Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

7 Nr. 44/2019 ZEIT ABITUR


Wenn es doch schon geschafft wäre! Lernen,
Klausuren, mündliche Prüfungen – das
letzte halbe Jahr bis zum Abi, der Endspurt
der Schulzeit, kann sich wie ein Marathon
anfühlen. Und dann, endlich am Ziel: Er­
leichterung, Party und die Aussicht auf
Abenteuer, für die man mit dem Abitur bes­
tens ausgerüstet ist. Ein Gefühl von »Die
Zukunft gehört uns«.
Doch grenzenlose Freude angesichts
grenzenloser Möglichkeiten erscheint neuer­
dings unmöglich. Durch die Straßen laufen
jeden Freitag Tausende von Schülern und
rufen: »Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr
und die Zukunft klaut!« Sie protestieren ge­
gen die Untätigkeit der Politiker angesichts
der globalen Erwärmung.
Und die Klimakrise ist nur die promi­
nenteste und dringlichste gesellschaftliche
Großbaustelle: Die USA werden von einem
sexistischen Populisten regiert, im britischen
Unterhaus kommt es wegen des Brexits zu
tumultartigen Szenen, an vielen Orten Euro­
pas gewinnen rechtsnationale Parteien an
Macht, während im Mittelmeer Flüchtlinge
ertrinken. Die Meere sind voll Plastik, die
Böden ruiniert, Arten sterben aus.
All das dämpft das Gefühl, nach dem
Ende der Schulzeit richtig durchstarten zu
können – oder nach Lust und Laune abhän­
gen zu dürfen. Müsste man sich jetzt nicht
engagieren, für Klima­ und Artenschutz, für
Demokratie und Menschenrechte, statt nur
das eigene Vergnügen oder Vorankommen
im Blick zu haben?
Schon die Frage kann eine Zumutung
sein. Als wäre es nicht schon schwer genug,


zu entscheiden, wie es nach dem Abitur
weiter geht. All die tausend Möglichkeiten:
Soziales Jahr, Studium, Praktikum, Ausbil­
dung, Weltreise. Das ist großartig – und es ist
schrecklich. Denn bei tausend Möglichkei­
ten erscheint das Risiko, sich für eine falsche
zu entscheiden, sehr groß. Und ganz sicher
muss man sich gegen 999 (oder zumindest
995) entscheiden. Statt schöner Offenheit –
qualvolle Unsicherheit.
Zu viel Auswahl kann Menschen un­
glücklich machen, schon bei so simplen
Dingen wie Marmeladensorten, das zeigen
Studien. Und nach dem Abschluss geht es ja
um sehr viel mehr. Wer Tag für Tag in die
Schule getrottet ist, aufgehoben in über
Jahre eingeübten Ritualen, soll plötzlich
weitreichende Entscheidungen treffen: Kris­
tallografie studieren oder lieber Tibetologie?
Ein Praktikum bei Bergbauern in der mexi­
kanischen Sierra Madre? Schildkröten retten
auf den Galapagosinseln? Oder doch lieber
was Handfestes, vielleicht eine Tischleraus­
bildung? Gerade weil es überall langgehen
könnte, geht es für viele erst mal gar nicht
weiter als vom Computerbildschirm bis zum
Bett und wieder zurück.
Fast jedem zweiten Schüler fällt die Be­
rufswahl schwer. Mehr als jeder vierte
Schüler macht sich Sorgen, wie es nach der
Schule beruflich weitergeht. Und ein Fünftel
der Schüler hat überhaupt keine Vorstellung,
was in ihrem Leben auf die Schule folgt. Das
ergab die Allensbach­Studie »Schule, und
dann?«. Sie stammt aus dem Jahr 2014, also
noch aus der Zeit vor dem Aufstieg der AfD
zur Volkspartei im Osten, vor der Wahl

Trumps und vor den Dürresommern der
vergangenen Jahre, die den Klimawandel für
alle spürbar gemacht haben. Seither sind es
nicht mehr nur ein paar Abiturienten, denen
der Kompass fehlt: Die ganze Welt scheint
nicht mehr zu wissen, wo es langgeht.
Auf einmal wirkt es so, als würde es bei
der eigenen Entscheidung um alles gehen.
Die Frage ist nicht mehr nur: Was will ich
werden? Sondern: Wie will ich leben? Was
für ein Mensch will ich sein?
»Am Ende der Schulzeit geht es nur vor­
dergründig um die Berufsentscheidung, tat­
sächlich ist man mit der Frage nach dem ei­
genen Lebensentwurf konfrontiert«, sagt die
Soziologin Angelika Schmidt­Koddenberg.
Angesichts der Klimakrise, die laut der »Fri­
days for Future«­Bewegung einen ganz neuen
Lebensstil erfordert, gilt das umso mehr.
Müssen Abiturientinnen und Abiturien­
ten jetzt also nicht nur den eigenen Lebens­
weg finden, sondern gleich die ganze Welt
auf den richtigen Weg bringen? Wie Greta
Thunberg und Luisa Neubauer unermüdlich
für den Klimaschutz kämpfen? Sich wie die
Kapitänin Carola Rackete für die Rettung
von Flüchtlingen aus Seenot einsetzen? Oder
wenigstens wie der YouTuber Rezo laut auf
die Probleme aufmerksam machen? So wie
die Medien sich auf all diese jungen Enga­
gierten stürzen, könnte der Eindruck ent­
stehen, dass das der Anspruch an die junge
Generation ist. Doch das wäre nicht nur
falsch, das wäre sogar gefährlich.
Natürlich: Die »Fridays for Future«­
Bewegung fordert zu Recht, dass die gesamte
CO₂­Maschinerie, genannt Weltwirtschaft,

W


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