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ENTDECKEN
»Der Deckel ist überhaupt das größte Verbrechen
am Coffee-to-go-Becher – in ökologischer, aber auch
in ästhetischer Hinsicht«
eine Mutter hat mir zum Geburtstag einen
Kaffeebecher geschenkt. Er ist so groß wie
eine Tulpenvase und hat einen Deckel mit
Nuckelloch. »Weil du doch Coffee-to-go-
Becher nicht magst«, sagte sie vorsichtig.
»Aber das IST ein Coffee-to-go-Becher«,
antwortete ich. »Ja – aber zum Immer-
wieder-Benutzen und aus nachwachsen-
dem Bambus«, entgegnete sie.
Ich drehte den Bambus-Cup in mei-
ner Hand. »Be happy« stand darauf. Ich
unterdrückte einen Seufzer. Genau das
brachte mein Problem auf den Punkt.
Von dem Becher gingen unangenehme
Imperative aus: Sauf dich glücklich! Rette
das Klima! Sei eine gute Konsumentin!
»Danke, Mama«, sagte ich pflichtschuldig.
Seitdem steht das Vieh in meinem Küchen-
schrank und konfrontiert mich mit der
Frage, wie es diese hässlichen Riesenpötte
geschafft haben, dass sie neuer dings nicht
nur von Öko-Hipstern, sondern von
Hinz und Kunz durch die Gegend ge-
schleppt werden.
Wenn man bei Instagram das Wort
»Mehrwegbecher« eingibt, sieht man schö-
ne Influencerinnen ihre bunten Kaffee-
näpfe ins Selfie halten, als wären es Öko-
Pokale. Bundestagsabgeordnete, Kommu-
nalangestellte, sogar Polizeibeamte grinsen
damit stolz in die Kameras und feiern sich
und ihr moralisch korrektes Trinken. Bei
Amazon gibt es Thermobecher, Bambus-
becher, Keramikbecher. Mit Mustern,
Sprüchen, Korkmanschetten. Das ganze
Land ist mittlerweile durchzogen von Alli-
anzen pro Mehrweg: Fast jede Stadt-
verwaltung bringt eigene Pfand becher auf
den Weg, in denen der brave Bürger seinen
»Hannoccino« im »FreiburgCup« (»Just
swap it«) herumtragen darf. Studierenden-
werke, Versicherungskonzerne, Mensen
sind eingestiegen ins Geschäft mit den
Öko-Cups. Die Deutsche Umwelthilfe
sucht schon seit Jahren »Becherhelden«
und will zum Nachfüllen motivieren. Wo-
hin ich auch gehe, soll ich einen Kaffee
mitnehmen. Will ich aber nicht. Nicht
mehr jedenfalls.
Ich erinnere mich noch an meinen ers-
ten Coffee to go. Ich trank ihn vor zehn
Jahren in Chicago, auf meiner ersten Reise
in die USA. Als ich die Stufen des U-Bahn-
Schachts hinaufstieg, war es, als beträte ich
eine andere, irgendwie größere, glitzerndere
Welt. Die Spiegel der Fassaden, die weiten
Avenues, die eiligen Menschen. Ich stand
allein im Schneeflockenwirbel eines De-
zembertages und beobachtete, wie man zu
sein hat in der Neuen Welt.
Und da sah ich sie, die zahllosen Men-
schen mit ihren zahllosen Deckelbechern.
Wie sie als Hand- und Seelenwärmer von
den urbanen Leistungsträgern an mir vor-
beigeschleppt wurden, als wäre die kalte
Straße deren Kaffeebar. Ein portabler
Napf, darin der nach Zimtflavour duftende
Herzbeschleuniger, das war hier der Treib-
stoff, in dieser hämmernden Welt. Er ver-
sprach: Du kannst machen, was du willst,
sein, wer du willst, du kannst gehen, wohin
du willst – und dabei jederzeit ein Käff-
chen trinken.
Diese Verheißung verfing bei mir so-
fort. Als ich kurz darauf mit meinem Be-
cher aus der Starbucks-Filiale heraustrat,
war es genau so, wie ich es mir vorgestellt
hatte: Ich tauchte ein in die Menschen-
Time to go
VON GRETA TAUBERT
Foto: Philotheus Nisch für DIE ZEIT
massen (allerdings mit erhöhter Konzen-
tration, man muss diesen Ba lance akt mit
dem Becher ja erst üben), zog mit dem
Kaffee durch die aufregend fremden Stra-
ßen (allerdings mit einem riesigen Kaffee-
fleck auf dem Mantel, weil das Scheitern
zum Üben dazugehört) und sog die große
Freiheit durch ein kleines Loch in einem
Plastikdeckel. Ich war in Chicago, Mann!
Es war wunderbar.
Inzwischen hat sich der Coffee-to-
go-Becher längst zum symbolträchtigen
Accessoire einer gehetzten Gesellschaft ent-
wickelt. Wer ihn vor sich herträgt, si gna li-
siert wortlos, dass er zum Frühstücken
keine Zeit hat, weil ihm wichtige Termine
bevorstehen, bei denen er wach und fit sein
muss. Er muss sich dopen, aufputschen,
hochbringen. Bis Ende des Jahres 2003
galt Koffein der Anti-Doping-Agentur
noch als verbotenes Stimulans im Sport
und wurde auf der Dopingliste aufgeführt.
Angeblich spricht es im Hirn die gleichen
Regionen an wie Kokain und ist damit die
ideale Kapitalismusdroge.
Kaffee unterwegs, das heißt entspan-
nen und beschleunigen, frühstücken und
zur Arbeit fahren, genießen und abliefern.
Alles gleichzeitig schaffen, alles haben
können – das große Versprechen in jedem
kleinen Americano zum Mitnehmen.
Mit 164 Litern pro Jahr ist Kaffee das
beliebteste Getränk der Deutschen – noch
vor Bier und Mineralwasser. Und der
Deutsche Kaffeeverband hat gezählt, dass
inzwischen jede vierte Tasse Kaffee außer
Haus getrunken wird. Laut Kaffeekompass
2014/15 werden die meisten von ihnen
aus Getränkeautomaten gezogen oder in
Stehcafés und Tankstellen gekauft – den
vielleicht schnödesten Orten für ein so
kultiviertes Getränk wie den Kaffee.
Als die erste To-go-Welle durch
Deutschland schwappte, brachte sie eine
Müllflut mit sich. 2,8 Mil liar den Einweg-
becher werden pro Jahr in Deutschland
weggeworfen – das sind im Schnitt 34 pro
Bundesbürger. Obwohl die Mehrzahl die-
ser Gefäße aussieht, als seien sie komplett
aus Pappe, ist ihre Innenseite mit einer
feinen Plastikschicht überzogen. Diese
Papp-Plastik-Mischung ist praktisch nicht
recycelbar und landet eh fast immer in
Straßenmülleimern, deren Inhalt nicht
wiederverwertet wird. Endstation Verbren-
nungsanlage. Eine Ressourcenverschwen-
dung ohnegleichen, weil die Becher größ-
tenteils aus Frischholz, die Deckel auf Erd-
ölbasis hergestellt – und nur wenige Minu-
ten benutzt werden. Insofern klingt es erst
mal nach einer guten Idee, sich für die paar
Schluck Kaffee ein eigenes Gefäß mit-
zubringen.
Und es stimmt ja auch. Wenn Sie ein
Mensch sind, der jahrelang für die Zug-
Pendelstrecke zur Arbeit einen Tee in ei-
nem Thermobecher mit sich führt, dann
machen Sie – zumindest für die Umwelt
- alles richtig. Allerdings bedeutet das
nicht, dass Menschen wie ich mit einem
Mehrwegbecher in der Vitrine per se ge-
nauso ökologisch sind und sich deswegen
mit Hash tags auszeichnen müssen.
Bleiben wir mal bei meinem Bambus-
becher: Er ist zwar aus einem nachwach-
senden Rohstoff gefertigt, allerdings nur
zu etwa einem Drittel. Damit die Bam-
busfasern stabil zusammenhalten, werden
sie mit Formaldehyd und Melamin zu ei-
nem bruchsicheren, glatten Kunstharz
angerührt. Beide Bestandteile sind krebs-
erregende Stoffe, die bei über 70 Grad frei
werden können. Für Heißgetränke also
suboptimal, sagt die Stiftung Warentest.
Es gibt auch Becher, bei denen Bambus
- oder manchmal auch Mais, Zuckerrü-
ben oder Zuckerrohr – zu sogenanntem
Bioplastik synthetisiert wird. »Bio« darf
sich ein Kunststoff nennen, wenn er auf
nachwachsenden Rohstoffen basiert oder
biologisch abgebaut werden kann. Leider
klingt es nur so, als könnte man einen
Mais-Cup auf den Kompost schmeißen –
und alle Probleme wären gelöst. Tatsäch-
lich passiert: so gut wie nichts. Biokunst-
stoffe brauchen ganz besondere Feuchtig-
keits- und Temperaturbedingungen, da-
mit sie irgendwann zerfallen. Das hat aber
vermutlich noch kein Kaffeebechernutzer
je erlebt. Auch in die Biotonne dürfen die
Dinger nicht, weil sie sich nicht für Kom-
post oder Biogas verwerten lassen. Und in
die Wertstofftonne schmeißen geht auch
nicht, weil die meisten Recyclinganlagen
nur andere Plastikarten erkennen. Bio-
plastik fliegt raus und wird verbrannt.
Schließlich gibt es noch die Pfand-
becher, wie sie beispielsweise das Münch-
ner Unternehmen ReCup in Mintgrün
oder Haselnussbraun nach eigenen An-
gaben an mittlerweile 2400 Orten in
Deutschland bereitstellt. Wie bei Pfand-
flaschen im Supermarkt oder Bierbechern
auf Festivals bezahlen Kaffeekunden 50
Cent bis zwei Euro Pfand und können die
Becher in jeder Filiale zurückgeben. Das
Problem (das jeder Wegbier-Trinker und
Festivalgänger kennt): Viele Becher gehen
unterwegs verloren oder enden im heimi-
schen Schrank, wo sich auch alle anderen
Sachen sammeln, die uns die Überfluss-
gesellschaft ständig als Must- have verkauft.
In einer Studie des Umweltbundes-
amtes zeigt sich, dass ein Pfandbecher aus
Polypropylen erst dann ökologisch über-
legen ist, wenn er mindestens 20-mal be-
nutzt wurde. Wie oft er tatsächlich von
Hand zu Hand wandert, dazu gibt es bis-
her noch keine Erhebungen. Wird der
Pfandbecher allerdings mit einem Ein-
wegdeckel ausgestattet, gibt es im Grunde
keinen Vorteil mehr gegenüber dem ollen
Wegwerfbecher.
Der Deckel ist überhaupt das größte
Verbrechen am Coffee-to-go-Becher –
nicht nur in ökologischer, sondern auch in
ästhetischer Hinsicht. Ein so sinnliches
und elegantes Getränk wie den Kaffee
durch die Ritze in einem Plastikdings zu
saugen ist schlicht respektlos. Das volle
Aroma erreicht so niemals die Nase, die
zartporige Crema berührt nie die Lippen,
die tiefe Schwärze bleibt den Augen ver-
borgen. Da kann man auch gleich einen
Energydrink aus der Dose gluckern.
Die Deutsche Umwelthilfe hat übrigens
ein perfektes Gefäß gefunden, um Kaffee
so nachhaltig wie möglich zu trinken. Es ist
lebensmittelecht, ungiftig, hitzebeständig
und übersteht nach DIN EN 12875-4
mindestens 1000 Spülgänge unbeschadet.
Bei guter Pflege kann es jahrzehntelang
benutzt und weitervererbt werden. Café-
besitzer haben es immer vorrätig. Sowohl
Johann Sebastian Bach als auch meine
Mutter haben ihren Kaffee daraus in aller
Ruhe getrunken. Ich spreche von der Por-
zellantasse.
Wenn Sie das nächste Mal unterwegs
einen Kaffee trinken wollen, tun Sie sich
und der Welt einen Gefallen und setzen
Sie sich die zehn Minuten hin. Genießen
Sie die wertvolle müßige Zeit mit diesem
wertvollen müßigen Getränk. Sofern bis
dahin noch jemand Tassen und nicht nur
ein paar Becher im Schrank hat.
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