Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1
Sterne wie unsere Sonne sind nur Punkte in Galaxien, die sich immer schneller voneinander entfernen

Wie schnell ist das All?


Galaxien fliegen auseinander. Der Streit, wie schnell sie das tun, berührt die Grundlagen der Kosmologie VON ROBERT GAST


Was wir wissen Was wir nicht wissen


WELTRAUM


Quellen


V


ielleicht lässt sich die Sache am besten mit
einer Mikrobe erklären, nennen wir sie
Maxime. Sie wacht eines Tages auf und
findet sich in einem riesigen Hefeteig
wieder, der sich bis zum Horizont erstreckt. In der
Ferne kann sie Dutzende Krümel erkennen, die wie
Berge aus der Knetmasse aufragen. Zugleich fällt
ihr auf, dass sich die Krümel von ihr wegbewegen.
Je weiter sie entfernt sind, desto eiliger scheinen sie
es zu haben.
Maxime ist ein neugieriger Einzeller, noch dazu
ungewöhnlich schlau. Also beobachtet sie die Sache
und wälzt Backbücher. Schließlich wird ihr klar: Sie
muss sich in einem Ofen befinden, dessen Hitze den
Teig langsam aufgehen lässt. Die Mikrobe rätselt:
Wird der Teig immer weiter aufgehen? Oder fällt er
wieder in sich zusammen? Und überhaupt: Wer hat
eigentlich den Ofen angeschaltet?
Ähnliche Fragen stellt sich die Menschheit. Sie
weiß: Das All um sie herum dehnt sich aus, ferne
Galaxien entfernen sich immer weiter. Aber wo
kommt das alles her? Und wo geht die Reise hin?
Fest steht, dass die Distanzen gigantisch sind.
Allein zum nächsten Stern, einem rötlichen Feuer­
ball namens Proxima Centauri, sind es 40.000
Milliarden Kilometer. Ein Lichtstrahl benötigt
dafür mehr als vier Jahre, Astronomen sprechen
daher von einer Distanz von vier »Lichtjahren«.
Wollte man diese Strecke auf der Erde zurück­
legen, müsste man eine Milliarde Mal um den
Äquator reisen. Bezogen auf das gesamte Univer­
sum ist die Strecke geradezu mickrig. Bereits zum
Mittelpunkt unserer eigenen Galaxie, der Milch­
straße, sind es 26.000 Lichtjahre. Ferne Galaxien
sind mitunter Milliarden Lichtjahre entfernt.
Diese Größenverhältnisse kann sich kaum ein
Mensch mehr anschaulich vorstellen. In diesem
Sinne gleichen wir Einzellern in einem Backofen.
Doch wir bauen Teleskope und können immer
weiter ins Weltall hinausblicken.
Ihnen verdanken wir die wohl wichtigste Er­
kenntnis über unser Universum: Es dehnt sich
aus wie ein Hefeteig. Die ersten Hinweise darauf
fanden der Belgier Georges Lemaître und der
Amerikaner Edwin Hubble in den 1920er­Jahren.
Sie erkannten, dass sich so gut wie alle Galaxien
von unserer Milchstraße wegbewegen, ähnlich wie
Maxime die Krümel in die Ferne wandern sieht.
Und nicht nur das: Die Astronomen entdeck­
ten, dass die Fluchtgeschwindigkeit der Galaxien
umso größer ist, je weiter diese von uns entfernt
sind – ein Effekt, der sich in einer Verschiebung
des Lichtspektrums hin zu größeren, roten Wellen­
längen zeigt (»Rotverschiebung«).
Daraus ergibt sich übrigens noch ein anderer
Pfeiler unseres kosmologischen Weltbilds: Kehrt man
die Ausdehnung im Geiste um, kann man bis zu
jenem Punkt zurückrechnen, an dem alle Materie des
Universums in einem Punkt vereinigt war. Das wäre
demnach vor rund 14 Milliarden Jahren gewesen.
Damals bildeten Raum und Zeit einen unvorstellbar
dichten Klumpen, der sich plötzlich rasant aus­


dehnte. Und seither lässt die Energie dieses Urknalls
den kosmischen Hefeteig immer weiter aufgehen. So
weit das übliche Kosmologie­Szenario.
Doch im Jahr 1998 schauten die Astrophysiker
noch einmal genauer hin. Durch die Vermessung
spezieller Supernova­Explosionen gelang es ihnen,
die Entfernungen ferner Galaxien präziser als bis­
her zu ermitteln. Dabei stellten sie fest, dass sich
die Expansion des Alls im Laufe der Zeit nicht
etwa verlangsamt (so wie es zu erwarten wäre,

wenn der Schwung des Urknalls abklingt). Im
Gegenteil: Der Raum zwischen den Welteninseln
scheint sich immer schneller auszudehnen. So als
wäre Maxime, die Mikrobe, von ganz besonderer
Hefe umgeben, die immer schneller aufgeht.
Sogar einen Begriff haben die Kosmologen
dafür gefunden: »Dunkle Energie« nennen sie die
treibende Kraft, die den Raum zwischen den
Sternen immer schneller aufbläht. Für ihre Ent­
deckung erhielten die US­Amerikaner Saul Perl­
mutter, Brian Schmidt und Adam Riess im Jahr
2011 den Physik­Nobelpreis. Die Sache hat also
den höchsten Stempel der Wissenschaft.

L


eider kann niemand sagen, was sich hinter
dem Begriff Dunkle Energie verbirgt.
»Dunkel«, das steht für: unsichtbar, unbe­
kannt. Angesichts dieses Phänomens sind
wir derzeit ähnlich ratlos wie die Mikrobe Maxime
in ihrem Hefeteig.
Stets war die Kosmologie eine Wissenschaft an
der Grenze des technisch Machbaren. Das galt schon,
als Edwin Hubble in den 1930er­Jahren als Erster die
Expansionsgeschwindigkeit des Alls abschätzte.

Wegen der damals begrenzten Möglichkeiten lag
Hubble mit seinem Wert von 500 Kilometern pro
Sekunde pro Megaparsec deutlich daneben. (Ein
Megaparsec entspricht 3,26 Millionen Lichtjahren,
der von Hubble gemessene Wert bedeutet also, dass
eine Galaxie, die so weit entfernt ist, sich mit 500
Kilometern pro Sekunde von uns entfernt.) Heute
weiß man, die Expansion geht deutlich langsamer
vonstatten. Aber gestritten wird immer noch über
die Zahl, die ihrem Entdecker zu Ehren »Hubble­
Konstante« genannt wird.
Für die Kosmologie geht es dabei ums Ganze.
Denn der exakte Wert der Expansionsrate könnte

einen Anhaltspunkt liefern, ob das All künftig
immer schneller auseinanderfliegen wird oder ob
es sich irgendwann wieder zusammenzieht. An
der Hubble­Konstante hängt also die Natur der
Dunklen Energie ebenso wie die Frage, ob im
Universum bisher unbekannte Naturgesetze wir­
ken. Beides ist offen. »Für uns ist das gerade eine
sehr aufregende Zeit«, sagt Sherry Suyu vom Max­
Planck­Institut für Astrophysik in Garching.
Im Wesentlichen wetteifern zwei Teams mit­
einander. Das eine untersucht den Anfang, das
andere das Ende der kosmischen Geschichte.
Da wären zum einen die Daten des europäischen
Weltraumteleskops Planck. Es hat zwischen 2009
und 2013 den kosmischen Mikrowellen hintergrund
kartiert, das Nachglimmen des Urknalls. Damit
haben Forscher eine Art Geschichtsbuch des Uni­
versums geschrieben, das »kosmologische Stan­
dardmodell«. Aus ihm leiten die Planck­Forscher
einen Wert von 67 für die Rate ab, mit der das
heutige Weltall expandieren müsste.
Eine Gruppe um den Nobelpreisträger Adam
Riess erforscht dagegen die Galaxien in unserer
kosmologischen Nachbarschaft. Indem er deren
Abstand und Relativgeschwindigkeit misst, leitet
er ein Maß für die Expansionsrate des Weltalls ab.
Riess zufolge hat sie einen Wert von 74.
Mittlerweile haben beide Teams ihre Analysen
weiter verbessert, den Raum für Messfehler damit ge­
mindert. Auch haben beide Gruppen Unterstützer
um sich geschart, die jeweils mit eigenen Teleskopen
zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Doch es gibt auch
Abweichler, etwa die angesehene Astronomin Wendy
Freedman, deren Hubble­Konstante fast genau zwi­
schen die konkurrierenden Werte fällt. Hat sowohl
das Planck­ als auch das Riess­Team etwas übersehen?
Es gäbe noch eine weitere Möglichkeit: Sowohl
die europäischen Planck­Forscher als auch der US­
Nobelpreisträger haben richtig gemessen. In die­
sem Fall käme Planck deshalb zu einem anderen
Ergebnis, weil in dem kosmischen Geschichts­
buch, mit dem es die Vergangenheit rekonstruiert,
schlicht ein paar Seiten fehlten.
Um diese Variante zu erklären, gibt es bereits
allerlei Ideen: Beispielsweise wäre es möglich, dass
sich die Dunkle Energie mit der Zeit verändert.
Oder dass es im Kosmos exotische, bisher über­
sehene Elementarteilchen gibt, die das junge All
schneller expandieren ließen, etwa eine neue Vari­
ante der geisterhaften Neutrinos. Ebenso könnte
es sein, dass es sich mit der Raumkrümmung des
Universums anders verhält als bisher gedacht.
»Keiner der bisherigen Vorschläge ist restlos
überzeugend«, findet der Astrophysiker Dominik
Schwarz von der Universität Bielefeld. So sehen es
auch viele seiner Kollegen. Daher bleibt den Kos­
mologen nur, was sie seit 90 Jahren tun: weiter das
Weltall beobachten und die Grenzen des technisch
Machbaren noch ein Stück weiter verschieben.

Der Autor ist Physiker und Redakteur
bei »Spektrum der Wissenschaft«

Die Geschichte von Hubbles Entdeckung hat
Robert Kirshner in PNAS aufgeschrieben

Den Streit der Kosmologen über die Konstante
beschrieb das Quanta Magazine im August

Beitrag der späteren Nobelpreisträger Ries
und Schmidt im Astronomical Journal

Links zu diesen und weiteren Quellen
finden Sie unter zeit.de/wq/2019-44

?


Foto: Tony & Daphne Hallas/Science Photo Library; Grafik: DZ

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36 WISSEN 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44


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