- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 WISSEN 35
Müssen alle Schüler programmieren lernen? Unbedingt, aber ganz anders als gedacht VON ULF SCHÖNERT
Ein falscher Befehl, und die Lehrerin läuft vor die
Wand. »Geh geradeaus«, haben ihr die Kinder ge-
sagt, also geht sie geradeaus. Immer weiter und
weiter – bis die Wand sie stoppt. Bamm! Wäre die
Lehrerin ein Roboter, dann wäre sie jetzt wohl
kaputt.
»Programmiere die Lehrerin« lautet die Aufgabe,
die Katharina Geldreich den Schülern einer bayeri-
schen Grundschule gestellt hat. Sie ist jetzt Lehrer-
Bot, die Lehrermaschine. Und wie alle Roboter
macht sie nur genau das, was ihr gesagt wird. Die
Kinder haben schnell verstanden, dass die Maschine
am Anfang eigentlich gar nichts weiß. Also noch
einmal, ganz langsam: »Gehe fünf Schritte gerade-
aus.« Sehr gut. Diesmal bleibt die Lehrermaschine
rechtzeitig stehen.
Katharina Geldreich entwickelt am Institut für
Didaktik der Informatik an der Technischen Univer-
sität München Ideen, wie man Kindern das Program-
mieren nahebringt. An 20 bayerischen Grundschulen
wird ihr Konzept »AlgoKids« erprobt. Ist das nicht zu
früh? »Kommt drauf an, wie man es macht«, sagt
Geldreich. Computer jedenfalls braucht sie zunächst
nicht. »Unplugged«, ausgestöpselt, nennt sie den
ersten Teil ihres Informatikunterrichts. Dabei pro-
grammieren die Kinder ihre Lehrerin oder suchen
Algorithmen im Alltag. Wo werden komplizierte Ab-
läufe in einfache Arbeitsschritte aufgeteilt? In Bastel-
anleitungen etwa oder in Kochrezepten. Man nehme
500 Gramm Mehl, fülle es in eine Schüssel, gebe einen
halben Liter Milch dazu ... So arbeiten Computer-
programme. Das ist Informatik.
Nicht nur in Bayern, in ganz Deutschland sitzen
Universitäten, Schulen und Ministerien an Konzepten,
wie man Kinder und Jugendliche vorbereitet auf die
digitale Zukunft. Fünf Milliarden Euro aus dem Di-
gitalpakt stehen seit diesem Monat bereit. Zwei Jahre
hatten sich Bund und Länder um die Verteilung ge-
stritten. Nun kann es endlich losgehen mit der Digita-
lisierung der Schulen. Doch welche Ausstattung ist
nötig, welche digitalen Lerninhalte sind wichtig, und
wie sollen sie vermittelt werden? Auf diese Fragen gibt
es zurzeit sehr unterschiedliche Antworten – immerhin
ist man sich inzwischen einig über ihre Dringlichkeit.
97 Prozent aller Jugendlichen nutzen in ihrer Frei-
zeit das Internet, im Schnitt täglich dreieinhalb Stun-
den. »Das heißt aber noch nicht, dass sich die jungen
Leute kompetent in der digitalen Welt orientieren
können«, sagt Bettina Martin, Bildungsministerin in
Mecklenburg-Vorpommern. Das Bundesland hat die
Informatik mit Beginn dieses Schuljahres für alle
Kinder ab Klasse fünf zum Pflichtfach erklärt.
Übertrieben? Überfällig? Bei der internationa-
len Vergleichsstudie zur Nutzung digitaler Medi-
en, die englische Abkürzung dafür lautet ICILS,
landeten Deutschlands Schulen 2013 im letzten
Drittel – weit abgeschlagen hinter Ländern wie
Australien oder Dänemark. In zwei Wochen nun
werden die Ergebnisse der Nachfolgestudie erwar-
tet. Experten fürchten, dass sich die digitalen Fä-
higkeiten und Kompetenzen nicht sonderlich ver-
bessert haben.
Ein interessanter Befund damals: Je länger Jugend-
liche am Bildschirm hängen, desto schlechter können
sie im Netz recherchieren, Algorithmen verstehen
oder Fakten von Fake-News unterscheiden. Lasse man
Schüler aufmalen, welchen Weg eine WhatsApp-
Nachricht von Absender zu Empfänger nimmt,
tauche immer ein Satellit auf, sagt Torsten Otto, der
Lehrer am Hamburger Gymnasium Marienthal ist.
Dabei spielten Satelliten bei der Übertragung digi-
taler Botschaften gar keine Rolle – Router, Funk-
masten oder Glasfaserleitungen aber sehr wohl.
M
it einem Kollegen entwickelt Otto
Konzepte zum Einsatz von Mikro-
controllern in der Schule. Um sol-
che Kleinstcomputer – sie heißen
Arduino, Calliope mini oder
RaspberryPi – zu programmieren, muss man weder
eine Programmiersprache beherrschen noch Befehle
auswendig lernen. Es genügt zunächst, auf einem
Computer vorgefertigte Anweisungen auszuwählen
und diese in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen.
Dabei müssen die Kinder so präzise arbeiten wie
bei der Programmierung des LehrerBots. Ein einzi-
ger Fehler – nichts funktioniert. Wenn aber alle
Schritte logisch aufeinander folgen, erklingen Ton-
folgen, LEDs leuchten, und im besten Fall setzt
sich etwas in Bewegung. Das ist der Moment, in
SCHULE
Zum Digitalpakt Schule kann man beim
BMBF die Verwaltungsvereinbarung und
häufig gestellte Fragen nachlesen
Die ICILS-Studie vergleicht seit 2013 die
computer- und informationsbezogenen
Kompetenzen von Achtklässlern international
Der Autor hat mit mehr als einem Dutzend
Digitalexperten in Schulen, Universitäten
und Ministerien gesprochen
Links zu diesen und weiteren Quellen
finden Sie auf ZEIT ONLINE unter
zeit.de/wq/2019-44
Quellen
Illustration: Stefan Fähler für DIE ZEIT
Gib mir Befehle!
Dieser Seestern heißt
Calliope. Mit dem Minirechner
lernen Kinder spielerisch,
wie Computer funktionieren
dem die Kinder Jubelfäuste in die Luft strecken,
als feierten sie das Tor ihrer Lieblingsmann-
schaft. »Das Programmieren ist für den Infor-
matik-Unterricht, was der Versuch für den
Chemie-Unterricht ist«, sagt Otto. »Es schafft
Erfolgserlebnisse.«
Otto schwärmt besonders vom Mikrocon-
troller Calliope mini, der extra für Schulen ent-
wickelt wurde. 15.000 solcher Kleinrechner will
die Stadt Hamburg jetzt anschaffen. Das Gerät
ist handtellergroß, sieht aus wie eine Kreuzung
aus Seestern und Platine und arbeitet vom
Grundprinzip wie jeder andere Computer. Doch
wenn man ihn zum ersten Mal anschaltet, kann
Calliope rein gar nichts. Man muss ihn zum
Leben erwecken, mit den richtigen Ideen. Dann
wird aus dem Minicontroller zum Beispiel eine
Verkehrsampel. Es lässt sich programmieren, wie
lange sie Rot zeigt, wann sie auf Grün springt.
Wenn Kinder im Unterricht etwas sagen wollen,
könnten sie sich in Zukunft über das »Zuwort-
meldesystem« von Calliope bemerkbar machen.
Wer sich wie oft meldet, wer wie oft drankommt:
Alles wird gespeichert. Calliope kann auch
helfen, den Klassensprecher zu wählen. Die Na-
men der Kandidaten werden dann nicht mehr
auf kleine Zettel geschrieben, sondern in den
Minicontroller eingegeben.
»Es reicht nicht, nur zu konsumieren. Man muss
auch konstruieren«, sagt Otto. »Wer konstruiert,
kann verstehen.« Und stößt dabei auf wichtige
Fragen: Wie sicher ist so ein System? Kann man es
manipulieren? Lässt sich die geheime Wahl, die
einzelne Kinder getroffen haben, zurückverfolgen?
Welche Gefahren stecken in der Technik? Warum
vertrauen wir Computern die Steuerung vollbesetz-
ter Großraumflugzeuge an, verlassen uns bei Wah-
len aber lieber auf Zettel und Stift?
Seit den enttäuschenden Ergebnissen der ers-
ten ICILS-Studie vor fünf Jahren überschlagen
sich Fachleute und Politiker mit Forderungen.
Digitalstaatsministerin Dorothee Bär (CSU) will
- analog zu Sport- und Musikgymnasien –
Digitalgym nasien einrichten. Kanzlerin Angela
Merkel (CDU) erklärte das Programmieren zu
einer »Basistugend« der Zukunft. »Das ist so
wichtig wie lesen und schreiben«, sagt auch
Ralph Müller-Eiselt, bei der Bertelsmann-Stif-
tung zuständig für digitale Bildung. »Es geht
nicht darum, Computerbefehle zu pauken, son-
dern Konzepte hinter Programmen zu erkennen,
algorithmisch zu denken.« Ob das in einem Ex-
trafach passiere, also Informatik, sei zweitrangig.
Genau das aber ist derzeit eine der am heißesten
diskutierten Fragen. Noch vor drei Jahren schien
die Sache klar zu sein. Da hatte die Kultusminister-
konferenz (KMK) in einem Strategiepapier postu-
liert, die »selbstbestimmte Teilhabe in einer digita-
len Welt« als Querschnittsaufgabe über alle Schul-
fächer hinweg zu verteilen. Bisher war es für einen
Großteil der Schüler in Deutschland kein Problem,
zum Abitur zu gelangen, ohne auch nur eine ein-
zige Stunde Informatik gehabt zu haben. Doch das
soll sich nun ändern. Das Fach Informatik erlebt
eine Aufwertung.
In Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel,
wo das neue Pflichtfach ab Klasse fünf »Infor-
matik und Medienkunde« heißt. In Bayern wird
Informatik seit 2004 obligatorisch an Gymna-
sien und Realschulen integriert im Fach »Natur
und Technik« unterrichtet. Nun kommt zusätz-
lich ein eigenes Fach in den Haupt- und Real-
schulen hinzu. Auch Nordrhein-Westfalen und
Niedersachsen wollen in die gleiche Richtung
gehen. Andere Länder wie Baden-Württemberg
machen den Informatik-Unterricht zwar nicht
zur Pflicht, bauen ihn aber aus. In Rheinland-
Pfalz werden vom kommenden Schuljahr an 15
spezielle Profil-Schulen für Informatik einge-
richtet, in Sachsen gibt es jetzt zum ersten Mal
ein Gymnasium, das Informatik als Leistungs-
kurs anbietet.
Wie verschlüsselt man Daten? Warum spucken
Suchmaschinen bei gleichen Suchbegriffen je nach
Nutzer unterschiedliche Ergebnisse aus? Rechnet
das Navi wirklich alle Möglichkeiten durch, wenn
man von A nach B will? Warum besiegen uns Ma-
schinen schon lange im Schach, aber noch nicht
im Fußball?
Solche Fragen machen die Informatik wieder
spannend. Es ist, als hätte im muffigen Compu-
terraum endlich jemand ein Fenster aufgestoßen.
Die Informatik hatte lange ein Imageproblem,
das Fach klang nach MS-Word im PC-Kabinett,
nach Mathe und kryptischen Programmierspra-
chen. Langweilig und der technischen Entwick-
lung immer hinterher.
Auch in den Lehrerzimmern herrschte lange
Zeit große Skepsis – und Unsicherheit. Man
meinte, angesichts der Über-Digitalisierung der
Schüler in ihrer Freizeit sollten die Schulen eine
Art analoger Schutzraum sein. Inzwischen aber
unterrichten immer mehr Lehrer, die selbst mit
PC-Spielen, YouTube und Facebook groß gewor-
den sind. Für sie ist auch die digitale Grundbildung
ab Klasse eins kein Tabu mehr.
Ute Schmid, Leiterin der Forschungsgruppe
Elementarinformatik an der Universität Bam-
berg, hat für den Einsatz an Grundschulen eine
»Experimentierkiste Informatik« entwickelt.
Kein Computer befindet sich darin, sondern
Legosteine, Sticker und Spielkarten. Eine Kiste
mit Spielzeug. Ausreichend, um auf anschauli-
che Art zu erklären, was ein Binärsystem ist und
wie die Grundlagen eines Computers funktio-
nieren. »Die digitale Welt analog begreifen«,
nennt das Schmid.
»Computational Thinking« heißt der Fach-
begriff für neue Formen des Problemlösens jen-
seits von Programmiersprachen und Benutzer-
oberflächen. Gemeint ist damit die Fähigkeit,
Probleme durch Modellierungen und Algorith-
men zu lösen. Die neue ICLIS-Studie testet erst-
malig die Kompetenzen der Schülerinnen und
Schüler im internationalen Vergleich auch auf
diesem Feld.
Zahlreiche europäische Länder, darunter
Finnland, die Schweiz und Österreich, haben
Computational Thinking bereits explizit in ihre
schulischen Lehrpläne aufgenommen. Hierzu-
lande dagegen ist der Begriff noch wenig in Ge-
brauch. »Wir tun uns insgesamt sehr schwer mit
der Nutzung der Potenziale der Digitalisierung
in den Schulen«, sagt Birgit Eickelmann, Profes-
sorin für Schulpädagogik an der Universität
Paderborn und Leiterin des deutschen Teils der
ICILS-2018-Studie. Ihr kommt es auch auf die
digitale Mündigkeit an: »Nur wenn ich weiß,
wie Algorithmen funktionieren, kann ich die di-
gitale Welt mitgestalten.« Eickelmann fordert
Konzepte wie das Computational Thinking
auch in deutschen Lehrplänen zu verankern,
fächerübergreifend.
D
as Schulfach Informatik sei wie
eine Wirbelsäule, an der sich die
anderen Fächer festhalten können,
sagt Ira Diethelm, Bildungsfor-
scherin an der Universität Olden-
burg. »Ohne ein solches Rückgrat geht es an den
Schulen nicht.« Wie das Internet aufgebaut ist,
wie Smartphones funktionieren, was Programme
sind, was Server, Router, Datenpakete sind: Das
alles erklärt die Informatik.
Nicht nur Diethelm beschleicht die Befürch-
tung, dass die Schulen mit dem Geld aus dem
Digitalpakt vor allem ihre Technik modernisie-
ren. Schon macht der Begriff von einer »Pseudo-
Digitalisierung« die Runde. Bestes Beispiel dafür
seien Smartboards, sagt Diethelm. Diese »komi-
schen Tafeln« unterstützten lediglich den über-
kommenen Frontalunterricht. Das Geld solle
man lieber in die Unterstützung und die Fort-
bildung der Lehrer stecken, fordert Diethelm
und schlägt vor, an jede Schule einen »medien-
pädagogischen Berater« zu schicken. Jemanden,
»der sich mit allen Aspekten des digital gestütz-
ten Unterrichts auskennt«.
Noch einfacher wäre es, den Kindern zu er-
lauben, ihre eigenen Geräte im Unterricht ein-
zusetzen. Für BYOD, bring your own device,
wirbt zum Beispiel »Lehrer Schmidt«: »Die Tech-
nik ist ja da. Jetzt ist die Frage: Wie kriege ich
Mathe in die Handys rein?« Kai Schmidt ist
Mathelehrer und Leiter einer Haupt- und Real-
schule im niedersächsischen Uelsen. Bei You-
Tube betreibt er unter dem Namen »Lehrer
Schmidt« seit viereinhalb Jahren einen Kanal mit
mehr als 240.000 Abonnenten. Dort erklärt er
»Schriftliches Dividieren« oder »Terme vereinfa-
chen«, redet aber auch darüber, ob man »Schul-
noten abschaffen« soll.
Medienkompetenz, Teilhabe und digitale
Souveränität: Darum geht es der neuen Infor-
matik. Denn längst stehen die großen IT-Marken
mit eigenen Konzepten bereit, um die Kinder an
sich zu binden. Apple, Microsoft und andere
Tech-Konzerne sponsern Bildungsprojekte und
Geräte. Google hat ein eigenes Lernsystem na-
mens Google Classroom entwickelt. Die Schulen
müssten schneller reagieren lernen, sagt auch Kai
Schmidt: »Wir müssen aufpassen, dass die Bil-
dungsaufgabe des Staates nicht an amerikanische
Großkonzerne verlagert wird. Die nutzen unsere
Langsamkeit aus.«
A http://www.zeit.deeaudio
Ohne Lehrer – im Codecamp programmieren Kinder,
was sie wollen: ZEIT Leo Kinderseite, S.52