Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

E


r fährt durch das Land, das er
liebt, sein Heimatland, er fährt
durch sterbendes Land. Keinen
Menschen sieht er weit und breit,
nur Olivenbäume, kahl und selt­
sam stumpf. Dabei ist es Mitte
September. Bald wäre Erntezeit.
Er dirigiert den Wagen Feldwege entlang, die
Wege sind schmal und namenlos. Ein Fremder
würde sich hier sofort verirren.
Er kenne diese Wege, seitdem er ein kleiner
Junge war, sagt Salvatore Sergi. Er kommt aus ei­
ner Familie von Olivenbauern. Sein Großvater war
einer, sein Vater, auch ihm sei nie etwas anderes in
den Sinn gekommen. Er ist jetzt 57, und seine
Heimat hat er nie verlassen, Salve, 4649 Einwoh­
ner, ein Dorf im Salento, Apulien, südlichster Teil
des Stiefelabsatzes. Die Arbeit auf den Feldern,
sagt er, sei bis heute das größte Glück für ihn.
Das Auto hält an einem leichten Hang. Salvatore
Sergi klettert heraus, steigt über Gestrüpp, hinauf auf
das Feld, das schon seine Groß eltern bewirtschafteten.
Zwischen Gemüsebeeten – Auberginen, Gurken,
Tomaten, Kürbissen, Fenchel, Wassermelonen – ragen
die Olivenbäume aus dem Boden.
Wortlos geht er zu einem von ihnen. Der Stamm
ist zerfurcht wie faltige Haut. Der Baum ist verletzt.
Seine Äste, die einst thronend in den Himmel ragten,
wurden amputiert. Nur Stümpfe sind übrig. An den
verbliebenen schwächeren Ästen hängen dünne
Zweige, eigentlich müssten sie um diese Jahreszeit
grüne Blätter tragen, Früchte, doch sie sind fast kahl.
»Diese Bäume sind Hunderte Jahre alt«, sagt
Sergi. »Sie leiden, aber sie kämpfen noch. Sie weh­
ren sich gegen den Tod.«
Er ist ein sehniger Mann mit weißem Haar­
kranz und blauen Augen. Seine Hände sind knor­
rig, die Haut der Arme ist gegerbt von der Sonne
und dem Salz des Meeres. Um den Bauch trägt er
ein Täschchen mit einem verwitterten Klapp handy
darin. Am Horizont geht langsam die Sonne unter.
Sergi stapft weiter, zum nächsten Baum, ein paar
Meter entfernt. An ihm, sagt er, habe er die ersten
Anzeichen gesehen. Es sei an einem Morgen im
Oktober 2016 gewesen, zu der Zeit, in der die
Oliven in ein dunkles Violett übergehen. Schüttelt
man in dieser Phase an den Zweigen, fallen die
reifen Früchte normalerweise zu Boden. »An diesem
Tag fielen die Oliven nicht«, sagt Sergi. »Sie hingen
wie verkrampft an ihren Stielen, als würden sie sich
an ihnen festklammern.« Das, so wusste er, machen
sie nur, wenn der Baum gestresst ist, weil ihm Was­
ser fehlt.
Sergi hatte damals bereits von einer mysteriösen
Krankheit gehört, die seit einigen Jahren im Süden


Apuliens wütete und die Olivenbäume bedrohte. Ein
Bakterium solle dafür verantwortlich sein. Er habe es
zunächst nicht glauben wollen, sagt Sergi. Die Bäume
hatten doch immer alles überlebt, Pilze, Parasiten,
Trockenheit, Blitzeinschläge. Jedes Mal hatten sie sich
wieder aufgerafft. Nun sollte es ein Bakterium schaf­
fen, sie zu zerstören?
Der Lauf des Lebens in dieser Gegend ist ge­
prägt von den Bäumen. Sie sind viel mehr als nur
Pflanzen, sie sind Symbol und Tra di tion und gan­
zer Stolz. Sie strahlen im Wappen der Region, sie
zieren Flaggen. Olivenbäume haben den Men­
schen über Jahrhunderte hinweg Nahrung ge­
geben und ein Einkommen. Kaum eine Familie
lebt hier ohne eigenen Hain. Die Bäume werden
vererbt von Ge ne ra tion zu Ge ne ra tion.

Das Bakterium ist dabei, den Menschen dieses
Leben zu nehmen. Mehr als 60 Millionen Oliven­
bäume stehen in Apulien, 21 Millionen von ihnen,
so schätzt der Bauernverband, wurden vom Bak te­
rium angegriffen. Klimaschützer fürchten eine
ökologische Katastrophe, Politiker eine wirtschaft­
liche und die Menschen hier das Ende der Welt,
wie sie sie kannten.
Salvatore Sergi zeigt auf einen Verschlag aus
Stein, der auf einer Anhöhe steht. »Wenn es wäh­
rend der Olivenernte zu regnen begann, suchte
meine Mutter, als sie mit mir schwanger war, dort
Unterschlupf«, sagt er. »Ich kannte die Bäume
schon, da war ich noch gar nicht geboren.«
Erzählt er von seinem Leben, erzählt er von
Olivenbäumen. Er erinnert sich, wie seine Mutter,

wenn er als kleiner Junge Kopfschmerzen hatte,
Olivenöl auf ihre Hände rieb, die Hände am Feuer
wärmte und sie ihm sanft auf die Stirn legte. Die
Kopfschmerzen seien dann immer verschwunden.
Schon als Kind habe er den Sommer nicht gemocht,
weil er im Sommer mit der Familie an den Strand
musste und nicht auf die Felder durfte. War der
Sommer vorbei, weckte ihn sein Vater noch vor der
Schule jeden Morgen um vier Uhr, und sie gingen
gemeinsam in der Dämmerung hinaus zu den Oli­
venbäumen. Manchmal, sagt er, habe der Vater ihn
ausschlafen lassen. Als er dann aufgewacht sei und
gemerkt habe, dass der Vater ohne ihn losgezogen
war, habe er sich furchtbar geärgert.
Acht Jahre alt war er da. Damals hatten sie keinen
Traktor, kein Auto, nur ein Pferd, einen Schimmel
namens Ninetto, der den Pflug zog und die Erde
lockerte. Ninetto trottete dem jungen Salvatore
ständig hinterher. Ninetto und er, sie seien Freunde
gewesen, sagt Sergi. Nach der achten Klasse verließ
er die Schule und wurde Bauer.
Seit 50 Jahren lebt er mit den Bäumen, er pflegt
sie, fühlt sich ihnen nahe. Seine Frau, sagt er, sei
nie eifersüchtig auf andere Frauen gewesen, nur
auf die Olivenbäume, weil er so viel Zeit mit ih­
nen verbringe.
Seine Tage beginnt er noch immer früh, zwi­
schen vier und fünf Uhr steht er auf und fährt hi­
naus auf die Felder. Manchmal, sagt er, sei er so
beschäftigt mit der Arbeit, dass er alles um sich
herum vergesse.
Olivenbäume gehören, neben Weinstöcken und
Feigen, zu den ältesten Kulturpflanzen. So wertvoll
erschienen sie den Menschen schon vor Jahrtausen­
den, dass sie Erwähnung in Legenden fanden. Die
Ägypter gaben ihren Verstorbenen Oliven mit auf
den Weg ins Totenreich, den jung gestorbenen Pha­
rao Tut anch amun fanden die Archäologen 1922 mit
Olivenblättern auf dem Kopf. Bei den Olympischen
Spielen der Antike überreichten die Griechen den
Siegern keine Goldmedaille, sondern einen Kranz
aus Olivenzweigen. Drei Weltreligionen nahmen den
Baum in ihre Riten auf. In der Genesis des Alten
Testaments kündigt eine Taube mit einem Oliven­
zweig im Schnabel Noah das Ende der Sintflut an,
sie wird bis heute als Friedenstaube verehrt. Bevor
Jesus ans Kreuz genagelt wurde, verbrachte er die
Nacht im Garten Gethsemane, »am Fuße des Öl­
bergs«. Im Islam ist der Olivenbaum der Welten­
baum, der den Himmel trägt.
Er, dieser uralte Begleiter der Menschen, ist ein
Überlebenskünstler. Er trotzt fast allen Widrigkei­
ten, entwickelte im Laufe der Zeit Schutzschilde
und Fertigkeiten, die einige Exemplare Tausende
Jahre alt werden ließen. Brennt, wie in Apulien

nicht selten, die Sonne für Wochen unerbittlich
auf das Land, schließt der Baum, um nicht zu ver­
dorren, die Atemporen seiner Blätter und verfällt
in eine Starre. So kann er überleben. Ähnliches ge­
schieht, wenn der Stamm erfroren ist oder abge­
holzt wurde: Die Wurzeln treiben aus, ein neuer
Stamm wächst heraus.
Gegen diesen einen Gegner aber ist der Oliven­
baum machtlos. Xylella fastidiosa, das Bak te rium,
das Salvatore Sergi und Tausenden anderen apuli­
schen Olivenbauern die Lebensgrundlage zu ent­
reißen droht, gelangt über ein Insekt in den Baum.
In Kolonnen besiedelt Xylella das Xylem und brei­
tet sich dort aus. Das Xylem ist so etwas wie die
Le bens ader des Baumes, das Leitungssystem, über
das er Wasser und Nährstoffe aus dem Boden zieht
und nach oben in Äste und Blätter befördert.
Xylella fängt das Wasser und die Nährstoffe ab, es
versperrt die Wege und hungert den Baum von
innen aus.
Die Europäische Kommission stuft Xylella
fastidiosa als eines der weltweit gefährlichsten
Pflanzenbakterien ein, es könne »enorme wirt­
schaft liche Auswirkungen auf die Landwirtschaft,

die öffentlichen Gärten und die Umwelt« haben.
In der Regel nisten sich solche schmarotzenden
Schädlinge in Pflanzen einer einzigen Gattung
oder gar Art ein. Xylella kann 563 Pflanzenarten
befallen, neben Oliven­ auch Mandelbäume,
Kirsch­ und Pfirsichbäume, Weinreben, Kaffee­
sträucher, Rosmarin, Oleander, Myrte, Lavendel.
Wo das Bakterium ungehindert um sich greifen
kann, hinterlässt es graue Trostlosigkeit, Land­
schaften sehen aus, als wäre ein Feuersturm über
sie hinweggezogen. Für den Menschen ist Xylella
ungefährlich.
Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben Forscher
erstmals die Krankheitssymptome, knapp hundert
Jahre später erst wurde Xylella fastidiosa entdeckt.
Das Bakterium hatte in der Zwischenzeit Weinberge
in Kalifornien vernichtet und Orangenplantagen in
Brasilien, es hatte Schäden in Millionenhöhe verur­
sacht, Pflanzen in den Tod und Bauern in den Ruin
getrieben. Gerade erst ist es Wissenschaftlern in den
USA nach mehr als 25 Jahren Arbeit gelungen, Reb­
sorten zu entwickeln, die resistent gegen das Bakte­
rium sind.
In Brasilien entschlüsselte im Jahr 2000 ein Team
aus mehr als 200 Forschern das Genom von Xylella.
Eine wissenschaftliche Sen sa tion. Der damalige Prä­
sident Brasiliens feierte das Team, ein Orchester
spielte ihm zu Ehren auf, ein neuer Wissenschaftspreis
wurde eigens für die Forscher kreiert – so froh war
man, dem Gegner auf der Spur zu sein. Bekämpfen
kann man ihn bis heute nicht. Nur eindämmen. Und
dafür muss man ihn aufspüren.
Silvio Merico und Piero Conte sind seit sechs
Jahren auf der Suche nach Xylella. An einem warmen,
windstillen Tag marschieren sie, ausgerüstet mit einer
Baumschere und einem Tab let com pu ter, durch einen
verlassenen Olivenhain bei Ostuni, einer Stadt zwei
Autostunden nördlich von Salve, dem Dorf, in dem
Salvatore Sergi wohnt. Sie gehen nah an den Bäumen
vorbei und inspizieren stichprobenhaft die Blätter.
Wären sie welk oder braun verfärbt, müssten sie
Proben nehmen. Es sind die Symptome von Xylella.
Diese Blätter aber schimmern grün. »Nicht befallen«,
sagt Merico und tippt den Befund in sein Tab let.
Merico und Conte untersuchen die Haine im Auf­
trag der italienischen Pflanzenschutzbehörde Arif. Sie
sollen Xylella Einhalt gebieten, dafür Sorge tragen,
dass sich das Bakterium nicht weiter ausbreitet. Das
befallene Gebiet ist nah. Nur ein paar Kilometer ent­
fernt von hier verläuft die Frontlinie.
Wann Xylella nach Apulien eingeschleppt wur­
de, ist unklar. Forscher vermuten, es sei vor gut
zehn Jahren geschehen, wahrscheinlich sei das
Bakterium über ein Containerschiff ins Land ge­
langt, an Bord infizierte Kaffeepflanzen aus Costa

APULIEN

ITALIEN

Mittelmeer ZEIT-GRAFIK
80 km

Salento

Neapel Bari

Salve

Rom

»Ich kannte die


Bäume schon, da war


ich noch gar nicht


geboren«


Salvatore Sergi, Olivenbauer

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16 DOSSIER 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44


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