Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

D


ie Atmosphäre erinnert an ein Ge-
meindefest, wenn vor der Donau-
eschinger Sporthalle am immer
gleichen Wurststand die immer
gleichen Leute zusammenkommen
und über die immer gleichen Themen sprechen.
Die Szene der Neuen Musik ist zwar klein, nach
Donaueschingen aber fahren sie alle – auf der Su-
che nach Innovation und Überraschungen und ir-
gendwie doch auch nach einer Bestätigung dessen,
was man immer schon zu wissen glaubte: dass es
trotz ästhetischer Entgrenzung und Regelspren-
gung gute Musik und schlechte Musik gebe, dass
das eine Existenzberechtigung habe und das andere
nicht und dass man A von B wie Schwarz von Weiß
unterscheiden könne.
Genau das jedoch stellten die Donaueschinger
Musiktage dieses Jahr ganz unglamourös infrage.
Das erste der sieben Uraufführungskonzerte im
Hauptprogramm nämlich gestaltete nicht der In-
tendant Björn Gottstein, sondern eine künstliche
Intelligenz mit Namen CurAItor. Die Musik, mit
der das Programm trainiert wurde, stammte paritä-
tisch von Komponistinnen und Komponisten – ins-
gesamt 100 exemplarische Klavierstücke Neuer
Musik (und zusätzlich ein paar Stücke aus früheren
Epochen). Auf dieser Grundlage bewertete der
Computer die für Donaueschingen eingesandten
Kompositionen und schlug die drei »besten« für das


Konzert vor – zwei Werke von Männern, eines von
einer Frau. Überrascht sei er gewesen, erzählt Gott-
stein: »Ich hätte wahrscheinlich, bis auf eines, an-
dere Stücke ausgewählt.« Was nicht heiße, dass er
die KI-kuratierten Werke nicht für gut halte. Der
Pianist Joseph Houston jedenfalls spielte jedes
einzelne atemberaubend virtuos und durchschei-
nend, die vertrackt-rhythmischen Akkordcluster in
Patricia Martínez’ Outside genauso wie die kaum
wahrnehmbaren klanglich präparierten Nuancen
in Andrés Guadarramas Colotomy.
Mit diesem Konzert hat Gottstein nicht nur
seine Arbeit als Kurator und Intendant hinterfragt,
sondern einiges mehr: In fast jedem Konzert ging es
fortan, zumindest zwischen den Zeilen, um die Ka-
tegorien, nach denen Menschen Musik und Musiker
beurteilen oder beurteilt haben. Die Menschen, das
sind in diesem Fall die rund 10.000 Besucher vor
Ort, die Zuhörer an Radio, Computer und Fernseher
und die Musikerinnen und Musiker, die Sonntag-
abend den Träger des diesjährigen Orchesterpreises
verkündeten: den dänischen Komponisten Simon
Steen-Andersen (in Donaueschingen kein Unbe-
kannter). Interessanterweise widmet sich gerade sein
Stück Tr i o für Orchester, Big Band, Chor und Video
dem klassischen Selbstverständnis der europäischen
Musiktradition – und überzeichnet es krass.
Im Video sieht man berühmte Maestri des SWR
in Konzert- und Probensituationen, allesamt Männer,

die wissen, wie es zu klingen hat. Unter ihnen der
junge und der alte Sergiu Celibidache, Carlos Kleiber,
Ferenc Fricsay und Michael Gielen, vor ihnen die
Partituren von Berlioz’ Rácóczy-Marsch, Strawinskys
Feuervogel und Strauss’ Till Eulenspiegel. Musik von
Männern für Männer? Steen-Andersen reißt die
einzelnen Sequenzen in Fetzen und montiert sie neu,
oft verkürzt bis ins Absurde und virtuos rhythmisiert,
im ständigen Echo-Wechsel mit den Live-Ensembles.
So frei oder unfrei ist man heute also vor dem Hin-
tergrund einer gigantischen Historie medial verfüg-
barer Musik. Vordergründig ist dieses Name- und
Face-Dropping ziemlich witzig, beim Verlassen des
Konzertsaals beschleichen einen aber doch Zweifel.
Vor zwei Jahren hatte Gottstein die Rolle der Frau
in der Neuen Musik thematisiert. Sein erklärtes Ziel
war die Förderung von Komponistinnen. 2019

jedoch liegt der Anteil nach wie vor bei einem ma-
geren Drittel, an den Dirigentenpulten stehen so-
wieso ausschließlich Männer. »Ich spüre selbst, dass
es irgendwie eingerastet ist«, sagt Gottstein. Er frage
zwar immer zuerst Frauen und somit insgesamt mehr
Frauen als Männer an, ob sie für Donaueschingen
etwas komponieren wollen. »Das Problem ist, dass
die wenigen Frauen, die in dieser Liga unterwegs
sind, unglaublich gefragt sind.« In ihren Termin-
kalendern hätten die Musiktage oft einfach keinen
Platz. Ernsthaft? Die Frage ist genau die, die das
Festival selbst stellt: Wie definiert man die »Liga«, in
der für Donaueschingen komponiert werden kann
und darf und in der notorisch zu wenige Frauen mit-
spielen – und wer definiert sie eigentlich? Am Ende
flimmern durch unsere Köpfe dieselben Bilder und
Namen wie in Steen-Andersens Video-Potpourri –

und machen es den Entscheidern des Musikmarktes
leicht, aufs Immergleiche, Verlässliche zu setzen. Der
Mann in der Neuen Musik ist selbstverständlich, die
Frau ist es nicht.
Nicole Lizée, Nina Šenk, Eva Reiter und Lidia
Zielińska heißen die Komponistinnen, die vom
SWR Kompositionsaufträge für das Hauptpro-
gramm erhalten hatten. Im Abschlusskonzert gab
Eva Reiter ein starkes Statement ab, als sie den
Orchestermusikern kurzerhand alle Instrumente
wegnahm. Statt auf Geige, Oboe oder Tuba spielte
das Ensemble nun auf PVC-Rohren, stehend, die
längeren oder kürzeren Varianten in der Luft ru-
dernd, pustend und summend, dazu Drumset,
eine verstärkte Querflöte und zwei riesige Paetzold-
Flöten, von denen Eva Reiter selbst eine betätigte.
Der Klang, der in diesem Zusammenspiel ent-
stand, rauschte, sang, flirrte und dröhnte und ent-
wickelte so eine ungeheure analoge Direktheit –
inmitten der motivisch variantenreichen und
fein-konsequenten, strengen kompositorischen
Arbeit. Ob nun jedes Stück, das für Orchester
komponiert sei, tatsächlich auch Orchestermusik
sei, wurde in der Laudatio auf Steen-Andersen
gefragt, und im Publikum lachte man, als sei die
Antwort sonnenklar. Doch das ist sie nicht, und
das ist gut. Die zeitgenössische Musik braucht viel
mehr solcher Fragen. Und grundsätzlich mehr
ehrliche Antworten.


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 FEUILLETON 57


Neue Musik,


alte Männer


Das Donaueschinger Festival setzte auf künstliche Intelligenz,


aber immer noch zu wenig auf Frauen VON HANNAH SCHMIDT


»Performative Installation im Schwimmbad
für Trompete, Unterwasserklang und
verschwommene Aktionen« von Kirsten Reese

Foto (Ausschnitt): Ralf Brunner/SWR

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Tel. +493691256219 — [email protected]
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WIEN — Theater in der Josefstadt — Sa, So 19:30, So 15:00 Toulouse, Fr 19:30
Die Strudlhofstiege — Tel. (00 43-1) 4 27 00 300
WIEN — Volkstheater Wien — So 15:00 Die Merowinger oder Die totale Familie,
Mo 19:30 Der gute Mensch von Sezuan, Di 19:30 Biedermann und die Brandstifter,
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Quintett), Do 18:00 Ohrenschmaus (Die Bucheckern lesen Geschichten) —
Tel. 0209/9882282 — http://www.consoltheater.de

GELSENKIRCHEN — Musiktheater im Revier — GROSSES HAUS:
Sa 19:30, Fr 18:00 Frankenstein (Sa Premiere, So 17.30 mit Einführung), Schwanda
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