Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

Abb.: Marie Antoinette »à la rose« von Élisabeth-Louise Vigée-Lebrun, 1783; Marie Antoinette nach Vigée-Lebrun von Fernando Botero, 2005 (r.)


M


arie Antoinette lässt uns
nicht los. Bis heute be-
gegnet sie uns in Bü-
chern und Filmen, auf
Lollis und Torten, Tas-
sen und Vasen, in Wer-
beclips und Videospie-
len. Warum ist sie, 1793 hingerichtet, so leben-
dig, und warum wird sie noch immer neu
erfunden? Die Ausstellung Marie-An toi nette,
meta mor phoses d’une image sucht Antworten –
an dem Ort, an dem die französische Königin
die letzten zehn Wochen ihres Lebens verbracht
hat: Mehr als 200 Objekte und Porträts vom
Rokoko bis zur Pop-Art sind derzeit in der Pa-
riser Conciergerie zu sehen, heute Justizpalast
und Museum, damals, während der Französi-
schen Re vo lu tion, Gefängnis.
Seit die Schau angekündigt wurde, sind auf
der Face book- Sei te des Centre des monuments
nationaux Hunderte Kommentare eingegan-
gen. Viele drücken Freude und Vorfreude aus.
Ebenso viele aber empören sich darüber, dass
für diese Unperson auch heute noch Steuergel-
der verschleudert werden. Einer der letzten
Posts war ein unkommentiertes Foto: das Foto
einer Guillotine. Marie Antoinette polarisiert
wie eh und je.
Sie war eine Königin, die scheinbar alles hat-
te. Und die alles verlor. Schon zu Lebzeiten
wurde sie zur Pop-Ikone. Am Ende machte sich
jeder ein eigenes Bild von ihr. Die Ausstellung
zeigt die bekanntesten.
Zunächst die atemraubenden Porträts von
Élisabeth Vigée-Lebrun, Bildnisse einer Frau voll
Leichtigkeit und zarter Sinnlichkeit – Marie
Antoinette als Inbegriff des Rokoko. Man sieht
sie in Seidenröcke gehüllt, abstehend wie ein auf-
gespannter Sonnenschirm; Blumenornamente,
Schminke und Puder en masse, die Haare zu
waghalsigen Poufs aufgetürmt. In den Kopf-
schmuck eingelassen sind ganze Szenerien, Gär-
ten, Wälder, Dörfer.
Daneben steht das hässliche Zerrbild. Öster-
reich und Frankreich sind seit Menschengeden-
ken verfeindet, als die in Wien geborene Marie
An toi nette mit 18 Jahren Königin an der Seite
Ludwigs XVI. wird. Schon bald nach ihrer
Hochzeit 1770 ist sie für viele nur noch »die Ös-
terreicherin«, »l’Autrichienne«, was im Franzö-
sischen wie »l’autre chienne« klingen kann – »die
andere Hündin«.
Zu ihren Lebzeiten ist sie die wohl meist-
gehasste Person Frankreichs. Sie gilt als Ver-
schwenderin, die über Leichen geht, um ihre
Gelüste zu befriedigen, ein Monster sei sie, eine

bête fé roce, eine »reißende Bestie«. Zahllose Af-
fären dichtet man ihr an, Ver sailles gilt als Toll-
haus, in dem Orgien gefeiert werden. Lange vor
der Re vo lu tion kursieren in Paris obszöne Li-
thografien, die die Königin mal als lesbische,
mal als mannstolle Kurtisane zeigen. Für die
Ausstellung hat man aus den Geheimarchiven
der Bi blio thèque na tio nale de France eine Aus-
wahl dieser pornografischen Blätter entliehen.
Könige und Königinnen haben immer das
Geld des Volkes verprasst. Pomp war immer auf
Pump. Aber keiner ihrer Vorgängerinnen hat
man dies so sehr zum Vorwurf gemacht wie ihr.
»Ma dame Défi cit« nennt man sie. Marie An toi-
nette ist der Sündenbock, den man für die
Finanzkrise am Vor abend der Re vo lu tion ver-
antwortlich macht, obwohl ihre persönlichen
Ausgaben in Wahrheit nur einen geringen An-
teil am Haushalt ausmachen und die Ursache
für den drohenden Staatsbankrott in den Un-
summen liegt, die der Krieg gegen die Englän-
der in Nordamerika verschlingt.
Der Hass, den sie auf sich zieht, entlädt sich
vollends in dem Prozess, in dem sie wegen
»Hochverrat und Unzucht« zum Tode verurteilt
wird. Was wirft man ihr
nicht alles vor! Sogar eine
inzestuöse Beziehung zu
ihrem Sohn Louis Charles
soll sie gehabt haben, der
damals gerade acht Jahre alt
ist. An toine Fou quier- Tin-
ville, Unter suchungsrichter
und fana tischer Revolu-
tionär, beschimpft sie als
»Geißel und Blutsaugerin
der Franzosen«. So heißt es
in der Anklageschrift, die am 14. Oktober 1793
zum Prozessauftakt verlesen wird – und als Ori-
ginaldokument in der Ausstellung zu sehen ist.
Es ist die Zeit des terreur. Bereits im Ja nuar hat
man dem König den Kopf abgeschlagen.
In der Restaurationszeit wird Marie An toi-
nette rehabilitiert. Das Bild der Märtyrerin und
Mutter, der man alles genommen hat – den
Mann, die Kinder, das Leben –, löst das alte
Image ab. Das Unrecht, das ihr widerfahren ist,
dient nun als moralisches Pfand zur Legitimie-
rung des bourbonischen Herrschaftsanspruchs.
Marie An toi nette – eine Heilige, deren Todes-
tag man alle Jahre mit großem Gloria feiert. Wo
ihre Zelle war, wird eine Kapelle eingerichtet,
die Conciergerie wird zum Pilgerort. Die spär-
lichen Gegenstände aus ihrem Privatbesitz, die
überdauert haben und auch in der Ausstellung
nicht fehlen dürfen, ein Schuh etwa, den sie am

Tag ihrer Hinrichtung getragen haben soll, ein
Unterhemd, eine Haube, ein Stück ihres Gür-
tels, verehrt man wie Reliquien. Das gesamte


  1. Jahrhundert über wird es so bleiben.
    In den 1920er-Jahren dann entdeckt die
    Klatschpresse Marie An toi nette als entpoliti-
    siertes Glamourgirl, als eine Art Lady Di des

  2. Jahrhunderts. Auch in Filmen erweckt man
    sie zum Leben, erst stumm, später in opulenten
    Tonfilmproduktionen. W. S. Van Dyke bringt
    ihr Leben 1938 auf die Leinwand, es folgen die
    Filme von Sacha Guitry (Ver sailles – Könige und
    Frauen, 1954) und Jean Delannoy (Marie-
    Antoi nette reine de France, 1956).
    Die Epoche nach Freud hat zudem gelernt,
    auch Monarchen auf die Couch zu legen. Histo-
    riker und Schriftsteller entwerfen nun »Psycho-
    gramme«. Auch von ihr. Das schönste ist Stefan
    Zweigs Marie Antoinette von 1931, das »Bildnis
    eines mittleren Charakters«, wie er es nennt, das
    sie zum ersten Mal »von innen« verstehen will, als
    eine Misshandelte, eine Gefangene.
    Und heute? Nichts, was es nicht gibt. Vor ein
    paar Jahren konnte man die Verwandlung Ma-
    rie An toi nettes in eine Art Rosamunde-Pilcher-
    Figur erleben – in dem
    überzuckerten Bestseller
    der britischen Autorin An-
    tonia Fraser, den Sofia
    Coppola 2006 verfilmt
    hat: Kirsten Dunst in der
    Rolle der Marie An toi-
    nette als Törtchen verzeh-
    rende Luxusgöre, irgend-
    wie selbst ein Törtchen.
    Dazu Partys, bis der Leib-
    arzt kommt, alles als Frust-
    lösungsmittel für eine maximal unglückliche
    Person, die abgeschottet in einem künstlichen
    Universum lebt, in dem alles, was sie will, auch
    zu haben ist. So blickt eine Welt auf Marie An-
    toi nette, in der sich der Konsum zum Kultur-
    problem ausgewachsen hat. Vor zwei Jahren
    tauchte die Königin sogar in den US-Charts auf



  • im Video zu Katy Perrys Hit Hey Hey Hey.
    Doch nicht nur das Bild, das sich andere von
    ihr machten, durchlief Metamorphosen. Marie
    An toi nette war auch selbst eine Verwandlungs-
    künstlerin. Schon bald nachdem sie in Versailles
    angekommen ist, muss sie erkennen: Sie ist eine
    öffentliche Person, rund um die Uhr. In einem
    Brief an ihre Schwester schreibt sie 1777: »Die
    Leute glauben, die Königin zu spielen sei ganz
    einfach – aber sie irren sich. Nichts als Zwang
    und Vorschriften, natürlich zu sein ist anschei-
    nend ein Verbrechen.«


Aus dieser Not heraus tut sie, was keine ihrer
Vorgängerinnen gewagt hat: Sie verteidigt ihre
Privatsphäre, kapselt sich ab (was Gerüchten erst
recht Nahrung gibt). Abseits ihrer öffentlichen
Auftritte legt sie die Reifröcke ab und flüchtet in
die Abgeschiedenheit des Petit Trianon, ihres
Lustschlösschens im Garten von Ver sailles. Sie
erfindet sich in einer selbst geschaffenen Gegen-
welt neu, lässt schlichte Bauerngärten anlegen
und das Staffagedörfchen Le Hameau de la Reine,
in dem sie das ursprüngliche, einfache Leben
sucht – und zu finden glaubt: Auch die »Natür-
lichkeit«, die sie ersehnt, ist nur als Inszenierung
zu haben. Sie gründet im Petit Trianon sogar ein
eigenes Theater und steht vor ausgewähltem Pu-
bli kum auf der Bühne, als Schäferin Co lette in
Rousseaus Singspiel Der Dorfwahrsager oder als
Rosine in Beau marchais’ Barbier von Sevilla.
Und wen wundert es, dass sie sich am besten in
der Rolle der Kammerzofe oder des Dienst-
mädchens gefiel?
Wer aber war diese Frau wirklich? Zeitzeug-
nisse schildern sie als lebhaft, gefühlsbetont,
heiter, zwanglos und sensibel. Stefan Zweig
bezeichnet sie später als »laue Seele«: »Sie war
weder die große Heilige des Royalismus noch
die Dirne der Re vo lu tion, sondern eine eigent-
lich gewöhnliche Frau, nicht sonderlich klug,
nicht sonderlich töricht, nicht Feuer und nicht
Eis, ohne besondere Kraft zum Guten und
ohne den geringsten Willen zum Bösen.« Marie
An toi nette, am Ende vielleicht eine ganz
gewöhnliche Person?
Am besten aber, man lässt sie selbst zu Wort
kommen. Die Pariser Ausstellung zeigt den wohl
berühmtesten Brief aus ihrer Feder, geschrieben
am Morgen ihres Todestages, des 16. Oktober


  1. In diesen letzten Zeilen verabschiedet sie
    sich von ihrer Schwägerin und engen Vertrauten
    Elisabeth, der Schwester des Königs, und von der
    ganzen Welt – und sie drückt aus, was sie als
    Mutter im Angesicht des Todes fühlt: den
    Schmerz, die eigenen Kinder verlassen zu müs-
    sen. »Ich bitte alle, die ich kenne, um Verzeihung
    für jedes Leid, das ich ihnen unwissentlich zu-
    gefügt habe«, schreibt sie, »und ich verzeihe all
    meinen Feinden alles Böse, was ich durch sie er-
    litten habe.« Wenige Stunden später wird sie auf
    der heutigen Place de la Con corde enthauptet
    und anschließend in einem Massengrab ver-
    scharrt. Nichts sollte von ihr bleiben.


Die Ausstellung »Marie-Antoinette,
métamorphoses d’une image« ist noch bis
zum 26. Januar in der Conciergerie in
Paris zu sehen (www.paris-conciergerie.fr)

D


er Laptop ist heute das wohl wichtigste
Arbeitsinstrument des Historikers. Am
Bildschirm lassen sich Archive durch-
forsten, Dokumente bestellen, Notizen
machen. Feste Schuhe, eine Stirnlampe und einen
Rucksack mit Werkzeug braucht der durchschnitt-
liche Geschichtsforscher eher nicht.
Der französische Historiker Nicolas Offenstadt ist
da eine Ausnahme: Er hat mit dieser Ausrüstung jahre-
lang den Osten Deutschlands durchstreift. Auf der
Suche nach einem verschwundenen Land, der DDR,
ist er in Dutzende leer stehende Fabrik- und Partei-
gebäude eingestiegen, zwischen Güstrow im Norden
und Reichenbach im Süden, Salzwedel im Westen und
Görlitz im Osten. Mit der Kamera hielt er fest, was er
in den Gebäuden entdeckte: Möbel, Kunstblumen,
Telefone, Lampen, Fahnen, Briketts – archäologische
Fundstücke, als sei die DDR nicht vor 30, sondern vor
3000 Jahren untergegangen.
Aus seinen Aufnahmen hat er nun einen opulenten
Bildband mit dem Titel Urbex RDA zusammengestellt.
RDA steht für Ré pu blique Dé mo cra tique Alle mande,
die Abkürzung Urbex für die Methode, mit der Offen-
stadt vorgeht – urban exploration, wörtlich: Stadt-
erkundung. Drei Regeln sind dabei unbedingt zu be-
achten: Die Gebäude, die man erkundet, müssen frei
zugänglich sein. Wer sich den Eintritt mit Gewalt, durch
das Aufbrechen von Türen oder Fenstern, verschafft,
verstößt gegen den Kodex der Urbex-Szene. Zweitens:
An den Orten darf nichts verändert werden, der Urbexer
muss sie so verlassen, wie er sie vorgefunden hat. Er darf
also, drittens, auch nichts mitnehmen.
Offenstadt gibt zu, dass es ihm als Historiker
schwerfällt, die dritte Regel immer zu befolgen. Häufig
findet er in den Ruinen zurückgelassene Papiere und
Akten – Dokumente, die es doch eigentlich für die
Forschung zu sichern gelte. Zuweilen entdeckt er auch
Kunst am Bau, bemalte Kacheln oder ganze Wand-
gemälde, die dem Verfall preisgegeben sind.
Ungefährlich sind seine Streifzüge nicht. Die belieb-
ten »Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder«-
Schilder warnen nicht ohne Grund. Einer maroden
Treppe oder Bodenplatte ist nicht immer anzusehen, ob
sie den Kundschafter noch trägt. In einer alten Chemie-
fabrik, erzählt Offenstadt, sei er einmal in einem Becken
mit einer unbekannten Flüssigkeit gelandet. Hüfthoch
habe er darin gestanden, ohne zu wissen, ob es sich wo-
möglich um giftige Abwässer handelt.
Nicolas Offenstadt, geboren 1967, ist eigentlich
Spezialist für das Spätmittelalter und den Ersten Welt-
krieg und lehrt an der Sor bonne in Paris. 2015 führte
ihn eine Gastprofessur nach Frankfurt an der Oder.
Rund um die Stadt an der Grenze zu Polen hat er wäh-
rend seines zweijährigen Aufenthalts mehr als 75 ver-
lassene Orte auf gesucht, darunter ehemalige Schlacht-
höfe, Kasernen und Kinos. 2018 ging daraus sein
Buch Le pays disparu. Sur les traces de la RDA hervor.
Offenstadt legt darin auch seine Motive offen: Er
habe die DDR wegen der umständlichen Reise-
formalitäten nie besucht, gleichwohl habe er als linker
Student immer Sympathien für das kleinere Deutsch-
land gehegt, auch wenn ihm der sieche »real existierende
Sozialismus« Unbehagen bereitet habe. Als ein Freund
von ihm 2006 nach Weimar zog, begann er den deut-
schen Osten zu bereisen. Was er fand? Sanierte Alt-
städte und, ja, auch hier und da »blühende Landschaf-
ten«, vor allem aber Industrieruinen, Zeugnisse der
Trans for ma tion in den Neunzigerjahren.
Mit welcher Ignoranz die architektonischen
Relikte der DDR seit 1990 behandelt werden, em-
pört ihn. Er schreibt von einer »Entwertung der
DDR-Kunst« und einer »öffentlichen Degradierung
des Lebens in der DDR«. Mit seiner Arbeit will er auf
den Verfall aufmerksam machen und den drohenden
Verlust dokumentieren.
Unwidersprochen blieb dieses En gage ment nicht.
Sein Blick sei arg poetisch geraten und blende den
Diktaturcharakter des SED-Regimes aus, warf ihm
der Germanist Jean-Louis Georget vor, Professor an
der Pariser Sor bonne Nou velle.
Der Kritisierte weist jeden Ideologieverdacht von
sich. Seine Re cherche du Pays Perdu sei keine sentimen-
tale Angelegenheit, sondern ein Beitrag zur Forschung
und Quellensicherung. Vieles, was in Archive gehöre,
finde sich heute auf Flohmärkten, klagt Offenstadt.
In Paris hat er inzwischen ein eigenes Archiv zu-
sammengetragen. Es ist ein eigenwilliger ostdeutscher
Erinnerungsort – eine DDR an der Seine, auferstan-
den aus den Ruinen der Nachwendezeit.

Der Bildband »Urbex RDA« von Nicolas Offenstadt ist
kürzlich bei Albin Michel erschienen (258 S., 34,90 €)

Der Franzose Nicolas Offenstadt
erkundet die Ruinen des SED-Staats
VON RENÉ SCHLOTT

Auf der Suche


nach dem


verlorenen Land


Marie Antoinette, die 1793 auf dem Schafott starb, erregt in Frankreich bis heute die Gemüter.


Eine große Schau in Paris erweckt die Königin nun noch einmal in allen Facetten zum Leben


VON MARTIN HECHT

Pomp und Seele


Sehnsucht nach dem einfachen Leben: Porträt des kolumbianischen Malers Fernando Botero, 2005

GESCHICHTE 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 19


Sie wurde bis


aufs Blut gehasst


und verehrt


wie eine Heilige


Royale Raffinesse: Marie Antoinette, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun, 1783

Die Grenze
Szenen aus einem geteilten
Land – von der doppelten
Staatsgründung über die
Revolution von 1989 bis heute.
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