P
olen wird oft als Vorbild des Über-
gangs zur Marktwirtschaft geprie-
sen. Hier nahm der Untergang des
Kommunismus in Zentraleuropa
1989 seinen Ausgang, und Polen hat
seine Führungsposition stets beibehalten. Fort-
schritte und Erfolge sind unbestritten. Aber zu
Selbstzufriedenheit gibt es weder Anlass noch
Zeit. Nach der Wahl von Sonntag steht die Regie-
rung vor dringenden Herausforderungen.
Das anhaltende Wirtschaftswachstum hat Po-
len seinem dynamischen Privatsektor und dem
engmaschigen Netzwerk von Kleinbetrieben zu
verdanken. Wo vor 30 Jahren staatliche Indus-
triemonster ein wirtschaftliches Brachland ge-
schaffen hatten, gibt es heute mehr als 1,5 Millio-
nen registrierte Betriebe. Im Gegensatz zu ande-
ren Wendeländern hat Polen eine einseitige
Abhängigkeit von nur einer Branche, etwa der
Autoindustrie, vermieden.
Diese Fragmentierung weist aber auch auf eine
Schwäche der polnischen Wirtschaft hin: Die
meisten Firmen arbeiten auf niedrigem technolo-
gischem Niveau. Rund 95 Prozent der Privatbe-
triebe haben weniger als neun Beschäftigte. Ihre
Fähigkeiten zu Innovation, Zugang zu Risikokapi-
tal und Wachstum sind naturgemäß einge-
schränkt. Der Zuwachs an Produktivität hat sich
in den letzten Jahren deutlich verlangsamt.
Hier muss Polen Schritte unternehmen, seine
Wirtschaft auf die nächste Entwicklungsstufe zu
heben: Die Integration in weltweite Liefer- und
Handelsströme ist gelungen. Nun muss sich das
Land bei Produktivität, Innovation und hochwer-
tigen Gütern vorarbeiten. Die Forschungs- und
Entwicklungsausgaben betragen nur 50 Prozent
des EU-Durchschnitts, bei Innovation und wis-
sensintensiven Aktivitäten liegt die Wirtschaft auf
Platz 23 von 28 EU-Staaten, und das Geschäftskli-
ma bleibt durch staatliche Großbetriebe ohne
Aussicht auf Privatisierung verzerrt.
Damit Innovation erfolgreich sein kann, müs-
sen mehrere Bedingungen erfüllt werden: Klare
und unterstützende Bestimmungen sind ebenso
wichtig wie ein lokaler Kapitalmarkt mit ausrei-
chender Liquidität und Risikobereitschaft. EBRD-
Untersuchungen zeigen, dass die Abstimmung
zwischen Staat und Privatwirtschaft weit hinter
Vorbildern wie Finnland oder Israel zurückbleibt.
Polen ist ein erfolgreicher Exporteur gewor-
den. Lange aber war vielleicht die erfolgreichste
Ausfuhr die Bereitstellung von Humankapital in
Form von Arbeitskräften. Während polnische Ar-
beitskräfte die Wirtschaft in anderen Ländern an-
kurbelten, flossen Milliarden an Überweisungen
zurück nach Polen, das aus einem Land mit zwei-
stelliger Arbeitslosenrate zu einem Land mit Ar-
beitskräftemangel wurde. Nach Berechnungen
der EU-Kommission wird die polnische Bevölke-
rung in den kommenden 50 Jahren um 19 Pro-
zent schrumpfen. Parallel dazu wird der Anteil
der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung
um mehr als 15 Prozent zurückgehen. Das bedeu-
tet massiven Druck auf den Arbeitsmarkt und das
Pensionssystem.
Polen ist darauf nicht vorbereitet. Der Arbeits-
markt ist weiter straff segmentiert zwischen Voll-
und Teilzeitbeschäftigten. Die Erwerbsquote un-
ter Frauen, Jungen und Älteren ist unterdurch-
schnittlich. Die Herabsetzung des Rentenalters
mag populär sein. Sie zeigt aber, dass sich die Po-
litik der Tragweite der Herausforderung erst be-
wusst werden muss. Was das Land braucht, ist
eine Strategie, die Sozial- und Pensionszahlun-
gen mit fiskalischer Disziplin verbindet, um die
starke budgetäre Position des Landes zu sichern.
Nur so kann auch der Spielraum geschaffen
werden, um sich der dritten Herausforderung zu
stellen: 80 Prozent der Elektrizität, die das Land
verbraucht, stammt aus Kohlekraftwerken. Polen
ist eine der zehn größten Kohleabbaunationen
der Welt. Die Verringerung der CO 2 -Emissionen
ist nicht nur eine Frage der Einhaltung interna-
tionaler Verpflichtungen wie etwa der EU-Klima-
schutzziele. Sie ist – zunehmend – auch eine Fra-
ge der Volksgesundheit: Polen gehört zu den
Ländern mit der höchsten Luftverschmutzung in
Europa, und nach Berechnungen der European
Environment Agency gehen statistisch 1 500 Le-
bensjahre unter 100 000 Bewohner durch tödli-
che Atemwegserkrankungen verloren.
Polen muss das Problem umfassend und umge-
hend angehen. Riesige Investitionen in Energieef-
fizienz ebenso wie in erneuerbare Energieträger
sind unverzichtbar. Nie waren die Chancen bes-
ser: Grüne Energie ist heute wettbewerbsfähig,
dank der EU-Energiedirektive 2018 bestehen kla-
re Rahmenbedingungen, und mit Wind und Son-
ne hat Polen zwei starke Energieträger. Die Wah-
len in Polen haben klare Verhältnisse geschaffen.
Das bedeutet auch klare Verantwortlichkeiten.
Sieger sind
in der Pflicht
Polen steht vor großen wirtschaftlichen
Herausforderungen, analysiert Beata Javorcik.
Die Autorin ist Chefvolkswirtin der
Europäischen Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung (EBRD).
EBRD [M]
Riesige
Investitionen
in Energie-
effizienz
ebenso wie in
erneuerbare
Energie-
träger sind
unverzicht-
bar.
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Gastkommentar
DIENSTAG, 15. OKTOBER 2019, NR. 198
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