- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 FEUILLETON 55
M
an dachte ja, der orkanartige Streit
um den Literaturnobelpreis für Pe-
ter Handke würde nun allmählich
abflauen. Doch seit Günter Grass’ verzwiebel-
tem SS-Bekenntnis vor auch schon wieder 13
Jahren hat keine Diskussion die Literaturwelt
derart aufgewühlt wie die jetzige, nochmalige
um Handke und dessen proserbisches En-
gagement in den Balkankriegen der 1990er-
Jahre. Jetzt hat der Schriftsteller Thomas
Melle in der Frankfurter Allgemeinen Sonn-
tagszeitung unter der Überschrift »Clowns auf
Hetzjagd« eine wuchtige Kritik am Debatten-
stil veröffentlicht und dabei einen Protago-
nisten, seinen zwei Jahre jüngeren Kollegen
Saša Stanišić, scharf attackiert. Er mokiert
sich über dessen »niedliche Selbstinszenierun-
gen« auf Twitter, inklusive Grippeerkrankung
und Fotos von bunten Socken, denn: »Das
menschelnde Element darf nicht fehlen, um
die faktische Verdammung des Feindes von
einem weichgezeichneten Standort aus ge-
schehen zu lassen.« Der Feind ist Handke;
Stanišić hatte die Preisvergabe an ihn in einer
mehrtägigen Tweetkaskade heftig kritisiert
(»er zetert regelrecht«); vier Tage später be-
kam er selbst den Deutschen Buchpreis. Sta-
nišić’ eindringliche Dankrede wiederum ste-
he »ganz im Gegensatz zu seinem bisherigen
Auftreten«, so Melle: »Hier spricht plötzlich
das echte, entkommene Leben. Es ist ein
nicht ganz lauterer Move, aber unantastbar,
und die Rede ist stimmig und gut.«
Der 1975 geborene Melle gehört zu den
wichtigen Autoren seiner Generation, 2016
wurde er für den autofiktionalen Roman Die
Welt im Rücken über seine Bipolarität gefeiert.
Minutiös zeichnet Melle jetzt nach, wie die
Debatte via Twitter und sozialer Medien ex-
plodierte: »Das Tempo diktiert die Fragmen-
tarisierung, es muss fetzen.« Und natürlich:
»Die Literatur des Nobelpreisträgers kommt
überhaupt nicht mehr vor.« Mit dabei in
Melles Panoptikum der Eskalierer ist neben
Stanišić unter anderem die Autorin und Spiegel
Online-Kolumnistin Margarete Stokowski,
deren Handke-Kommentar gegen die Tren-
nung von Werk und Autor unter der Hate-
Speech-Überschrift »Perfide Mülltrennung«
stand, und die Schauspielerin Mateja Meded,
die in Clownsgestalt in einem peinlichen
Handke-Debatten-Video auftrat.
Allerdings nennt Melle niemanden beim
Namen, er anonymisiert die durchaus erkenn-
baren Personen konsequent. Das ist sein Clou,
denn er zielt anhand des Handke-Falles weit
über den Literaturbetrieb hinaus: »Twitter, das
den Puls der Meinungsmacher vorgibt, richtet
die Inhalte einfach auf diese Weise zu, forma-
tiert sie in toxische Fetzen und süffisante
Häppchen.« Das Medium erzeuge »eine Atmo-
sphäre der Intellektuellenfeindlichkeit«, mit
fatalem Hang »zum Ausschluss, zur Identität
und zur Aburteilung« – und selbst jene, die
sich gegen rechten Hass positionierten, wür-
den bisweilen dem »Reiz des virtuellen Schau-
prozesses« nachgeben. Also wieder nur tech-
nikskeptische Kulturkritik? Keineswegs: Die
Mechanismen des jungen Mediums Twitter
werden von Thomas Melle demaskiert. Seit
Enzensberger 1957 mit dem Spiegel ein eben-
falls sehr junges Medium kritisierte, hat kein
deutscher Autor mehr solch scharfe Medien-
kritik formuliert. ALEXANDER CAMMANN
Schauprozess mit
bunten Socken?
Der Autor Thomas Melle kritisiert
den Stil der Handke-Debatte
LITERATUR
FESTSCHRIFT
Mit Sigi in die Unterwelt
Mit einer Festschrift erweisen 35 Autoren dem wegen sexueller Nötigung verurteilten Siegfried Mauser die Ehre –
darunter Peter Sloterdijk, Michael Krüger und Wolfgang Rihm. Ist das eine gute Idee? VON CHRISTINE LEMKE-MATWEY
E
s wäre kinderleicht gewesen, dem Pianisten,
Musikwissenschaftler und intellektuellen
G’schaftlhuber Siegfried Mauser den Bären-
dienst einer solchen Festschrift zum 65. Ge-
burtstag nicht zu erweisen. Dass dies nun ge-
schieht, ist ein Desaster: für die Bärendienst-
leistenden, weil ihr Misstrauen gegenüber
dem »Zeitgeist« (#MeToo) sie offenbar darin
bestärkt, an unserer Rechtsprechung Zwei-
fel anzumelden. Und für Mauser, weil die
Veröffentlichung zum jetzigen Zeitpunkt
eine Trennung von Werk und Person in
Stein meißelt, die seine Lebensleistung ad
absurdum führt. Glaubt man der Mehr-
zahl der Gratulanten, dann besteht diese
nämlich in der Überwindung herkömm-
licher Hierarchien und Gegensätze, in der
Musik wie in seinem »alle konventionellen
Manieren sprengenden« Leben als Lehrer
und Vermittler. Warum sollte ausgerech-
net für Werk und Person also etwas ande-
res gelten?
Am 9. Oktober wurde Siegfried Mauser
- bis 2014 Rektor der Münchner Musik-
hochschule – vom Bundesgerichtshof zu
zwei Jahren und neun Monaten Haft ver-
urteilt. Das BGH folgte hier einem Urteil
des Münchner Landgerichts vom Mai 2018.
Es gilt somit als erwiesen, dass Mauser der
dreifachen sexuellen Nötigung einer Sän-
gerin schuldig ist, die sich bei ihm um eine
Stelle an der Münchner Hochschule bewor-
ben hatte. Vom Vorwurf der Vergewaltigung
war er in einem zweiten Fall freigesprochen
worden, die sexuelle Nötigung einer Profes-
sorin wiederum hatte ihm bereits im April
2017 eine Freiheitsstrafe von neun Monaten
eingetragen. Die libertinäre Biografie eines
Unbescholtenen sieht anders aus.
Das letzte Datum ist insofern pikant, als
es sich mit den ersten Vorbereitungen zur
Mauser-Festschrift decken dürfte. Weder der
Verlag Königshausen & Neumann noch die
drei Herausgeber Dieter Borchmeyer, Susan-
ne Popp und Wolfram Steinbeck, noch die
35 Beiträgerinnen und Beiträger konnten
damals ahnen, welche Ausmaße der Fall
Mauser annehmen würde. Hätte es an ihrer
Haltung etwas geändert? Nein. Schon die
ersten Vorwürfe gegen Mauser konterten
Borchmeyer, Michael Krüger, Hans Magnus
Enzensberger und andere 2016 mit einer
Leserbriefaktion in der Süddeutschen Zeitung,
in der sie die mutmaßlichen Opfer als »tü-
ckische Tellerminen« diffamierten und
Mauser als tadellose Persönlichkeit beschrie-
ben. Bei dieser Linie blieb es, ganz gleich,
welches Urteil in welcher Instanz in den
folgenden dreieinhalb Jahren gefällt wurde.
An Mauser, so die Überzeugung, sollte ein
Exempel statuiert werden. Die Festschrift setzt
hinter all das ein Ausrufezeichen. Im Gegensatz
zu Borchmeyer und Krüger (beide ehemaliger
Präsident der Bayerischen Akademie der Schö-
nen Künste, deren Musikabteilung Mauser bis
2016 leitete) gehört Enzensberger übrigens nicht
zu den Laudatoren.
Dabei ist es nicht die Tatsache einer Fest-
schrift, die Empörung verdient. Sicher spielt
Siegfried Mauser nicht schlechter Klavier oder
schreibt keine dümmeren Aufsätze über Mo-
zarts g-Moll-Sinfonie, nur weil er seinen Testos-
teronspiegel nicht im Griff hat. Als »Künstler-
gelehrter«, als praktizierender wie reflektieren-
der Musiker genießt er in der Branche zudem
ein Alleinstellungsmerkmal. Diesen Spagat
wagen wenige – was nicht heißt, dass Mauser
in jeder einzelnen Dis zi plin bedeutend wäre.
Dafür ist er zu sehr Getriebener seiner selbst,
tanzt auf zu vielen Hochzeiten. Trotzdem muss
man ihn würdigen dürfen, wenn es einen als
Freund oder Wegbegleiter denn dazu drängte.
Was vielmehr empört, ist der verschwie-
melte Ton einzelner Aufsätze und der Zeit-
punkt des Ganzen. Knapp vier Wochen liegen
zwischen dem BGH-Urteil und dem Erschei-
nen von Musik verstehen – Musik interpretie-
ren, und wenn Verlag und Herausgeber je da-
rüber nachgedacht haben sollten, das Ganze
zu verschieben (auf Mausers 70. oder auf ein
beliebiges Datum nach seiner Haftentlas-
sung), dann wurde das hurtig wieder verwor-
fen. Weil man sich von der Justiz nicht in die
Knie zwingen lassen will, im Sinne einer geis-
tigen Gegengerichtlichkeit? Oder weil, siehe
oben, Kunst und Künstler radikal von ein an-
der zu trennen sind?
Siegfried Mauser wird seine Haft wohl
noch in diesem Jahr antreten. Der Plan der
Verteidigung, beim Bundesverfassungsgericht
Klage einzureichen, ändert daran (vorerst)
nichts, auch die makabre Idee eines Gnaden-
gesuchs scheint vom Tisch. Ebenso wurde
die für den 17. November in Karlsruhe anbe-
raumte feierliche Präsentation der Festschrift
storniert. An der dortigen Hochschule für
Gestaltung unterrichten unter anderem der
Komponist Wolfgang Rihm und der Philo-
soph Peter Sloterdijk regelmäßig. Beide fin-
den sich auch in der Festschrift wieder. Rihm
mit einem Klavierstück von 2018, das den
ironisch-subversiven Titel Solitudo (Intermez-
zo für Sigi) trägt und vielsagend große Pausen
schreibt. Und Sloterdijk mit einem Essay, der
von den »Einbrechern im Haus der Kunst«
handelt, deren Wille zur »Wahrheit« alles
Künstlerische am Ende »leer, aber ehrlich,
aus der Hand ihres Schöpfers« hervorgehen
lässt. Schwer, das nicht auf Siegfried Mauser
zu münzen.
Überhaupt tritt man während der Lektüre
der 468-seitigen Festschrift selbst auf etliche
»Tellerminen«. Etwa wenn in dem durchaus
unterhaltsamen, kontroversen Gespräch, das
Susanne Popp mit Wolfgang Rihm geführt hat,
notorisch von »unserem Sigi Mauser« die Rede
ist; wenn Nike Wagner über ihren Vorfahren
Franz Liszt schreibt, sie wolle diesen nicht »als
guten Menschen, sondern als Musiker«
feiern; oder wenn der Münchner Komponist
Wilfried Hiller dem Jubilar aus seinem Buch
der Sterne für Klavier das Tierkreiszeichen
Scorpius widmet (Mauser hat am 3. Novem-
ber Geburtstag) und den Skorpion im Nach-
satz als »Wächter des Unterwelttores« cha-
rakterisiert. Einiges, wie das Hiller-Stück,
ist lange vor der Festschrift entstanden und
liest sich im Licht der Ereignisse wie ein un-
freiwilliger Kommentar. Illusionen über
Mausers Mannsbild-Gehabe und macht-
missbräuchliche Allüren aber dürfte es schon
damals keine gegeben haben.
Die allermeisten Aufsätze des Bandes
sind Originalbeiträge, das heißt, die Auto-
ren wussten, worauf sie sich einließen,
und nahmen es entweder billigend in
Kauf, einem Verbrecher die Ehre zu er-
weisen, oder konnten und wollten sich
Mauser als solchen nicht vorstellen. Viel-
leicht schrieben sie auch aus purer Ver-
zweiflung gegen das heraufziehende Un-
heil an. Einem Freund in Not die Treue zu
halten ist nicht ehrenrührig. Ehrenrührig
ist, dessen Fehlverhalten nicht zu akzep-
tieren, nur weil der liebe »Sigi« so etwas
nie tun würde – und man selbst nie von
ihm abhängig war. 2016 wusste Dieter
Borchmeyer das noch, als er in seinem
Leserbrief bemerkte, jede wirklich krimi-
nelle Tat werde durch Mausers Lebensleis-
tung »schwerlich« aufgewogen. Und heute?
Vor diesem Hintergrund schlägt das
Vorwort dem Fass den Boden aus. Dabei
hätten wenige Sätze genügt. Sätze, die Mau-
sers Verurteilung benennen, sich von seinen
Taten und dem dazugehörigen gesellschaft-
lichen Klima distanzieren und ansonsten
klug darauf bauen, dass es der Wahrneh-
mung nicht etwa abträglich ist, sondern
hilft, zu wissen, wer hinter dieser CD-
Einspielung oder jener wissenschaftlichen
Analyse steht. Stattdessen treten die Heraus-
geber die Flucht nach vorn an, und einige
ihrer Formulierungen muss man sich auf
der Zunge zergehen lassen, so hanebüchen,
ja zynisch klingen sie: für Mausers Opfer
allemal, aber auch für diejenigen, die sich
durch #MeToo – allen ideologischen Aus-
wüchsen zum Trotz – ein respektvolleres,
machtfreieres Mit ein an der erhoffen. Mauser,
dieser »Charismatiker«, heißt es da schwärme-
risch, bezwinge »auf der zwischenmenschlichen
Ebene« durch eine »jegliches ›repräsentative‹
Gebaren für sich selber verwerfende Kom -
munikationsbereitschaft und Herzlichkeit«.
Diese indes sei ihm nicht immer nur gedankt
worden, ja sein »bisweilen die Grenzen der
›bien séance‹ überschreitender weltumarmender
Eros« habe für ihn gar »schwerwiegende recht-
liche Folgen« gehabt.
»Bienséance«? »Weltumarmender Eros«?
Wenn es die Absicht dieser Festschrift war,
Mausers Werk vor seiner Person zu schützen,
dann ist das krachend schiefgegangen.
Foto (Ausschnitt): Isolde Ohlbaum/laif
Dieter Borchmeyer,
Susanne Popp,
Wolfram Steinbeck
(Hrsg.):
Musik verstehen –
Musik inter-
pretieren.
Königshausen &
Neumann,
Würzburg 2019;
468 S., 78,– €
Weltumspannender Eros? Der Pianist und Musikwissenschaftler Siegfried Mauser
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