- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 POLITIK 5
» Wir werden sie versuchen auf
der nächsten öffentlichen
Veranstaltung, niederzustechen«
Morddrohungen, Beschimpfungen, Anschläge: Das Klima vor der Landtagswahl in Thüringen ist gespenstisch. Welchen Anteil
haben die AfD und ihr Spitzenkandidat Björn Höcke daran? VON DANIEL BÖLDT UND MARTIN MACHOWECZ
D
as Besondere an politischer
Rohheit ist, wie schnell sie
zu roher Normalität wer-
den kann. Am Sonntag,
eine Woche vor der Thü-
ringer Landtagswahl, steht
Mike Mohring, der CDU-
Spitzenkandidat, in Steinbach, einem Dorf ganz
im Westen Thüringens. Er war ein paar Minuten
zuvor Zeuge, wie ein Rentner am Rande eines
Volksfests das Fernsehteam der heute-show an-
griff: Der Mann versuchte, dem Tontechniker
das Mikrofon zu entreißen, weil Politiker und
Medien, so sah es der Rentner, auf einer Kirmes
nichts zu suchen hätten. Zwei Polizisten und der
Bürgermeister mussten eingreifen.
Danach wurde Mohring von einem Betrun-
kenen angepöbelt, der ihm hinterherrief: »Moh-
ring, du hast uns die ganze Kirmes versaut!«
Schließlich fuhr Mohring ein Stück vom Fest-
gelände weg und zeichnete ein Video auf, das die
Geschichte dieses Thüringer Wahlkampfs erzählt.
Er habe eine Morddrohung erhalten, sagte
Mohring in die Kamera. Jemand habe ihm ge-
schrieben, dass er sofort seinen Wahlkampf ein-
zustellen habe, sonst werde er niedergestochen
auf einer Veranstaltung. Die Mail kam von ei-
nem Absender namens »Staatsstreichorchester«.
»Wir müssen zusammenstehen in Thürin-
gen«, sagt Mohring. »Wir dürfen keinen Platz
lassen für die, die Angst machen.«
Still, fast schleichend ist in Thüringen, im
letzten Ost-Land, das 2019 wählt, ein Klima
eingezogen, in dem Politiker anfangen, sich zu
fürchten. Dass in Deutschland die Bedrohungs-
lage, die Gefahr persönlicher Angriffe angestie-
gen ist – hier ist das kurz vor der Wahl am Sonn-
tag nicht mehr nur ein diffuses Gefühl. Hier ist
es sichtbar, erlebbar. Thüringen, das ist vielleicht
der erste Wahlkampf in einer neuen Zeit.
Fast jeder in diesem Freistaat, der eine expo-
nierte Rolle innehat, kann inzwischen Geschich-
ten von Attacken und Einschüchterungsversu-
chen erzählen, von Übergriffen und übelsten
Schmähungen aus den vergangenen Wochen.
»Wer die AfD unterstützt, der ist unser
Feind!«, sprühten Leute, die offenbar zur auto-
nomen Szene gehören, ans Wohnhaus des FDP-
Spitzenkandidaten Thomas Kemmerich.
Den Ministerpräsidenten der Linken, Bodo
Ramelow, erreichte kurz vor Wahlkampfschluss
eine Zuschrift, die endete mit: »Ramelow, Sie
nützlicher Idiot! Sie dummes, dreckiges Verräter-
schwein! FÜR EUCH DIE KUGEL!«
Dirk Adams, Spitzenkandidat der Grünen, er-
hielt eine ähnliche Mail wie Mike Mohring, ge-
zeichnet von einer »Cyber-Reichswehr«, die ihn
mit einem Messerattentat oder einer Autobombe
bedrohte, falls er nicht seine Partei verlasse.
In Pößneck wurden vor einem Auftritt Ra-
melows nach Drohungen die Wohnräume eines
41-jährigen Neonazis durchsucht. Die Beamten
fanden illegale Schusswaffen.
Seit dem Anschlag von Halle lassen sich
die Vorfälle nicht mehr ignorieren
Auch Björn Höcke, der AfD-Spitzenkandidat, er-
hielt mehrfach Morddrohungen. Zuletzt, so er-
klärte es ein Parteisprecher, sogar gegen seine Fa-
milie. Höckes Wahlkampf-Lkw wurde nächtens
angezündet und brannte komplett aus.
Wenn ein Wahlkampf kein Wettstreit politi-
scher Konzepte mehr ist, sondern eine perma-
nente Lebensgefahr – dann läuft etwas aus dem
Ruder. Hunderte Botschaften mit Bedrohungen
gegen Politiker und Funktionsträger seien in-
zwischen eingegangen, sagen Thüringer Ermitt-
ler. Nie seien flächendeckend so viele Plakate mit
Hassbotschaften bekritzelt worden.
Früher hätte man all das womöglich abgetan, zu
ignorieren versucht. Aber seit dem Anschlag auf die
jüdische Gemeinde von Halle in Thüringens Nach-
barland Sachsen-Anhalt geht das nicht mehr. Alle
Sicherheitsbehörden sind alarmiert: Wird der täg-
lich radikalere Ton allmählich Grundlage für Taten?
In Gera steht ein Mann auf der Bühne, mit
ernstem Blick, und warnt vor dem Verfall der
Sitten. »Wir haben es mit einer totalen Ver-
rohung unserer Gesellschaft zu tun«, sagt der
Mann. »Diese totale Verrohung unserer Gesell-
schaft ist eben nicht das Ergebnis eines Kometen-
einschlages. Sie ist kein Naturereignis. Nein: Sie
ist von Menschen gewollt, von Menschen in
konkrete Politik übersetzt worden und damit
von Menschen zu verantworten.«
Das Mann auf der Bühne ist Björn Höcke,
und er will nach der Landtagswahl, so sagt er es in
derselben Rede, »diese Ganoven da oben« von der
Regierungs- auf die Anklagebank bringen.
Höcke ist der Mann zwischen den Welten,
eine Art Scharniergestalt, derjenige, an dem sich
am besten zeigen lässt, was in Deutschland gerade
geschieht.
Höcke redet von Ramelow
als »Inschallah-Bodo«
Einerseits ist er derjenige, der selbst unbestreitbar
Zielscheibe ist von politischer Rohheit und Be-
drohung.
Andererseits gehört er als Anführer des ex-
trem rechten »Flügels« der AfD aber auch zu ih-
ren größten Beförderern. Die Verrohung des
Umgangstons ist auch sein Werk. Max Pri vo-
rozki, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde
Halle, sagt nach dem Anschlag auf seine Synago-
ge, dass zwar Höcke persönlich nichts mit den
Angriffen zu tun habe. Dass aber der Ton, den
Höcke setze, eine Zutat sei für Taten wie die, die
er miterleben musste. Die AfD müsse sich von
der »Hassideologie« distanzieren.
Schadet diese Debatte Höcke? Ihm, der vom
Holocaust-Mahnmal als »Denkmal der Schan-
de« sprach; eine »erinnerungspolitische Wende
um 180 Grad« in Bezug auf die NS-Zeit forder-
te? Schadet ihm das jetzt bei den Wählern?
Der vorige Sonntag, in Ilmenau: Einige Hun-
dert Menschen auf dem Marktplatz, Höcke steht
auf der Bühne, er ist fast nicht zu verstehen. Wie
bei all seinen Auftritten haben sich auch Hunderte
Gegendemonstranten versammelt, sie halten Schil-
der hoch, auf denen steht: »AfD ist so 1933«. Sie
brüllen und trillern, sie wollen Höckes Rede stören,
sie befeuern ihn damit natürlich auch.
Vor Höckes Bühne sitzt auf einer Bank: ein
Ehepaar, wie es sympathischer nicht ausschauen
könnte. Mitte 60, gut gekleidet.
Der Mann heißt Reinhard, der Name der
Frau soll nicht in die Zeitung, der Nachname
auch nicht. Was erhoffen Sie sich von Höcke?
»Ihre Frage hat schon eine Tendenz«, sagt er.
»Er spricht, im Gegensatz zu anderen Parteien,
viele Probleme offen an, zum Beispiel in der Mi-
grationspolitik.« Stört es Sie, dass er so radikal ist?
»Es wäre schon gut«, sagt er, »wenn die AfD
sich von den Radikalen stärker distanzieren wür-
de. Aber ich besuche jetzt Höckes zweiten Wahl-
kampfauftritt. Er hat mich überrascht. Er sagt
Dinge, die viele bewegen.« Die Gegendemons-
tranten aber hätten in seine Richtung den Stinke-
finger gezeigt. Wer berichte darüber?
Der Mann sagt: Er wähle die AfD nicht wegen,
sondern eher trotz Höcke. Aber er wähle sie wohl.
Die Thüringer AfD-Wähler ticken, offenbar,
überwiegend wie dieses Ehepaar. Höckes Beliebt-
heitswerte sind unterirdisch. Nur sechs Prozent
der Thüringer hätten ihn gerne als Ministerprä-
sidenten – bei mehr als 20 Prozent der Bürger,
die AfD wählen würden. Auf einer Beliebtheits-
skala der Forschungsgruppe Wahlen, die von
plus fünf bis minus fünf Punkten reicht, liegt
Höcke bei minus 3,5. Aber an seiner Partei bleibt
nichts kleben. Nur ein Institut maß nach dem
Anschlag von Halle einen Einbruch der AfD-
Werte in Thüringen, von 25 auf 20 Prozent.
Es gibt Menschen in der AfD, die sagen: Dass
der Partei nichts schade, was Höcke tue – das sei
der Beweis für ihre vollständige Etablierung. Es
sei egal, was ihre Vertreter sagen. Die AfD sei
größer als jeder Funktionär.
Bei Höckes Auftritten, in Nordhausen, Gera
oder Ilmenau, lässt sich das beobachten. Er redet
von »Multikriminalisierung« und von »Afrikani-
sierung«, von Ramelow als »Inschallah-Bodo«,
von der »totalen Gleichschaltung« und vom
»Gesinnungsstaat« Deutschland, und das Publikum
klatscht, wie man klatscht, wenn ein Theaterstück
okay war. Das ist das eigentlich Bemerkenswerte
hier, es gibt keine Ekstase, keinen Furor, nur freund-
lichen Beifall. Das ist eben: rohe Normalität.
In Ilmenau stehen nach Höckes Rede zwei Men-
schen am Ausgang, die freundlich aussehen, er mit
langen Locken und Lederjacke, sie mit blondem
Haar und freundlichem Lächeln. Auch sie wollen
nur die Vornamen verraten. André, 42, und Anke,
36, aus Gera. Befördert Höcke ein Klima der Ge-
walt? »So ein Quatsch«, sagt er. »Dann wäre Rame-
low ja auch für das da drüben verantwortlich.« (Er
zeigt in Richtung der Gegendemonstranten.) André
sagt auch: »Höcke ist nicht radikal. Er spricht an,
was ist.« Dann redet André davon, dass der 1. Mai
in Berlin auch niemanden empöre, er redet von
Rentnern, die vor Flüchtlingsheimen Pfandflaschen
sammeln müssten. Und davon, dass man den Fern-
seher einschalte und dort laufe: Hitler, Hitler, Hit-
ler. Der Höcke thematisiere das eben.
Nur manchmal trifft man jene, die ins Zweifeln
kommen. Detlef Rauch, 56 Jahre, verrät sogar sei-
nen ganzen Namen, er schaut sich in Rudolstadt
Höckes Auftritt an, weit hinten in den Reihen
steht er.
Warum er AfD-Wähler geworden sei? Rauch
sagt, er wolle Deutschland als souveränen National-
staat erhalten, illegale Einreisen verhindern. Die
AfD sei die einzige Partei, die ihm das garantiere.
Er habe einst für die Treuhand gearbeitet, er sei
früher in der CDU gewesen, seit 2017 wähle er
AfD. »Ich glaube nicht, dass Höcke alles so meint,
wie er es sagt«, sagt er. »Aber ich wünschte mir auch
einen anderen da vorne.«
Trotzdem werde er AfD wählen am 27. Oktober.
Was denn sonst. Höcke hin oder her.
A http://www.zeit.deeaudio
- ORIGINALZITAT AUS EINER ANONYMEN E-MAIL AN CDU-SPITZENKANDIDAT MIKE MOHRING
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