Nächster Halt Elektroparty: In diesem ehemaligen U-Bahn-Wagen werden alle Veranstaltungen im Bahnwärter Thiel geplant.
von michael bremmer
I
n der Abendsonne ist das Büro am
schönsten. Daniel Hahn geht dann vor
in das Führerhaus seiner Münchner
U-Bahn – ein Prototyp der Serie B – und
schaut auf seinen kulturellen Abenteuer-
spielplatz.AufdenKulturkutteraufderEi-
senbahnbrücke, der von hier aus zu sehen
ist. Auf einige seiner 60 mit Graffiti be-
sprühten Seefrachtcontainer, die zum Teil
übereinander gestapelt auf dem ehemali-
gen Viehhofgelände stehen. Vier Meter
über dem Boden steht der Zug, den Daniel
Hahn, 29, von einem Abstellgleis der
Münchner Verkehrsbetriebe und somit
auch vor dem weiteren Ausschlachten ge-
rettet hat. Gut, die Original-Sitzflächen
wurden zuvor schon in andere U-Bahnwa-
gen eingebaut, das ärgert Hahn – aber so
ist zumindest Platz für einen Bespre-
chungstisch. Hat ja auch was.
Von der Fahrerkabine aus kann Daniel
Hahn auch all die Veränderungen auf dem
1000 Quadratmeter großen Gelände beob-
achten. Die Kantine etwa, die gerade in ei-
nem weiteren U-Bahn-Wagen entsteht
und schon bald von dem Verein Cooperati-
ve Beschützende Arbeitsstätten betrieben
werden soll. Der Verein ist unter anderem
für die Gastronomie in den Kammerspie-
len und der Filmhochschule verantwort-
lichist.HahnsiehtvondortauchdieKünst-
lerateliers,fürdiegeradedieContainerum-
gebaut werden – 25000 Euro müssen hier
jeweils investiert werden. Die Proberäume
fürBands.DieGemeinschaftsbeete.DerJu-
gendtreff samt Erfinderwerkstatt.
„Munich’s hip sides“ schrieb der New Yor-
ker im vergangenen Winter und zeigte ein
Bildvon„ThealteUtting“mitdenleuchten-
den Lichterketten in der Abenddämme-
rung. Hahn hat München ein bisschen be-
rühmter gemacht.
Um in sein Büro zu kommen, muss man
vorbei an grünen Turnschuhen, die be-
pflanzt wurden, an drei Bienenvölkern auf
einemContainerundschließlich eineWen-
deltreppe hochsteigen. An die 600 Veran-
staltungen finden im Jahr im Bahnwärter
Thiel statt, Elektropartys, Lesungen, Aus-
stellungen, Flohmärkte – all das wird in
diesem U-Bahnwagen geplant.
Mehrals100KollegenarbeitenimBahn-
wärter Thiel, die meisten sind in der Nacht
tätig – für Hahns Chefrolle reichen gerade
maleineinhalb Quadratmeter. Ein schlich-
ter Tisch, darauf ein Laptop. Hinter ihm
ein hüfthohes Regal, das noch nicht einge-
räumt ist – erst vor einer Woche haben sie
das Büro bezogen. Auf der Ablage liegen
schwarze Kopfhörer. Daniel Hahn nimmt
sie in die Hand, betrachtet sie zweifelnd.
„Ich weiß nicht, was die hier machen“, sagt
er, „ich kann keine Musik hören, wenn ich
arbeite, wenn ich mich konzentrieren
muss.“ Ein Headset liegt parat, allerdings
fehlt noch das Telefon am Schreibtisch.
Ein Foto mit Lebkuchenrand erinnert an
den Teamausflug aufs Oktoberfest, an der
Glasscheibe vor ihm klebt noch das Origi-
nal-Piktogramm V20380 aus der U-Bahn:
der Schwerbehinderten-Sitzplatz. An der
Wand hängen zudem drei Fotos von der
MSUtting–„diehabeichnurschnellaufge-
hängt, bevor der Fotograf kommt“, sagt
Hahn und grinst. Eine Tür weiter geht es
in das Fahrerhaus, der eigentliche Chef-
platz,denHahnaberderBüroleiterinAran-
ka Haller überlassen hat – sie müsse
schließlich häufig telefonieren und solle
dabei nicht von den anderen gestört wer-
den.
AmanderenEndedesZugssitztProjekt-
leiter Paul Müller, an der Glasscheibe hän-
genZufahrtspläne zum Münchner Flugha-
fenterminal – seit diesem Montag baut
Hahns Truppe zwei Boardingstationen,
zwei Fluggastbrückenund einenFluggast-
stegab,derspätermaleineweitereKultur-
einrichtung werden soll – vorausgesetzt,
Hahn findet rechtzeitig ein geeignetes Ge-
lände. Die Verhandlungen laufen noch. Im
nächsten Abteil sitzt Moritz Butschek, ein
Elektro-DJ, der auch für Programmpla-
nung im Bahnwärter Thiel zuständig ist.
An der Tür hängt ein Plakat mit Fotos von
AndreasBohnenstengelvomPferdemarkt.
Auch in den Neunzigerjahren gab es offen-
sichtlich im Viehhof einige Attraktionen.
Eine U-Bahn wird im Normalbetrieb
durch die Bremsanlage geheizt – im Still-
stand hilft das natürlich wenig. Deswegen
baut Hahn in den nächsten Tagen einen
Schwedenofen ein, die Einzelteile stehen
noch verpackt im Gang. Pellets werden
dann gut sichtbar hinter einer transparen-
ten Scheibe verbrannt, in die U-Bahn-Tür
wirdnoch einAbluftrohreingebaut. Gegen-
über des Ofens steht ein Sofa. Wird es in
ein paar Wochen bitterkalt werden, wird
dort der gemütlichste Platz im Büro vom
Bahnwärter Thiel sein.
MÜNCHNER
CHEFZIMMER
Alles begannmit einem Zirkuszelt, das Da-
niel Hahnim Alter von 21 Jahren gekauft
hat. 2012 gründete er den Verein „Wannda
Circus“,dernoch heute mit einem Manege-
Mix aus Party, Straßenkunst und Akroba-
tik junge Menschen zum Feiern anlockt.
2015 gab es erstmals den Bahnwärter
Thiel – im Mittelpunkt stand damals ein
ausrangierter Schienenbus aus dem Jahr
1952, den Hahn neben der Clubhalle auf
dem alten Viehhof platzierte. Hahn leiste-
te sichweitere Anschaffungen,Schiffscon-
tainer, U-Bahn-Wagen und – wohl am
spektakulärsten – ein ehemaliges Aus-
flugsschiff vom Ammersee.
Es sind aber nur bedingt Investitionen
für die Zukunft. Sowohl die Alte Utting als
auchderBahnwärterThielsind sogenann-
te Zwischennutzungsprojekte. Der Nut-
zungsvertragaufdemGelände des ehema-
ligen Viehhofsläuft Ende2022aus –bisda-
hin muss Daniel Hahn alles, was gerade
entsteht, zurückgebaut haben. Das
schmerzt – auch finanziell. Die Investitio-
nen in seinen Club sind nichts mehr wert,
falls er kein neues Gelände findet. Und die
Kosten für den Bau von Stromleitungen
und Abwasserrohren ersetzt ihm keiner.
Darum sucht Hahn für seinen Bahnwärter
Thiel ein festes Gebäude – bislang verge-
bens. MBR
Ein Büro vier Meter über dem Boden
Daniel Hahn blickt vom Führerhaus einer ausrangierten U-Bahn auf seinen ganzen kulturellen Abenteuerspielplatz: die besprühten Schiffscontainer
vom Bahnwärter Thiel, die MS Utting ganz hinten auf der Eisenbahnbrücke. Und um ihn herum: ein winziger Arbeitsplatz
Eine Münchner U-Bahn
hat Daniel Hahn in das Büro
des Veranstaltungsortes
Bahnwärter Thiel umgewandelt.
Manche Sitzgruppen waren
bereits ausgeschlachtet,
Aufkleber wie der Hinweis für
Schwarzfahrer oder ein
Streckenplan, Stand Dezember
2014, hängen dagegen immer
noch. Im Fahrerhaus hat
Büroleiterin Aranka Haller ihr
Büro bezogen. Geschäftsführer
Hahn sitzt im Abteil dahinter. Er
hat gerade einmal eineinhalb
Quadratmeter zur Verfügung.
FOTOS: ROBERT HAAS
Ein Besuch bei
Daniel Hahn, Geschäftsführer
vom Bahnwärter Thiel
SZ-Serie · Folge 15
Kirchseeon– Rechts, links, rechts – das
Boot passiert einen großen Kanal im Do-
naudelta. Links, rechts, links. Es steuert
auf das Ufer zu. Das Wasser ist voller
Schlamm. Man muss vorsichtig sein, um
beim Aussteigen nicht auszurutschen.
Rechts, links, rechts. Bernhard Buckl zieht
wiederdas Paddel durch dasWasser.Dann,
am Ufer, passiert es: Sein Kamerad rutscht
beim Aussteigen aus und fällt. Er verletzt
sich schwer an der linken Schulter, ausge-
rechnet hier, wo weit und breit keine Men-
schen unterwegs sind. Die Gruppe holt ein
Schiff heran, das den Patienten zur nächs-
ten Straße und dann ins Krankenhaus
bringt. Dank schmerzstillender Mittel ist
er transportfähig für die Heimreise.
2500 Kilometer Kajakfahren. Eine Stre-
cke voller Erlebnisse, die nicht jeder auf
sich nehmen würde. Doch Bernhard Buckl,
71 Jahre alt, hat sich so einen Jugendtraum
erfüllt. In zwei Etappen paddelte er auf der
Donau von Ingolstadt bis ans schwarze
Meer.2015 legte er den ersten Teil der Stre-
cke zurück – 1000 Kilometer bis nach Mo-
hács in Ungarn. Jetzt, drei Jahre später, ru-
derte er 1500 Kilometer von Mohács bis
nach Sfântu Gheorghe, Rumänien.
Aufgewachsen in München, begann
Buckl bereits in seiner Jugend mit dem Ka-
jakfahren. Damals unternahm er noch
Wildwassertouren in eher kleinen Booten
undohneGepäck.Heutewidmetersichlie-
ber etwas geruhsameren Wanderfahrten.
Größere Boote, Platz für Gepäck, Fahrten
auf ruhigen Gewässern. Wandern mit dem
Kanu eben.
Als leitender Angestellter in einer Groß-
bank hatte er sein Leben lang mit Arbeit
und Familie viel zu tun. Vor acht Jahren ist
er in den Ruhestand gegangen und nutzt
seine Freizeit nun für sportliche Aktivitä-
ten. Im Ruhestand hatte er nun auch Zeit,
sich seinen Jugendtraum zu erfüllen. Mit
derOrganisation„TourInternationalDanu-
bien“ (TID) legte er die gesamte Strecke zu-
rück. Die Organisation hat es sich zur Auf-
gabe gemacht, verschiedenen Kulturen die
Möglichkeit zu geben, sich kennenzuler-
nen und Freundschaften zu schließen, und
somit Frieden zwischen den Völkern zu
schaffen. Sie war die einzige sportliche In-
stitution, die bis zur Wende 1989 jedes Jahr
Ost- und Westdeutsche zusammenbrach-
te, um gemeinsam ans schwarze Meer zu
paddeln.
Wer mit dem Kajak Tausende Kilometer
über die Donau mit ihren zehn Anrainer-
staatenfährt,lerntvieleMenschenausver-
schiedensten Ländern kennen. Mit dabei
waren diesmal australische Olympiateil-
nehmer – zwei ältere Damen – Engländer,
Holländer, Norweger und Schweizer. 40 bis
60 Kilometer am Tag legten die Sportler –
die meisten in Buckls Alter – zurück, und
das sechs Wochen lang. „Es gab nur einen
Ruhetag in der Woche. Der war meistens in
einer Großstadt“, sagt Buckl. Um die 100
Frauen und Männer stellten sich der gro-
ßenAnstrengung, die Wind undWettermit
sich brachte. Oft genug mussten sie mor-
gens um vier Uhr aufstehen, frühstücken,
Sachen zusammenpacken und um sechs
Uhr ab aufs Kanu, um die vergleichsweise
kühleren Temperaturen zu nutzen, die
selbst in der Früh schon um die 25 Grad la-
gen. Wie hält man so was durch?
„Es war sehr anstrengend. Ich hatte
mehrmals Tiefpunkte, besonders bei lan-
gen Passagen mit 50 bis 60 Kilometern am
Tag. Ich war froh, wenn ich abends das Ziel
erreicht hatte und mit dem schweren Boot
aus dem Wasser rausgekommen bin. Nach
dem Essen und Trinken ging es besser.“
UmsichaufdieFahrtvorzubereiten,hat-
te Buckl größere Wandertouren mit seiner
Frau unternommen, bei denen sie um die
120Kilometerzurücklegten.SeineFrauhat-
te ihn zwar bei den Vorbereitungen unter-
stützt, ihr selbst war die Herausforderung
aber zu groß gewesen. Doch Buckl war das
große Erlebnis, das Zusammenkommen
mit den Menschen aus aller Welt, die An-
strengung wert. Die meisten hatten das
Ziel,bisansSchwarzeMeerzukommen,an-
dere wollten nur eine Teilstrecke schaffen.
Buckl hat die Menschen in den Balkan-
ländern während seiner Bootstour als soli-
darischerlebt.Dorfbewohnerhabenfürdie
Gruppe gekocht und Volkstänze vorge-
führt. Ihre Lebensfreude hat Buckl beein-
druckt – trotz der schlechten Hygiene: Die
Toiletten hatten keine Klospülung, auch
richtige Duschen hat es oft nicht gegeben.
„Die Menschen haben eine gewisse Zufrie-
denheit, sind oft ruhiger und nehmen die
Dinge nicht so ernst. Ich versuche, das bei-
zubehalten.“ katharin a güntter
Bahnwärter Thiel
„Die Menschen haben eine
gewisse Zufriedenheit und
nehmen die Dinge nicht so ernst.“
Im Kajak bis zum Schwarzen Meer
Bernhard Buckl, 71, hat sich einen Jugendtraum erfüllt und ist mit dem Boot von Ingolstadt aus über die Donau bis nach Sfântu Gheorghe in Rumänien gepaddelt
„Es war sehr anstrengend. Ich hatte mehr-
malsTiefpunkte,besonders bei den lan-
gen Passagen.“ FOTO: PRIVAT
Im Ruhestand nutzt er
nun seine Freizeit für
sportliche Aktivitäten
R4 PST (^) LEUTE Dienstag, 15.Oktober 2019, Nr. 238 DEFGH