Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

Rica. Das Bakterium hat vier Unterarten, und jene
aus Costa Rica ist identisch mit der, die derzeit in
Apulien grassiert.
Feinde hat Xylella keine. »Das Einzige, was
dem Bakterium etwas ausmacht, ist Kälte«, sagt
Merico. Xylella möge es warm. Den Klimawandel
begrüßt es also. Noch lässt sich nicht mit Sicher­
heit sagen, welche genauen Auswirkungen der
Temperaturanstieg auf das Bakterium haben wird.
Klar ist: Es wird immer wahrscheinlicher, dass sich
Xylella zukünftig auch in nördlichere Regionen
ausdehnen kann.
Die Europäische Behörde für Le bens mit tel­
sicher heit zeigte anhand von Computermodellen,
dass Xylella Pflanzen in ganz Europa angreifen
könnte. Auf Mallorca meldeten die Behörden be­
reits einen Befall von Mandelbäumen, es gab Fälle
auf Korsika und an der Côte d’Azur. Bei einer
Routinekontrolle 2016 fand man das Bakterium
auf einer Oleanderpflanze in einer Gärtnerei in
Sachsen. Die Behörden ergriffen zügig Maßnah­
men, vernichteten alle Oleanderpflanzen des Be­
triebs und verhinderten so, dass Xylella aus dem
Gewächshaus in die Wälder übergreifen konnte.
Merico und Conte klettern einen hüfthohen
Steinwall hinauf und betreten den nächsten Hain.
Sie teilen sich auf, jeder überprüft einen Teil des
weitläufigen Gebietes. Plötzlich bleibt Merico ste­
hen. »Piero!«, zischt er zu seinem Partner hinüber.
»Un pastore tedesco!« Conte blickt zu Merico, und
Merico deutet auf den Weg vor ihnen. Ein Deut­
scher Schäferhund rennt da vor einem Traktor her.
Er trägt kein Halsband.
Seit fünf Jahren sind Conte und Merico als
Zweierteam in Apulien unterwegs. Sie haben Wölfe
gesehen und wurden von Wildschweinen gejagt.
Sie mussten am eigenen Leib erfahren, wie aggres­
siv Gänse werden können, die ihren Nachwuchs
verteidigen. Erst gestern wurden sie von drei Rott­
weilern attackiert. Sie schafften es gerade noch auf
einen Mauervorsprung.
Der Schäferhund bemerkt sie nicht, er läuft an
ihnen vorbei. Sie lächeln erleichtert.
Hektar für Hektar müsse man vorgehen, sagt
Conte, man habe auch die Befugnis, Privat­
grundstücke zu betreten. Zwei ihrer Kollegen
stiegen einmal über eine Mauer und landeten im
Garten eines Anwesens, in dem eine Filmcrew
mitten in der Arbeit steckte. Zwei Nackte im
Pool, ein Mann und eine Frau. »Die drehten da
gerade einen Porno«, sagt Merico.
Es komme aber auch zu weniger amüsanten
Begegnungen. Die Pflanzenschutzbehörde kün­
digt die Kontrollen zwar bei den Gemeinden an,
die Gemeinden jedoch geben die In for ma tion
meist nicht weiter. »Das führt dazu, dass die
Grundstückseigentümer oft wütend reagieren,
wenn sie uns sehen«, sagt Conte. Sie würden be­
schimpft, verjagt. Einmal trafen sie in einem Oli­
venhain auf einen Mann – Conte glaubt, es war
ein Mafioso, den sie bei einem illegalen Bauvor­
haben ertappt hatten –, der sie unter wüsten Dro­
hungen minutenlang mit dem Auto über Feld­
wege scheuchte.
Merico sagt: »Eigentlich müsste uns ein Polizist
oder ein Soldat begleiten.« Dafür gibt es allerdings
keine Kapazitäten. Die einzige Verteidigung, die
ihnen bleibt, ist ihre Baumschere. Sie wissen, dass
die ihnen im Ernstfall nicht viel bringen wird ge­
gen drei Rottweiler oder einen Mafioso.
Im nächsten Hain treffen Conte und Merico
auf einen Olivenbauern. Sie grüßen und weisen
sich aus. Der Bauer verscheucht sie nicht, son­


dern hört ihnen aufmerksam zu. Die beiden er­
klären ihm, sie seien auf der Spur von Xylella.
Nicht weit entfernt hätten Kollegen einen infi­
zierten Baum entdeckt.
Was mit dem passiere, fragt der Mann.
Der Baum, sagt Conte, müsse gefällt werden,
so wie alle anderen Bäume im Umkreis von hun­
dert Metern. Das sei Vorgabe der EU. Der Bauer
schüttelt den Kopf und schimpft: »Hätten sich
diese Idioten damals nicht an die Bäume gekettet,
wäre das alles nicht passiert.«
Am 21. Oktober 2013 informierten italieni­
sche Behörden die Europäische Kom mis sion über
den ersten positiven Xylella­Befund in Europa.
Forscher hatten infizierte Olivenbäume in der
Nähe von Gallipoli gefunden, einer Touristen­
hochburg im Süden Apuliens. In Brüssel ahnte
man, welche Auswirkungen dieser Ausbruch ha­


ben könnte. Eilig verfasste man einen Beschluss:
»Damit gewährleistet wird, dass sich der spezifi­
zierte Organismus nicht auf das übrige Gebiet der
Union ausbreitet, müssen unverzüglich Maßnah­
men getroffen werden.« Kranke Bäume sollten
sofort gerodet, alle Wirtspflanzen in der Um­
gebung vernichtet werden. Das Bakterium müsse
schnellstmöglich ausgerottet werden. Doch Wider­
stand formierte sich. Umweltschützer riefen zum
Protest auf, Landwirte und Politiker, vor allem
von der populistischen Fünf­Sterne­Bewegung,
schlossen sich an. In Apulien wurde 2015 das Re­
gionalparlament gewählt, und einige Lokalpoliti­
ker witterten ihre Chance. Noch im vergangenen
Jahr verkündete Beppe Grillo, der Gründer der
Fünf Sterne, auf Twitter: »La Xylella è una gigan-
tesca bufala«, Xylella ist eine gigantische Falsch­
meldung.
Die Bäume, so forderten die Aktivisten, dürf­
ten in keinem Fall gefällt werden. Sie ketteten
sich an die gewaltigen Stämme, sie blockierten
Autobahnen, um die anrückenden Bagger zu
stoppen. Italien rief den Notstand aus. Die Re­
gionalregierung schickte den General der Forst­
polizei, die Befehle aus Brüssel umzusetzen. Es
kam zu Ausschreitungen.
Die Aktivisten glaubten nicht, dass ein Bak te­
rium Schuld am Tod der Bäume trage. Warum,
fragten sie, seien gerade jene Gebiete betroffen, in
denen der Tourismus boome? Sei die Erzählung
von einem unaufhaltsamen Bakterium nicht das
einfachste Mittel, ur alte und unter Schutz stehende
Bäume aus dem Boden zu reißen und an deren
Stelle Hotelanlagen zu bauen, Golfplätze, Shop­
pingmalls? Und brauche man nicht auch Platz für
die geplante Gas­ Pipe line? Und welche Rolle spiel­
ten eigentlich die Wissenschaftler in dem Ganzen?
Eine irre Verschwörungstheorie, die wie viele
andere fast lustig klingt, doch Franco Nigro sagt:
»Es war die schlimmste Zeit meines Lebens.«
Nigro schlendert über das Gelände des Wissen­
schaftlichen Institutes der Universität Bari. Hinter
dem Gebäude hat jemand eine Wand besprüht,
dort steht: »La Xylella è una Mafia«. Xylella ist eine
Mafia. Er geht in die entgegengesetzte Richtung,
über die Straße in ein Café. Studenten nicken ihm
zu. Nigro, ein freundlicher Mann mit Bart und
Brille, 57 Jahre alt, ist ihr Professor, Fachgebiet
Pflanzenpathologie, die Lehre der Pflanzenkrank­
heiten. Er ist einer der führenden Köpfe eines in­
ternationalen und von der EU finanzierten For­
schungsprojektes zu Xylella.
Nigro stammt aus einer Familie von Oliven­
bauern, das Öl war ihr Einkommen, er weiß,
welche Bedeutung die Bäume für die Menschen
dieses Landes haben. Dass sie ihn ihretwegen ins
Gefängnis bringen wollten, hätte er dennoch
nicht geglaubt.
»Am 6. Dezember 2015 klopfte es an meiner
Haustür. Ich öffnete, und zwei Carabinieri stan­
den vor mir. Sie überreichten mir einen Um­
schlag und verschwanden wieder«, erinnert sich
Nigro. Aus dem Umschlag zog er ein Schreiben,
er las. Es dauerte einen Moment, ehe er verstand.
Es war eine Anklageschrift. Die Aktivisten hatten
ihn und neun weitere Personen, teils Forscher wie
er, angezeigt, und die Staatsanwaltschaft leitete,
was er kaum wahrhaben wollte, Ermittlungen
gegen sie ein.
Die Forscher wurden beschuldigt, das Bak te­
rium während eines Labor­ Work shops im Jahr
2010 nahe Bari freigesetzt zu haben. Den Work­
shop hatte es tatsächlich gegeben, und tatsächlich
hatten die Forscher währenddessen mit Xylella ge­
arbeitet. Nigro war auch dabei gewesen. Doch der
Verdacht hätte sich augenblicklich ausräumen las­
sen. Die Unterart, die in Apulien Schaden anrich­
tete, war eine genetisch völlig andere als jene aus
dem Work shop.
Es nutzte nichts. Zu laut waren die Stimmen,
Nigro und die anderen steckten mit dem Agrar­
Riesen Monsanto unter einer Decke und hätten
Xylella absichtlich verbreitet, um Forschungsgelder
abzugreifen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte
und warf ihnen vor, eine Umweltkatastrophe
verursacht zu haben. Eine Gefängnisstrafe stand
im Raum.
Ein paar Tage später rückte die Polizei mit ei­
nem Durchsuchungsbefehl in Nigros Institut an
und konfiszierte Computerdateien und Un ter­
lagen. Auf den Feldern wurden Olivenbäume, die
von Xylella befallen waren, unter staatlichen
Schutz genommen. Eigentlich hätten sie unver­
züglich gerodet werden müssen, um eine Ausbrei­
tung zu verhindern. Doch die Staatsanwaltschaft
ordnete an, niemand dürfe die Bäume anrühren.
»Das Ganze war völlig absurd«, sagt Nigro. Er
wusste allerdings, wie ernst er die Sache nehmen
musste. Er kannte ja die italienische Justiz. Damals
hatte ein Gericht gerade erst sieben Seismologen
zu jeweils sechs Jahren Gefängnis verurteilt, weil
sie das verheerende Erdbeben von L’Aquila nicht
vorhergesehen hatten. Erdbeben, besonders in ei­
ner so gefährdeten Re gion wie L’Aquila, lassen sich
nicht vorhersagen. Erst in zweiter Instanz wurden
die Wissenschaftler freigesprochen.
Nigro bekam Fotos zugeschickt, auf denen
Plakate mit seinem Konterfei zu sehen waren, die
Plakate hatte man an Olivenbäume genagelt. Über
seinem Gesicht prangte eine Zielscheibe. Kaum
jemand wagte es, sich öffentlich auf die Seite der
Forscher und gegen die Aktivisten zu stellen. Selbst
sein Arbeitgeber, die Universität Bari, habe sich
weggeduckt, sagt Nigro bitter. Mehr noch: »Sie
leiteten wegen der Anklage ein Dis zi pli nar ver fah­
ren gegen mich ein.«
Im Mai dieses Jahres musste die Staatsanwalt­
schaft die Ermittlungen einstellen, die Vorwürfe
hatten sich allesamt als haltlos erwiesen. Der
Kampf habe dennoch an seinen Kräften gezehrt,
sagt Nigro. Viel schlimmer noch: Xylella habe in
dieser Zeit ungehindert um sich greifen können.
Im vergangenen Jahr verklagte die Europäische
Kom mis sion Italien aus diesem Grund vor dem

Europäischen Gerichtshof. Das Land sei seinen
Verpflichtungen bei der Verhinderung der Aus­
breitung des Bak te riums nicht nachgekommen.
Im September 2019 rügten die Richter Italien für
seinen schlechten Umgang mit der Krise.
Vor Xylella produzierten die apulischen Bau­
ern rund 40 Prozent des italienischen Olivenöls.
Die ausfallenden Ernten wirken sich auf die lan­
desweite Produktion aus, die ohnehin von Un­
sicher hei ten geprägt ist. Die zunehmenden Wet­
terextreme führten zuletzt in ganz Italien zu eben­
so extremen Schwankungen bei der Olivenernte.
Im vergangenen Jahr stieg etwa die Pro duk tion in
der Toskana und in Umbrien um 31 und 40 Pro­

zent. In den südlichen Regionen aber brach sie
um bis zu 81 Prozent ein. Die vergangene Ernte­
saison, so verkündete das Marktforschungsinstitut
Ismea, sei landesweit die schlechteste seit 1990
gewesen. Das Öl wird knapp, die Preise sind ge­
stiegen, in Deutschland zwischen 2010 und 2018
um 46 Prozent.
Für Apulien, da sind sich alle sicher, wird
Xylella gravierende Folgen haben. Die Re gion
war bis in die Neunzigerjahre ein Armenhaus des
Landes, die Arbeitslosenquote ist noch immer
hoch, und nun stehen Zehntausende Bauern vor
dem Bankrott. Der italienische Bauernverband
Coldiretti beziffert den finanziellen Schaden auf
1,2 Mil liar den Euro. Und diese Summe könnte
weiter in die Höhe schießen, denn Xylella be­
droht noch einen anderen, wirtschaftlich weit
be deut same ren Sektor.
Am Ortseingang rankt aus der Mitte des Kreis­
verkehrs ein Olivenbaum heraus, an der Piazza
weht ein Banner, »Willkommen in der Stadt der
Oliven«. Caprarica di Lecce, ein Nest im Salento,
lockt seine Besucher mit ur alten Bäumen und bes­
tem Öl. Von dem Versprechen, Natur und Tra di­
tion zu bieten, konnten die Einwohner lange Zeit
bestens leben. Es wirkte so anziehend auf Touris­
ten aus aller Welt, dass der Olivenöl­Produzent
Pantaleo Piccinno wenige Jahre vor der Ankunft
von Xylella viel Geld in die Hand nahm und ne­
ben seine Haine zunächst ein Restaurant und
dann, weil die Leute nicht genug bekommen
konnten, noch ein exklusives Landhotel bauen
ließ. Mittlerweile muss er sich fragen, ob das wirk­
lich so eine gute Idee war.
Piccinno geht durch den Innengarten seines
Hotels, die Hochsaison ist vorüber, die Hitze noch
da. Am Pool lässt sich eine Dame vom Kellner ei­
nen Aperol servieren, ein Mann zieht im Wasser
seine Bahnen. Weiter vorn, auf einer Wiese, döst
eine Frau in Bikini und mit Buch in der Hand, sie
liegt auf einem Liegestuhl unter einem Oliven­
baum. Der Baum sieht ungesund aus, seine Äste
sind beschnitten. »Er war mal so groß, dass sechs
Gäste bequem darunter Schatten finden konnten,
ohne sich in die Quere zu kommen«, sagt Piccin­
no. »Jetzt reicht es noch für einen Liegestuhl.« Der
Baum ist von Xylella infiziert, genau wie alle
anderen Bäume, die um den Poolbereich herum­
stehen. Piccinno schaut ernst über sein angeschla­
genes Reich: Wer wird schon Lust haben, in
Zukunft zwischen diesen krepierenden Baum­
stümpfen Urlaub zu machen?
Vier Millionen Touristen strömten vergangenes
Jahr nach Apulien, sie kamen wegen der weißen
Strände, wegen des mediterranen Essens, wegen
der barocken Kirchen. Ein Großteil von ihnen
reiste aber auch in die Re gion, um Olivenbäume
zu bestaunen, die es so nirgendwo sonst gibt. Wie
Gestalten aus vergangenen Zeiten prägen sie die
Landschaft, erhabene Erscheinungen, die Kriegs­
heere und Kreuzritter an sich vorüberziehen sahen.
»Früher habe ich unsere Besucher in die
Haine gefahren, in denen Bäume stehen, die
über tausend Jahre alt sind«, sagt Piccinno. »Da­
nach hätte ich diesen Leuten alles verkaufen kön­
nen. So verzaubert waren sie.« Viele Oliven­
bauern haben es vor der Seuche gemacht wie er,
sie haben investiert, Gästezimmer hergerichtet,
Pensionen aufgebaut. Jetzt fürchten sie, dass die
Betten leer bleiben.
Allein im Salento, dort, wo Pantaleo Piccinno und
Salvatore Sergi wohnen, stehen mehr als zehn Mil­
lionen Olivenbäume, sie bedecken die Hälfte der
Fläche dieses Landstrichs. Nahezu alle von ihnen hat
das Bakterium befallen. Der Salento, sein Panorama,
es wird sich grundlegend verändern. Es wird nach
Xylella nicht mehr sein, was es bislang war.

Entlang der Autobahnen: ein Heer aus Bäu­
men, unzählige graue Skelette auf trockener Erde,
es sieht aus wie die Apokalypse. Die meisten Felder
liegen verlassen da. Die Besitzer haben aufgegeben
und überlassen sie ihrem Schicksal. Dazwischen
wuchern die Feldwege zu. In der Ferne steigen
Rauchwolken auf, verzweifelte Bauern verbrennen
jetzt ihre Bäume, weil es zu aufwendig wäre, sie
professionell fällen zu lassen.
Bei Fahrten über die Felder begegnet man Bau­
ern wie Mario Marrocco, 73, der am Rande seines
Olivenhaines steht. Er habe ihn von seiner ver­
storbenen Mutter geerbt, sagt er, schon als Junge
habe er hier gespielt. Obwohl es hoffnungslos sei,
könne er nicht anders, als weiterhin hierherzu­
kommen, jeden Tag. Er wolle, solange er noch
lebe, wenigstens den Boden, den ihm seine Mutter
vermachte, in Ordnung halten.
Man begegnet Marta Cesi, 44, die sich, anders als
viele andere aus der jüngeren Ge ne ra tion, entschied,
im Salento zu bleiben, um die Felder ihrer Groß eltern
weiter zu bewirtschaften. Im vergangenen Jahr, sagt
sie, habe sie 10.000 Euro Verlust gemacht. Einnah­
men habe sie keine mehr, nur noch Ausgaben. »Keine
Ahnung, wie lange ich noch durchhalte.«
Man begegnet Pasquale Lombardo, 73, der
unter der Vormittagssonne auf einem Beet grüner
Bohnen steht, es ist umgeben von kranken Bäu­
men. Früher, sagt er, habe er seine Rente von 900
Euro mit dem Verkauf von Oliven aufgebessert.
Das sei vorbei. Er probiere es jetzt mit den Boh­
nen. Auch das scheint aussichtslos. »Gestern habe
ich den ganzen Tag lang geerntet. 20 Kilo hatte ich
am Ende.« Danach sei er im Supermarkt gewesen,
um einzukaufen, und dort zufälligerweise an den
Bohnen vorbeigekommen. »Die kosteten 99 Cent
das Kilo.« Er versuche nun, seine auf dem Markt
für 1,50 Euro loszuwerden.
Man begegnet Vito, 70, der Nachname sei un­
wichtig, sagt er, der mit seinen 70 Jahren nie über
das wenige Kilometer entfernte Lecce hinaus ­
gekommen ist, der kein anderes Land, nicht ein­
mal die Hauptstadt Rom gesehen hat. Nach einem
Arbeitsleben auf dem Bau habe er sich gefreut,
endlich Zeit für seine Bäume zu haben, erzählt er.
»Und dann, als es so weit war, starben sie.«
Und man begegnet, in Salve, Salvatore Sergi. Be­
vor Xylella kam, sagt er, habe er jedes Jahr 8000 Kilo
Oliven geerntet. So sei er jedes Mal auf rund 20.
Euro gekommen. Es reichte für ein gutes einfaches
Leben. Er konnte seine beiden Kinder auf Univer­
sitäten im Norden schicken. Die Tochter studiert
Neurowissenschaften, der Sohn Sport. »Heute«, sagt
Sergi, »komme ich noch auf hundert Kilo.«

Seine Kinder haben im Sommer ihr Gold verkauft,
das sie, wie es im Salento Tra di tion ist, zu besonderen
Anlässen geschenkt bekommen hatten. Sie wollten
die Familie unterstützen. Er selbst musste einen
Traktor und ein Stück Land verkaufen. Zwei Felder
sind ihm geblieben. Das eine gehörte einmal seinen
Eltern, das andere den verstorbenen Schwiegereltern.
Jeder der mehr als 300 Bäume ist infiziert.
In der Garage seines Hauses zieht er Zertifikate
aus einer Schublade, vor Jahren hat er sie erhalten
für die hervorragende Qualität seines Olivenöls. Er
wirft sie auf den Boden, wütend und wetternd.
Nichts habe ihm der ganze Mist gebracht. Alles
umsonst. Im nächsten Moment wird er wieder
still, senkt den Kopf und klagt sich selbst an. Er
allein sei doch schuld an allem Unglück, ruft er.
Jahrzehntelang hätten er und all die anderen Bau­
ern den Boden und die Bäume mit Pestiziden be­
handelt. Zu immer neuen Höchstleistungen habe
man die Pflanzen treiben wollen. Das erst habe sie
anfällig gemacht für Xylella. Wissenschaftler wie
Franco Nigro halten das für ziemlich ausgeschlos­
sen. Sergi überhört jeden Einwand. Er hat das
Gefühl, versagt zu haben.
Würden wenigstens 30 Prozent des Bestandes
überleben, sagt er, dann wäre er zufrieden. 2000
Kilo Oliven, das reiche ihm, um durchzukommen.
»Hauptsache, sie gehen nicht alle.«
Eine Hoffnung bleibt den Bauern, ein Schim­
mer, er erwächst ganz in der Nähe von Salvatore
Sergi. Fünfzehn Autominuten von Sergis Garage
entfernt beugt sich Giovanni Melcarne in einer
großen Halle über ein Moskitonetz. Darunter ge­
deiht ein dünnes Olivenbäumchen. »Eine neue
Sorte«, sagt er.
Mehr als tausend Olivenbaum­Sorten gibt es
allein im Mittelmeerraum. Melcarne, Olivenbauer

und Agronom, hat in den letzten Jahren wilde
Sorten gesammelt, ihre Früchte pressen und sie im
Labor untersuchen lassen. Zehn von ihnen wach­
sen derzeit unter Moskitonetzen in seiner Halle.
Melcarne arbeitet eng mit den Forschern in
Bari zusammen. Während die im Labor nach Mit­
teln gegen Xylella suchen, ist er ihr Mann in den
Feldern. Seine Familie betrieb schon vor Jahrhun­
derten Ölmühlen, er selbst gehört zu den größten
Olivenöl­Produzenten in der Umgebung. Aber da
es nicht mehr viel zu produzieren gibt – sein Er­
trag ist um 85 Prozent gesunken –, experimentiert
er nun mit neuen Sorten. Die Forscher halten sei­
nen Ansatz für den hoffnungsvollsten.
Aus einer Kühlbox holt Melcarne verschlossene
Plastikröhrchen heraus. In den Röhrchen fliegen
Insekten umher. Sie sind schmal und braun und
fingernagellang. Wiesenschaumzikaden, die Über­
träger von Xylella. Ein Mitarbeiter hat an diesem
Vormittag 2000 von ihnen draußen gefangen. Die
Behörden versuchen bei ihrem Kampf gegen
Xylella, auch die Ausbreitung der Wiesen schaum­
zikade zu stoppen, indem sie Gräser schneiden
und Insektizide versprühen. Es ist mühevoll. Auf
einen Hektar, sagt der Mitarbeiter, kämen in der
Hochzeit eine Mil lion Zikaden.
Melcarne zieht das Moskitonetz an einem
Reißverschluss spaltbreit auf, öffnet ein Röhrchen
und hält es hinein. Die Wiesenschaumzikaden
fliegen ins Netz. Einige landen gleich auf den
Zweigen des Baumes. Stechen sie mit ihrem
Rüssel in die Pflanze, gelangt Xylella über ihren
Speichel ins Xylem. Melcarne will beobachten,
wie sich die neuen Sorten mit der In fek tion ent­
wickeln. »Vielleicht ist eine Sorte ja resistent ge­
gen das Bakterium«, sagt Melcarne.
Zwei Sorten haben sie bislang ausgemacht, de­
nen es gelingt, Gene zu aktivieren, die das Wachs­
tum des Bakteriums verhindern. Nun könne man
Zweige dieser Sorten auf schon erwachsene Bäume
pfropfen, erklärt Melcarne. Ähnlich wie bei einer
Trans plan ta tion wird dabei ein fremder Zweig in
einen vorhandenen Wurzelstock gesteckt, auf dass
sie mit ein an der verwachsen. Doch eine Pfropfung,
soll sie gelingen, ist Kunst, und die Kunst ist teuer.
Die wenigsten Bauern im Salento können sich so
etwas leisten.
»Die zweite Möglichkeit ist, kranke Bäume zu
fällen und stattdessen die toleranten Sorten zu
pflanzen«, sagt Melcarne. Doch dafür brauche
man Geduld. Ein Olivenbaum wächst langsam.
Erst nach 20 Jahren steht er in voller Blüte.
Salvatore Sergi, 57, spürt, dass ihm so viel Zeit
nicht bleibt. An einem verwaschenen September­
morgen holt er eine Harke und einen Eimer, voll
mit Kompost, von der Ladefläche seines Wagens
und stapft auf das Feld, das vormals seinen Schwie­
ger eltern gehörte. Arme Leute seien die Schwieger­
eltern gewesen, erzählt Sergi. Jahrelang hätten sie
in einer Zementfabrik in der Schweiz geschuftet,
um das Geld für das Feld zusammenzukratzen, weil
sie ihm und ihrer Tochter unbedingt etwas hinter­
lassen wollten. Am Totenbett habe er dem Schwie­
gervater versprochen, sich immer gut um das Feld
zu kümmern.
Er geht an einigen Bäumen vorbei, und im Vor­
beigehen stellt er sie vor, als wären sie alte Freunde.
Dieser hier habe ihm zeitlebens treue Dienste erwie­
sen, habe ihn jedes Jahr reich mit Oliven beschenkt.
Der dort sei noch ganz jung, ein fauler Kerl. Habe
sich nie angestrengt, kaum Früchte erzeugt. Aber gut,
so seien sie nun mal. »Nicht jeder hat Lust zu arbei­
ten.« Böse sei er ihm deswegen nicht.
An einem Baum bleibt er stehen und stellt den
Eimer ab. Es ist ein altes Exemplar, mehr als tausend
Jahre, in die Rinde ist eine kleine Plakette einge­
schraubt, mit der in Apulien die ältesten Oliven­
bäume gekennzeichnet werden. Der Stamm ist
krumm und verwachsen. Die einst majestätischen
Äste sind amputiert. Xylella hatte sie nach und nach
abgetötet. Als die Forstbeamten kamen, um die Äste
abzusägen, habe er weggehen müssen, sagt Sergi. Er
habe es nicht ausgehalten, das mitanzusehen.
Doch der Baum lebe noch, da sei er sich sicher.
Auch wenn es aussichtslos ist: Er will alles versu­
chen, ihn zu bewahren.
Er kniet sich unter dem Baum auf die Erde. Am
Himmel haben sich die Wolken mittlerweile zu­
sammengezogen, es donnert, bald wird der Regen
einsetzen. Sergi macht, was er ein Leben lang mach­
te, er beginnt, mit der Harke den Boden zu lockern.
Er befreit den Stamm von Unkraut und Gestrüpp.
Er schaufelt, er schneidet. Er versinkt in seiner Ar­
beit, so als wäre niemand mehr auf dem Feld, außer
ihm und seinen Bäumen.

HINTER DER GESCHICHTE

Ausgangsfrage: Warum sterben in Apulien
Millionen von Olivenbäumen?
Recherche: Der Fotograf dieses Dossiers, János
Chialá, kommt aus Apulien, seine Familie stellt
Olivenöl her. Auch ihre Bäume sind bedroht.
Seit etwa vier Jahren dokumentiert Chialá die
Schäden, die Xylella anrichtet, mit seiner Kamera
und spricht mit Betroffenen. Er machte unsere
Redaktion auf das Thema aufmerksam und
begleitete unseren Autor in den vergangenen
Monaten bei dessen Recherchen vor Ort.

»Eigentlich müsste


uns ein Polizist oder


ein Soldat begleiten«


Silvio Merico, Mitarbeiter der
Pf lanzenschutzbehörde

»Keine Ahnung,


wie lange ich noch


durchhalte«


Marta Cesi, Olivenbäuerin,
hier mit ihrem Bruder

»Vielleicht ist eine


Sorte ja resistent


gegen das Bakterium«


Giovanni Melcarne,
Agronom

Durch eine Redigatur in unserem Artikel
»Gefähr liche Verlierer« (ZEIT Nr. 43/19)
wurde die sogenannte #Gamer Gate­
Kam pagne fälschlicherweise im Jahr 2005
verortet. Tatsächlich fand sie 2014 statt.
Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

Berichtigung



  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 DOSSIER 17

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