Herr Mandoki, Sie sind 1975 im Alter
von 22 Jahren mit zwei Freunden aus
Ungarn geflüchtet. Warum?
Ich konnte die stalinistische Diktatur
nicht mehr ertragen, der massive Leidens-
druck zwang mich zur Flucht. Ich sehnte
mich nach Freiheit, obwohl ich gar nicht
wusste, was das ist.
Wie kam es dazu?
Mein Vater war Musiker, er starb, als ich
16 Jahre alt war. Er hat mir immer gesagt:
»Diese Diktatur, das ist nichts für dich,
geh und lebe deine Träume, träume nicht
dein Leben.« Das war der Schlüsselsatz für
mich. Eines Tages sah ich einen ungari-
schen Film. Es ging um den gescheiterten
Fluchtversuch eines Kfz-Mechanikers, der
im Gefängnis saß. Er lag auf dem Rücken
und blickte zu einer wunderschönen Stu-
dentin der Partei hinauf. Sie fragte ihn:
»Genosse, warum wollten Sie das Paradies
des Arbeiter-und-Bauern-Staats verlassen
und zu den Imperialisten wechseln?« Er
fragte zurück: »Frau Genossin, wie groß
sind Sie?« Sie antwortete, dass ihn das
nichts angehe. Nach einigem Hin und Her
meinte sie: »1,70 Meter.« Da sagte er: »Na,
Frau Genossin, denken Sie mal darüber
nach, wie es sich anfühlt, wenn man mit
1,70 in einem Raum leben muss, der nur
1,60 hoch ist.« Als ich diese Schlüsselszene
im Kino sah, wurde es mir plötzlich klar,
ich muss weg.
Haben Sie mit jemandem darüber ge-
sprochen, dass Sie fliehen wollen?
Ich konnte damals mit niemandem über
meine Pläne sprechen, auch nicht mit
meiner Rockband Jam. Ich erschien eines
Tages einfach nicht zu einem Auftritt. Es
war die einzige Möglichkeit, sicherzustel-
len, dass niemand meine Kumpel oder
meine Mutter foltern wird. Selbst meine
Mutter wäre verpflichtet gewesen, mich
anzuzeigen. Auf Mitwisserschaft stan-
den fünf Jahre Freiheitsstrafe. Ich hatte
auch später meiner Mutter gegenüber
ein schlechtes Gewissen. Als ich schon in
Deutschland war, kam alle zwei Tage ein
Brief von ihr: Komm wieder heim, es sind
ja nur drei Jahre Gefängnis. Das war sehr
schwierig für mich.
Vor Ihrer Flucht waren Sie sogar mehr-
mals verhaftet worden.
17-mal, das erste Mal mit 19. Unsere
Band bestand aus fünf Musikern, zu unse-
ren Konzerten kamen bis zu 5000 Leute.
Für die Konzertplakate verwendeten wir
Eternitplatten, aus dem Filzmantel von
meinem Großvater haben wir Buchstaben
rausgeschnitten und aufgeklebt und das
alles dann an den Unis aufgehängt. Wir
waren die Rockstimme der Opposition,
und es war berechtigt, dass die Behörden
vor uns Angst hatten. Eines Tages haben
sie mich von der Bühne geholt und ganz
gemütlich abgeführt. Als ich im Auto saß,
dachte ich, wie dämlich sind die Behörden
denn, dass sie diese Wende nicht zulassen?
Die Studenten wollen doch nur ein biss-
chen mehr Freiheit, dass die Zensur gelo-
ckert wird. Im Gefängnis sagte mir einer,
pass mal auf, die Grenzen können ausgetes-
tet, aber nicht überschritten werden. Das
war der berühmte Gulaschkommunismus.
Wie viel stand für Sie damals auf dem
Spiel?
Sehr viel, ich stand vor meiner Ein berufung
in die Armee. Die wollten mich in eine
Einheit zur Umerziehung für Renitente
stecken, so wurden rebellische Künstler
und Freidenker zur Raison gebracht. Man
musste zum Beispiel stundenlang bei 40
Grad in der Hitze liegen, die Leute sind
reihenweise durchgedreht. Ich wusste, ich
muss definitiv weg.
Wie haben Sie es schließlich nach
Deutschland geschafft?
Wir hatten als Musiker Dienstpässe, da-
mit kamen wir nach Jugoslawien. Von
Slowenien aus liefen wir nachts durch den
Karawankentunnel für die Eisenbahn nach
Österreich, der ist acht Kilometer lang
und war damals bewacht. In der Mitte war
die Grenze. Fast die ganze Strecke war es
stockdunkel, immer wieder kamen Züge.
Als wir am anderen Ende rausstolperten,
haben wir ein Transformatorenhäuschen
umarmt, so glücklich waren wir.
Sie sind dann in München gelandet und
haben recht schnell in der Musikszene
Karriere gemacht. Kannten Sie die Mu-
sik überhaupt, die man damals im Wes-
ten hörte?
Ja, der Sound von Woodstock, der Geist
der Freiheit, hat mich sehr geprägt. Die
Schwester meiner Mutter ging 1956 wäh-
rend des studentischen Aufstands nach
Amerika. Als sie 1972 nach einer Locke-
rung für 56er-Flüchtlinge das erste Mal
wieder nach Ungarn kam, brachte sie mir
viele Vinylplatten mit. So hörte ich von
Woodstock. Und hätte mein Vater nicht
mit eiserner Härte durchgesetzt, dass ich
Musiker werde, weil er sagte, Talent ver-
pflichtet, du musst eines Tages die Familie
ernähren, dann wäre ich vielleicht Dichter
oder Maler geworden. Durch die Musik
habe ich eine Sprache, die überall ver-
standen wird. Ich habe dann alles, was
ich erlebte, die Flucht, das Heimweh,
das neue Leben, auch in Deutschland in
Lieder packen können. Die Musik war
meine Rettung. Foto
Stefan Nimmesgern
Als der Musiker es im kommunistischen Ungarn nicht mehr aushielt, wagte er die Flucht
Das war meine Rettung LESLIE MANDOKI
Leslie Mandoki, 6 6, wurde als
Mitglied der Band Dschinghis Khan
bekannt und arbeitet als Komponist
und Produzent. Gerade erschien
das Doppelalbum »Living in the Gap«
und »Hungarian Pictures« der
Mandoki Soulmates, mit dem Mandoki
im November auch auf Tour geht
Das Gespräch führte Louis Lewitan
Im nächsten Heft: Im Wochenmarkt gibt es Birnen-Crumble mit Schokolade. Und die Deutschlandkarte weiß,
woher die deutschstämmigen Sportler kommen, die in den amerikanischen Sportligen NBA, NFL und NHL spielen
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