- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 WISSEN 39
Die aktuelle Studie von More in Common
zum Download: http://www.dieandereteilung.de
Peter Glotz (1984):
Die Arbeit der Zuspitzung
Axel Honneth (1994):
Kampf um Anerkennung
Mehr zur Studie »Die andere deutsche Teilung«
Quellen finden Sie auf ZEIT Online
SOZIOLOGIE • HOCHSCHULE
Es ist
ein Traum
nicht nur von
Kindern, der in My-
then und Geschichten immer
wieder erzählt wird: unsichtbar zu
sein. Was man dann alles anstellen könn-
te! Sich vorteilhaftes Wissen verschaffen, in
Räume gelangen, die sonst verschlossen blieben, von
verbotenen Früchten naschen. In der Wirklichkeit ist
unsichtbar zu sein aber vor allem eins: ein Albtraum.
Wie leidvoll es ist, von anderen Menschen behandelt
zu werden, als wäre man Luft, nicht vorzukommen im
Leben der anderen und in der Gesellschaft, auch davon
erzählen viele Geschichten. Es ist ein peinigendes Gefühl,
das Kräfte freisetzt, im Positiven wie im Negativen.
Die lange Historie der Emanzipationsbewegungen ist die
Geschichte von Männern und Frauen, die aus dem Schatten
ins Bühnenlicht des Geschehens getreten sind und sich gesell-
schaftliche Teilhabe erfochten haben. Daneben steht die de-
struktive Variante, die Rache der Übersehenen. Die Geschich-
te wimmelt nur so von verkrachten Existenzen, die vom Rand
der Gesellschaft ins Zentrum drängen und Schrecken ver-
breiten, bis hin zu den Attentätern von heute, die sich nach
einer perversen Logik – »Ihr habt mich nicht gesehen, aber
ich sehe euch, und jetzt seid ihr dran« – kurze Momente der
Aufmerksamkeit verschaffen.
Aber auch jenseits dieser Extreme gilt: Unsichtbarkeit
wirkt auf eine Gesellschaft destabilisierend. Erst recht in
einer Demokratie – sie lebt ja davon, dass jede Stimme
zählt. Umso brisanter ist die Studie Die andere deutsche
Teilung der Initiative More in Common, die den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt in Deutschland erforscht
hat und der ZEIT exklusiv vorab vorlag. Die Wissen-
schaftler kommen zu dem Ergebnis, dass 30 Prozent
der Menschen in Deutschland »eine große Distanz
zum politischen System und ihren Mitmenschen«
empfinden. Sie seien deshalb »auf politisch-gesell-
schaftlicher Ebene kaum sichtbar«. More in
Common nennt diese Gruppe das »unsicht-
bare Drittel«. Wer dazu zählt, fühle sich weder
von der Politik der Parteien noch von zivil-
gesellschaftlichen Bewegungen angespro-
chen. »Sichtbar« sind demnach nur zwei
Drittel der Gesellschaft.
Die Zweidrittelgesellschaft: Das
ist ein altes politisches Schlagwort,
es geistert seit den Achtziger-
jahren durch die Soziologie.
Geprägt hat es der SPD-
Politiker Peter Glotz
angesichts der da-
maligen Furcht,
dass techni-
sche
Entwick-
lungen die
Arbeit eines Drit-
tels der Bürger ent-
behrlich machen und kul-
turelle Entwicklungen dieses
Drittel auch in anderen Bereichen des
Lebens abhängen könnten. Doch laut der
Studie von More in Common besteht das un-
sichtbare Drittel nicht nur aus Abgehängten. Auch
ein großer Teil der jungen Menschen mit mittlerem so-
zialen Status und sicherem Job gehört dazu.
Das Münchner Meinungsforschungsinstitut Kantar
Public, das die Studie durchgeführt hat, erhob nicht nur
harte Daten wie Einkommen, Alter, Bildungsgrad, son-
dern versuchte vor allem, die Werte der Menschen zu er-
gründen. Die Meinungsforscher haben 4001 repräsentativ
ausgewählte Personen in Deutschland dazu befragt, wie sie
den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewerten, ob sie sich
sozial eingebunden fühlen, was sie von der Zukunft und
der Politik erwarten.
Es kristallisierten sich sechs Gruppen heraus, die ähn-
lich groß sind: die Offenen (16 Prozent), denen Selbstent-
faltung, Weltbürgertum und kritisches Denken wichtig
sind; die Involvierten (17 Prozent), die über viel Bürger-
sinn verfügen; die Etablierten (17 Prozent), die zufrieden
sind mit dem Erreichten; die Pragmatischen (16 Prozent),
die sich auf ihr persönliches Vorankommen konzentrieren;
die Enttäuschten (14 Prozent), die das Gefühl haben, zu
kurz zu kommen, und die Wütenden (19 Prozent), die ein
fundamentales Misstrauen gegenüber dem System hegen.
Das unsichtbare Drittel setzt sich aus den Pragmatischen
und den Enttäuschten zusammen. Verglichen mit den an-
deren Gruppen, fühlen sie sich mit weitem Abstand am
häufigsten einsam; oft wissen sie nicht, wohin sie gehören.
Zu den Pragmatischen zählen überdurchschnittlich viele
Menschen mit Migrationshintergrund. Beide Gruppen
sind politisch desorientiert, sie tun sich schwer damit, sich
in das gängige Rechts-links-Schema einzuordnen. Und es
gehören viele junge Menschen dazu, von den 18- bis
39-Jährigen sind es 44 Prozent, das unsichtbare Drittel um-
fasst also einen wichtigen Teil der Zukunft Deutschlands.
Vielleicht wird das unsichtbare Drittel sogar einmal
ausschlaggebend sein für fundamentale Richtungsent-
scheidungen, und zwar gerade weil es politisch desorien-
tiert ist. Denn umso mehr Potenzial bietet es den Parteien
für einen Stimmenzuwachs: Die Hälfte der Nichtwähler
findet sich im unsichtbaren Drittel. Und auch die Affi-
nität zur AfD ist unter den Enttäuschten und
Pragmatischen hoch, höher ist sie nur un-
ter den Wütenden.
Bei-
des kann
sich ändern – nur
weist gerade nichts auf
eine positive Entwicklung
hin. Laut der More-in-Common-
Studie sind 70 Prozent der Menschen in
Deutschland der Meinung, dass sich das Land
in die falsche Richtung bewege. Nur jeder Zweite
ist zufrieden damit, wie die deutsche Demokratie funk-
tioniert. Dass sich in den vergangenen fünf Jahren die gesell-
schaftliche Lage verschlechtert habe, glaubt mehr als die
Hälfte. Und nur fünf Prozent rechnen mit Besserung in den
kommenden Jahren.
Dieser düstere Blick nach vorn könnte darauf hindeuten,
dass dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland
schwere Zeiten bevorstehen. Zwar sind 70 Prozent der Be-
fragten davon überzeugt, dass es wichtig wäre, eine gemein-
same Grundlage zu finden. Aber eine Mehrheit glaubt nicht,
dass dies gelingen könne angesichts der Unterschiede zwischen
den Parteien, den Weltanschauungen und den Lebensweisen
in diesem Land. Drohen also amerikanische Verhältnisse?
Unüberbrückbare Spaltungen?
Die More-in-Common-Studie legt diesen Schluss nahe
- belegen kann sie ihn nicht. Schon deshalb nicht, weil es
sich bei der Befragung um eine Momentaufnahme han-
delt. Um eine Tendenz aus den Zahlen herauszulesen,
bräuchte es Vergleichsdaten aus früheren Jahren, die aber
gibt es nicht. Das sei ein generelles Problem vieler Befra-
gungsstudien, sagt die Frankfurter Soziologin Nicole Dei-
telhoff: »Aus weichen Umfragekriterien werden relativ
harte Schlussfolgerungen gezogen.« Deitelhoff ist gerade
dabei, mit anderen ein Institut aufzubauen, das den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt systematischer untersuchen
soll, gefördert wird es vom Bundesministerium für Bildung
und Forschung. Es wird Soziologen, Politikwissenschaftler,
Historikerinnen, Juristinnen, Medienwissenschaftler und
Geografinnen aus Instituten, die quer über die Republik
verteilt sind, zusammenbringen. Ein Schwerpunkt soll die
Datenerhebung bilden, um gezielt Lücken bisheriger Stu-
dien schließen und diese besser vergleichen zu können.
Startschuss ist Mitte 2020.
Bis dahin kann man sich ein Stück weit mit der Sozialphi-
losophie behelfen. Der Philosoph Axel Honneth, bis 2018
Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt, hat
schon 1994 das gesellschaftliche Auseinanderdriften be-
schrieben und nach einer Lösung gesucht. Die Bürger
pluraler Gesellschaften, schrieb er damals, bedürften
»einer sozialen Wertschätzung, wie sie nur
auf der Basis gemeinsam geteilter
Zielset-
zungen erfol-
gen kann«. Im In-
nersten zusammen hält die
Gesellschaft demnach also nicht
Tra di tion, die als gemeinsamer Besitz de-
finiert wäre, sondern das, was gemeinsam erreicht
werden soll. Kurz gesagt: Für den gesellschaftlichen
Zusammenhalt ist Zukunft wichtiger als Herkunft.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf lassen sich
zwei schockierende Zahlen aus der More-in-Common-
Studie in Beziehung zueinander setzen, die auf den ers-
ten Blick nicht viel miteinander zu tun haben: Nur 24
Prozent der Befragten glauben, die Politik gehe »derzeit
die wichtigen Themen in Deutschland entschieden« an –
und 60 Prozent befürworten, einen Schlussstrich unter
die Verbrechen der deutschen Vergangenheit zu ziehen,
statt sich damit kritisch auseinanderzusetzen. Offenbar
müssen die Schulen und die Politiker noch besser vermit-
teln, wie wichtig gerade das dunkelste Kapitel der deut-
schen Geschichte für unser Selbstverständnis sein sollte. –
Und vielleicht fällt gerade diese kritische Beschäftigung
mit der Vergangenheit den Bürgern leichter, wenn sie das
Gefühl haben, dass die Herausforderungen der Zukunft
angepackt werden.
Vor allem beim Thema Gerechtigkeit sehen die Bür-
ger laut der More-in-Common-Studie Handlungsbe-
darf. 72 Prozent beschäftigt das Thema häufig, das sind
deutlich mehr als etwa bei der Migration (59 Prozent).
Am stärksten wird das unsichtbare Drittel von Gerech-
tigkeitsfragen umgetrieben. Faire Löhne, bezahlbarer
Wohnraum, eine höhere Besteuerung von Spitzen-
verdienern: Das wäre die Agenda des unsichtbaren
Drittels, wenn es eine hätte.
Vielleicht entwickelt sich diese ja noch. Sobald
etwa die Politik beginnt, das unsichtbare Drittel
zur Kenntnis zu nehmen – aus eigenem Interes-
se, weil eine Demokratie es sich nicht leisten
kann, 30 Prozent der Bürger außen vor zu
lassen, schon gar nicht, wenn weitere 19
Prozent bereits wüten. Sollten die Un-
sichtbaren – Pflegekräfte, Supermarkt-
Kassierer, Handyladenbesitzer –
dann beginnen, aus dem Schatten
zu treten, könnten sie die lange
Geschichte der Eman zi pa-
tions be we gung fortschrei-
ben, indem sie dafür
sorgen, dass sich die
Demokratie in
Deutschland
sozial ver-
tieft.
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Die Begriffe »links« und »rechts« sind immer noch
gültig und helfen mir, zu verstehen, was in der Politik
passiert
unsichtbares Drittel der Bevölkerung restliche Bevölkerung
»In meinem Leben bin ich meistens
auf mich allein gestellt.«
»Ich habe eher großes
Politikinteresse.«
»Die Begriffe ›links‹ und ›rechts‹ sind immer noch gültig
und helfen mir, zu verstehen, was in der Politik passiert.«
43 %
47 % 73 %
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Grafik: DZ
Geteiltes Deutschland