend erhielten Erdogans
grosse Ambitionen aber einenDämpfer.
Die syrische Armee sei in Manbij ein-
marschiert,meldeten die Staatsmedien
in Damaskus. Riskiert der türkische Prä-
sident trotzdem einen blutigen Angriff
auf die Stadt, werden wohl auch Asads
Schutzherren in Moskau dies nicht ein-
fach so hinnehmenkönnen. Und eine
ernsthafteKonfrontation mitRussland
dürfte dieTürkei nicht riskieren.
Der Druck desWestens hingegen
scheint den türkischen Präsidenten
nichtzu beeindrucken.Washin gton kün-
di gte am späten Montagabend Straf-
zölle auf Stahlimporte an und drohte
mit Sanktionengegen einzelnePerso-
nen. Die EU beriet über einWaffen-
embargo gegenAnkara,ohne allerdings

einen Beschluss zu fassen. Die 28 Mit-
gliedstaaten hätten aber «ganz klar die
Richtung eingeschlagen,dasskein euro-
päischesLand mehrWaffen in dieTür-
kei liefert», sagte der luxemburgische
AussenministerJean Asselborn.
Der türkische Präsident,der seinLand
in einem existenziellen Kampf gegen
kurdische«Terroristen» sieht und an der
Front auch islamistischeRebellengruppen
aus Syrien einsetzt, stellte denWesten vor
eine klareWahl: «Steht ihr auf der Seite
eures Alliierten, einesNato-Mitglieds,
oder auf der Seite derTerroristen?»

Nachdem Angrifftürkischer Streitkräfte vom Sonntag schwebt eine Rauchsäule über der syrischen StadtRas al-Ain. EMRAH GUREL / AP

LIBANONLIBANON

SYRIENSYRIEN

TÜRKEI

JORDANIEN

IRAKIRAK

Damaskus

Tell Abiad

KobaneKobane Ras al-Ain

Ain Issa
Rakka

Aleppo

Manbij

AfrinAfrin

Idlib

Hasaka

Tell Tamer

Kamishli

Euphrat

Autostrasse M4Autostrasse M

Türkische Einflusszone Sunnitische Aufständische Jihadisten
Kurdische Gruppen Asad-Regime Irakische Regierung

Einflusszonen inSyrien


Quelle: IHSConflictMonitor,Stand: 14. Oktober 2019 200 Kilometer NZZ Visuals/jok.

Hartes Urteil


gegen


die Separatisten


Kurz nach der Urteilsverkündung
beginneninKataloniendieProteste

utm. Madrid · Der Mammutprozess
gegen die katalanischen Unabhängig-
keitsbefürworter, die am 1. Oktober
2017 ein illegales Plebiszit über die Ab-
spaltung Kataloniens von Spanien ab-
hielten, hat am Montag mit einem har-
ten Urteil geendet.DasVerfahren war
im Juni abgeschlossen worden, doch die
sieben Richter am oberstenspanischen
Gerichtshof benötigten vier Monate,um
ein einstimmiges Urteil zu fällen.
Der versuchte Bruch mit Madrid
kam die zwölfAngeklagten, zehnPoli-
tiker und zwei Bürgerrechtler, teuer zu
stehen – wenngleich das Strafmass unter

den Forderungen der Staatsanwaltschaft
lag. So wurde der ehemalige katalani-
sche Vizeministerpräsident OriolJun-
queras zu dreizehnJahren Haft wegen
Aufruhrs verurteilt.Junqueras musste
als Hauptschuldiger herhalten, weil sein
Chef, der frühere Ministerpräsident Car-
les Puigdemont, vor zweiJahren zusam-
men mit drei weiteren Kabinettsmitglie-
dern ins Exil geflüchtet war. Die Staats-
anwaltschaft hatte fürJunqueras sogar
fünfundzwanzigJahre Gefängnis für den
Tatbestand der «Rebellion» gefordert.
Sie sah es als erwiesen an, dassJunque-
ras gemeinsam mit den anderen Leit-
figuren gewaltsam einen Staatsstreich
durchführen wollte.
Die Richter kamen nicht zum glei-
chen Schluss. Es habe zwar Gewalt ge-
geben, aber nicht, um den Bruch mit
Madrid herbeizuführen,sondernumdie
Verhandlungsposition der Separatisten
zu verbessern, heisst es im Urteil.
Nur geringfügig tiefer war das Straf-
mass für drei ehemalige Kabinettsmit-
glieder: für den damaligen katalani-
schenAussenbeauftragtenRaül Ro-
meva, den einstigen Präsidentschafts-
ministerJordiTurull sowie die frühere
Arbeitsministerin Dolors Bassa. Sie
wurden zu zwölf Jahren Haft verur-
teilt. Diesen drei sowie OriolJunqueras
wurde zudem dieVeruntreuung öffent-
licher Gelder bei derDurchführung des
Referendums zurLast gelegt.
Die ehemalige katalanische Par-
lamentspräsidentin Carmé Forcadell
wurde zu elfeinhalbJahrenFreiheits-
entzug verurteilt, zwei weitere ehema-
lige Mitglieder derRegionalregierung
müssen zehneinhalbJahre hinter Git-
ter.Auf die beiden BürgerrechtlerJordi
Cuixart undJordi Sánchez warten neun
Jahre Freiheitsentzug. Drei weitere kata-
lanischePolitiker wurden wegen zivilen
Ungehorsams mit einer Geldstrafe von
jeweils rund 60000 Euro belegt.
In der gesamtenRegion werden in
den kommendenTagen Protestaktionen
erwartet. Erste Demonstrationen, unter
anderem beim Flughafen inBarcelona,
begannen kurz nach der Urteilsverkün-
dung.Aus Furcht vor möglichenAus-
schreitungen hat Madrid bereitsTau-
sende zusätzliche Mitglieder der Guar-
dia Civil nach Katalonien geschickt.

Katalanischer Konflikt
Widerstand:Die Unabhängigkeits-
bewegung macht mobil. Seite 5

Kommentar:Madrid hat dieWahl
zwischen Dialog und Eskalation.Seite 11

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