Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

ZEIT ABITUR Nr. 44/2019 8


bei laufendem Betrieb umgerüstet und der
fossile Antrieb durch einen erneuerbaren er-
setzt werden muss. Schließlich mahnen
Wissenschaftler, dass die Weichen dafür in
den nächsten elf Jahren gestellt werden soll-
ten, andernfalls würden unweigerlich Kipp-
Punkte im Klima- und Ökosystem über-
schritten, mit ungewissen, ganz sicher aber
dramatischen Folgen für die Menschen.
Und ja: Eine solche Aufgabe ist nur zu lösen,
wenn sich möglichst viele dafür einsetzen.
Aber: Wer jetzt die Schule beendet, trägt
für keine der gegenwärtigen Krisen die Ver-
antwortung. Der Klimawandel ist nahezu
vollständig das Produkt der Eltern- und
Großelterngeneration der heutigen Abitu-
rienten. Wer jetzt 85 Jahre alt ist, in dessen
Lebenszeit sind mehr als 90 Prozent aller
CO₂-Emissionen seit Beginn der Industriali-
sierung angefallen. Wer 55 ist, bei dem sind
es fast 80 Prozent. Diese Generation ist es,
die schon alles über den Klimawandel wusste
und so gut wie nichts dagegen tat. Sie ist es,
die handeln muss.


Im Übrigen muss man, wenn man länger
als ein Jahrzehnt Tag für Tag fremdbestimmt
war, erst mal gar nichts. Jetzt darf man mal
tun und lassen, was man möchte. Auch ein-
fach nur Spaß haben. Neue Mühlen und
Mühen kommen bestimmt. In einer libera-
len Gesellschaft kann diese Freiheit gar nicht
genug gefeiert werden. Sie zu nutzen ist fast
schon eine Verpflichtung. Freiheit sei »der
Gehorsam vor dem Gesetz, das man sich
selbst gegeben hat«, schrieb Jean-Jacques
Rousseau. Sie realisiert sich also als Selbst-
bindung. Die Grenzen setzt man sich selbst
aus freien Stücken. Das kann die Entschei-
dung sein, die gegenwärtige Freiheit, so viel
CO₂ in die Luft zu pusten, wie man Lust hat,
aus Einsicht in die Folgen ungenutzt zu las-
sen. Es kann aber auch bedeuten, zunächst
eigene, ganz persönliche Ziele zu verfolgen.
Niemand ist zur Weltrettung verpflichtet.
Moralischer Druck ist zudem gefährlich.
Denn er kann dazu führen, dass sich einige
mustergültig engagieren, andere aber nur
umso gelähmter herumhängen – erschlagen

vom Anspruch, nicht nur ein erfolgreicher,
sondern auch noch ein tadelloser Mensch
sein zu müssen. Diese Erwartung könnte
diese Generation, die jetzt ins Leben nach
der Schule startet, spalten.
Wer sich auf welche Weise engagiert, hat
nämlich viel mit seiner Herkunft zu tun, mit
seiner Familie und dem Milieu, aus dem er
kommt. Und das unterscheidet sich bei heu-
tigen Abiturienten stärker als je zuvor – das
Abi ist zum Abschluss für die Massen gewor-
den. Die »Fridays for Future«-Bewegung
etwa tragen überwiegend Jugendliche aus der
oberen Mittelschicht, das ergab eine Studie
des Instituts für Protest- und Bewegungs-
forschung aus dem März 2019. 63 Prozent
der befragten Schüler, die im Klimastreik ak-
tiv sind, ordnen sich diesem Milieu zu. Zur
unteren Mittelschicht zählten sich 28 Pro-
zent und zur Arbeiterschicht nur 7 Prozent.
Es könnte also darauf hinauslaufen, dass
die einen den Blick ganz auf eine schwierige
Zukunft richten, die ihnen den ökologi-
schen Boden unter den Füßen wegzuziehen

TITELGESCHICHTE

»Ich habe meine Zukunft klar vor Augen. Ich möchte als
Wirtschaftsinformatiker bei der Europäischen Zentral-
bank arbeiten. Viele verstehen das nicht, Banken sind für
sie böse. Aber ohne stabile Wirtschaft kann eine moderne
Gesellschaft nicht existieren, und es braucht Geld, um
Menschen zu helfen, denen es schlechter geht als uns.«

Patrick, 16 Jahre


Charlotte, 16 Jahre


»Was meine berufliche Zukunft angeht, bin ich noch
planlos. Ein Politikstudium könnte ich mir vorstellen,
weil ich meinungsstark bin. Ich würde auch gern dafür
sorgen, dass die Generationen nach uns noch ein gutes
Leben haben. Aber in welcher Partei soll ich mich dafür
engagieren? Ich fühle mich von keiner angesprochen.«
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