DIE ZEIT: Sie sind in einem armen Stadtteil von
Miami aufgewachsen, waren der Erste in Ihrer
Familie, der studierte, und haben es auf ein Elite-
College geschafft. Jetzt haben Sie darüber ein Buch
geschrieben. Was hat Sie daran interessiert, Ihren
eigenen Bildungsweg zu erforschen?
Anthony Abraham Jack: Die Schulgebühr für
meine Highschool kostete 45.000 Dollar pro Jahr.
Das war das Eineinhalbfache von
dem, was meine Mutter im Jahr
verdiente. Deshalb bekam ich ein
Stipendium, wie auch später auf
dem Elite-College. Lange dachte
ich, dieser Weg, mein Weg, wäre
einzigartig – eine Ausnahme im
System.
ZEIT: Stimmte das nicht?
Jack: Als ich nach Amherst kam,
ein renommiertes College, traf
ich viele, die aus armen Familien
über eine private Highschool ans
College gekommen waren. Sie
alle wurden durch staatliche
Förderprogramme unterstützt,
die es mittlerweile in jedem Staat
der USA gibt. Deren Zahl wächst
sogar ständig.
ZEIT: Das ist doch eine gute
Nachricht.
Jack: Sicher, wir sind die privile-
gierten Armen, wie ich sie nenne, junge Menschen,
die man auf einer privaten Highschool auf das
private College vorbereitet. Aber es gibt noch eine
zweite Gruppe, die ebenfalls aus einkommens-
schwachen Familien stammt. Sie haben keine
private, sondern eine öffentliche Schule besucht.
Und dort hat ihnen niemand beigebracht, was
man an einem Elite-College von ihnen erwartet.
Ich nenne sie die doppelt Benachteiligten.
ZEIT: Was fehlt diesen Studierenden?
Jack: Sie kennen nicht die ungeschriebenen
Regeln und ausgesprochenen Erwartungen, die an
einer Eliteeinrichtung an sie gerichtet werden.
Nur ein Beispiel: die sogenannten Bürostunden
(englisch »office hours«, Anm. d. Red.), in denen
sich die Professoren und Dozenten Zeit für eine
Sprechstunde nehmen. An Elite-Colleges wird
erwartet, dass Studenten in die-
ser Zeit den Kontakt suchen,
sich mit Dozenten vernetzen,
nach Mentoren suchen, sie um
Rat fragen. Aber den doppelt
Benachteiligten erklärt niemand,
wie, wann und warum sie das
tun sollen. Eine Dekanin erzählte
mir von Studenten, die Office
Hours so interpretierten, dass
sich Hochschullehrer in dieser
Zeit in ihr Büro zurückziehen –
und auf keinen Fall gestört wer-
den wollen.
ZEIT: So ein Missverständnis
ließe sich durch die entsprechen-
den Informationen leicht auf-
klären und beheben.
Jack: Es ist aber symptomatisch.
Diese Studenten bauen kein Netz-
werk von Menschen auf, die sich
für sie einsetzen, die ihnen Prak-
tika ermöglichen oder den ersten Job vermitteln.
Wie wichtig so ein Netzwerk ist, um im Leben vo-
ranzukommen – Studenten der Ober- und Mittel-
schicht wissen das aus ihrem Elternhaus, die privi-
legierten Armen lernen es auf privaten High-
schools. Die doppelt Benachteiligten nicht. Sie
halten Netzwerken für, nun ja, Arschkriecherei.
ZEIT: Woher kommt dieser Widerwille, nach Un-
terstützung zu fragen?
Jack: Die öffentlichen Schulen sind überfüllt und
unterfinanziert. Die Studenten haben es ans Col-
lege geschafft, weil sie gute Leistungen erbacht
haben, aber auch weil sie jedem Ärger aus dem
Weg gegangen sind. Ihre Rolle war die stille,
smarte Person aus der ersten Reihe. Aber: Nicht
unangenehm aufzufallen und bloß seine Arbeit
machen – das reicht am College nicht. Dort ist
jeder smart. Doch nicht jeder weiß, wie er aus
dieser Klugheit Kapital schlagen kann.
ZEIT: Wie könnte man das ändern?
Jack: Stellen Sie sich einen deutschen Studenten
vor, der nach Harvard kommt, am Tag bevor die
Kurse beginnen. Der hat Probleme, überhaupt das
Gebäude zu finden, in dem seine Vorlesung statt-
findet. Selbst ich verlaufe mich hier auf dem Cam-
pus noch. Wenn solche Studenten drei Wochen
vorher kämen, könnte man ihnen helfen, sich zu
orientieren.
ZEIT: Und auf solch einfache Lösungen kommen
die Universitäten nicht von selbst?
Jack: Wir sollten uns eines klarmachen: Zugang
ist nicht gleich Inklusion. Es ist gut, dass wir un-
sere Elite-Colleges für viele geöffnet haben. Aber
wir müssen Studenten, die wir aufnehmen, besser
unterstützen. Und auch dann bleiben noch hand-
feste Probleme, die wir nicht selbst lösen werden.
Das drängendste ist wohl: Ernährungsunsicher-
heit. Also, woher kommt die nächste Mahlzeit?
ZEIT: Wie bitte? An den reichsten Colleges der
Welt hungern die Studenten?
Jack: Einer von sieben Studenten in den USA hat
Probleme damit, regelmäßig etwas zu essen auf-
zutreiben, wenn während der Ferien die Mensen
schließen. Sie haben schlicht nicht das Geld, sich
woanders ein Mittagessen zu leisten. Und an den
Colleges, auch an den besten, ist es nicht vorgese-
hen, dass Studenten über die Ferien am Campus
bleiben.
ZEIT: In Deutschland leben viele Studenten im
eigenen Haushalt. Sie versorgen sich selbst. Wa-
rum kochen sich amerikanische Studenten nicht
einfach einen Teller Nudeln?
Jack: Sie leben in Wohnheimen auf dem Campus,
in denen es keine Küchen gibt. Weil die ein Brand-
risiko seien, heißt es. In den Küchen der Mensen
gibt es zwar Öfen und Kühlschränke, aber zu
denen haben die Studenten keinen Zugang.
ZEIT: Wie reagieren die Unis, wenn Sie sie damit
konfrontieren, dass ihre Studenten hungern?
Jack: Mein Buch hat einigen Verantwortlichen die
Augen geöffnet. An den renommierten Smith
College und Connecticut College haben die Men-
sen nun auch während der Ferien geöffnet.
ZEIT: Warum entschieden Sie sich, alle Studen-
ten in Ihrem Buch einem erdachten College zu-
zuordnen, mit dem ebenso ausgedachten Namen
Renommiertes College?
Jack: Ich wollte verhindern, dass es am Ende heißt,
das sei ein Problem, das nur in Yale oder in Har-
vard existiere. Dass ich ein fiktives College benut-
ze, erlaubt mir zu sagen: Das geht uns alle an.
ZEIT: Ihr Buch erschien dieses Jahr in den USA,
gerade als bekannt wurde, dass Prominente und
Reiche ihren Kindern Studienplätze an Elite-
Colleges erkauft hatten. Wäre man zynisch, würde
man sagen: ein gutes Timing.
Jack: Bei mir hat diese Geschichte alte Wunden
aufgerissen. Ich erinnere mich an Mitschüler, die
für ein Taschengeld Toiletten bei McDonalds ge-
putzt haben. Bis heute gibt es Schüler, die ihre
Essays auf Smartphones schreiben, weil sie sich
keine Computer leisten können. Und diese reichen
Leute erkaufen sich den Zugang einfach. Das ist
ein Skandal für ganz Amerika. Es hat mich per-
sönlich sehr wütend gemacht.
ZEIT: Die häufigste Emotion, die Studenten Ihnen
schildern, ist ebenfalls Wut. Nach der Lektüre
Ihres Buches ahnt man, warum. Was raten Sie
Studenten – wohin mit der Wut?
Jack: Sie empört, dass sie das Gefühl haben, ohn-
mächtig zu sein. Wann immer ich konnte, habe
ich deshalb bei unseren Begegnungen versucht,
ihrer Wut eine Richtung zu geben. Ich sagte
ihnen: Ihr seid genau wie jeder Student ein Teil
eures Colleges. Ihr habt das Recht, sogar den Auf-
trag, dafür zu sorgen, dass eure Wünsche und
Bedürfnisse gehört werden.
Das Gespräch führte Niclas Seydack
»Zugang ist
nicht gleich
Inklusion«
Der Harvard-Dozent
Anthony Abraham Jack hat
untersucht, warum sich arme
Studenten in den USA an
Elite-Colleges so schwer tun
Mittlerweile hat der Soziologe Anthony Abraham Jack, 34, eine Dozentenstelle in Harvard. Doch der Weg dahin war schwierig
HOCHSCHULE
Foto (Ausschnitt): Tony Luong
Das US-System der
höheren Bildung, das
Anthony Jack im Buch
»The Privileged Poor«
beleuchtet, unterscheidet
zwischen »colleges« und
»unversities«. Letztere
sind eher auf Forschung
ausgerichtet; sie werden
staatlich oder privat
finanziert. Vor allem die
privaten Elite-Unis
nehmen hohe Gebühren.
Bildung
in den USA
40 WISSEN 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44
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