Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

ENTDECKEN


Patrica Zernik, 30, ist
gelernte Medienkauffrau und
wohnt in Dortmund


Victoria Jung fotografiert hier ab
dieser Woche Menschen, die ihr
im Alltag begegnen
Protokoll: Cosima Schmitt


Ich liebe Extreme. Wenn ich
was mache, dann richtig! Ich
war mal Haarmodel und hatte
alle zwei Wochen eine neue
Frisur. Dann schnitt ich mir
die Haare selbst. Jetzt trage ich
mal lange Locken, mal alles
raspelkurz. Auch beim Sport
mag ich es extrem: Ich boxe seit
zehn Jahren. In dem Verein, in
dem ich Mitglied bin, sind viele
Fitnessboxer, die nie in den
Ring steigen. Ich hatte nach
drei Monaten meinen ersten
Kampf. Im Ring bekomme ich
so viel Adrenalin, das ist wie
ein Rausch. Ich glaube, meine
Schmerztoleranz ist höher als
die von anderen. Das hat mir
geholfen, als ich vor einem Jahr
einen Verkehrsunfall hatte:
Schien- und Wadenbein waren
gebrochen, die Bänder gerissen,
mein linker Fuß ist immer
noch voller Metall. Ich konnte
anfangs nicht mal gehen. Aber
ich habe jeden Tag Übungen
gemacht. Meine Ärztin konnte
es neulich kaum fassen, wie
beweglich ich wieder bin.


WER


S I N D


SIE


?


Das Kotelett der Macht


Wenn Politiker auf Demos mitlaufen – wem genau wollen sie damit was demonstrieren?


Hier entdecken jede Woche im Wechsel: Francesco Giammarco, Alard von Kittlitz, Nina Pauer und Britta Stuff

N


eulich im Restaurant wurde
mir wieder ein »Kotelett
vom Iberico-Schwein« an-
geboten. Ich verstehe diese
Formulierung nicht, ich
denke immer, es muss doch viele Iberico-
Schweine geben, oder gibt es wirklich
nur eines? Das Iberico-Schwein? Das
muss aber supergroß sein!? Wo ist es??
Ich hätte Lust, hier über sprachlichen
Unsinn zu schreiben, aber es gibt Dring-
licheres. Die Klimapolitik etwa ist sehr
dringlich, so dringlich, dass kürzlich sogar
der kanadische Premier Justin Tru deau auf
einer De mons tra tion mitlief, »für den
Planeten, die Kinder und deren Zukunft«,
wie er in einem Tweet dazu schrieb.
Mein Blick auf Politik ist inzwischen
so stumpf geworden, dass mir das Gro-
teske an dieser Tatsache erst gar nicht auf-
fiel. Ich blieb, als ich Tru deaus mit einem
Bild von ihm selbst garnierten Tweet sah,
vielmehr wieder an seinem unglaublich
flachen Bauch hängen und dachte einmal
mehr, wer so einen Bauch hat, ist gewiss
auch ein guter Politiker. Ein Klügerer als
ich aber antwortete auf Tru deaus Tweet
mit den schönen Worten: »You don’t need
to march, bro. You’re literally the fucking guy
in charge.« – »Du brauchst nicht zu de-

monstrieren, Alter. Du bist buchstäblich
der verdammte Typ an der Macht.«
Da war was dran. Wem genau de-
monstriert Tru deau, der in Kanada zuletzt
ein total klimakillendes Pipe line- Pro jekt
durchgewinkt hat, eigentlich irgendwas?
Welchen mächtigen Politiker will der ka-
nadische Premier zum Handeln bewegen?
Politiker haben auf Demos nichts zu
suchen, es sei denn, sie wollen ihre eigene
Machtarmut beklagen. Wenn Sadiq Khan
als Bürgermeister von London für ein
neues Brexit-Referendum demonstriert:
Will er damit zeigen, dass er anders keinen
Einfluss nehmen kann? Ebenso die Berli-
ner Politikerin Sawsan Chebli, Staatssekre-
tärin für Bürgerschaftliches En gage ment,
die nach dem anti semi ti schen Anschlag
in Halle auf einer Solidaritäts-Demo mit-
marschierte. Vielleicht sollten die Men-
schen, denen diese Demos ein Si gnal sein
sollen – und das sind alle Menschen mit
einem politischen Mandat –, sich diese
De mons tra tionen besser ansehen, statt
mitzulaufen? Weil sonst nämlich nieman-
dem irgendwas demonstriert wird?
Vielleicht wollen Tru deau, Khan und
Chebli allen zeigen, dass sie auf der rich-
tigen Seite stehen. Wahrscheinlich aber
geht es ihnen einfach darum, Sympathien

und Stimmen zu gewinnen, was bedeutet,
dass sie ihr Amt als Selbstzweck begreifen
oder jedenfalls nicht als Verantwortlich-
keit, jenen Einfluss zu nehmen, den sie
vorgeblich mit ihren Mitdemonstranten
in der Politik bewirken wollen.
Wir wären damit bei Guy Debords
Gesellschaft des Spektakels gelandet: Die
Politik ist nur noch Show. Das Deprimie-
rendste an Debords Analyse ist, dass er
hinter dem politischen Spektakel nicht
bloß zynische Berechnung vermutet, son-
dern meint, es gebe in der dauernden Show
tatsächlich nur noch Darsteller und keinen
Regisseur. Die Politiker haben vielleicht
wirklich das Gefühl, dass sie selbst aus ge-
wissen Notwendigkeiten heraus nicht ge-
nug bewegen können. Sie appellieren da-
her sozusagen an den Weltgeist, der Sache
eine gute Wendung zu geben.
Ich verstehe das Gefühl, mais je ne suis
pas d’accord, Mon sieur Tru deau. Zwar ist
der kanadische Premier, anders als in dem
gemeinen Tweet behauptet, nicht der Ty p
an der Macht, so jemanden gibt es nicht,
so wenig wie es das Iberico-Schwein gibt.
Aber es gibt sehr wohl Verantwortung für
das, was im eigenen Wirkungskreis liegt.
Es gibt das Kotelett von der Macht, und
für Politiker liegt es nicht auf der Straße.

ALARD VON KITTLITZ ENTDECKT

Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT

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  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44


Fotos: Amelie Losier (große Fotos), Deniz Yücel (»Hinter der Geschichte«), Blake Cheek/Unsplash

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  2. Nordische Filmtage Lübeck
    Das Filmfestival lädt dazu ein, nordische, baltische und
    norddeutsche Filme zu erleben. Ermäßigter Eintritt unter
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  3. Oktober | Münster
    »Hinter der Geschichte« – auf der Bühne


Mit dabei ist u. a. die Politik-Redakteurin Özlem Topçu
(Foto), die über ihre Recherche in der vom IS zerstörten
nordsyrischen Kleinstadt Kobane spricht und damit das
Flüchtlingsjahr 2015 vom anderen Ende der Welt erzählt.


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    Marie Bäumer im Gespräch
    Über ihr erstes Buch »Escapade: Der Aufbruch in die
    Freiheit« spricht die Schauspielerin mit Leonie Seifert
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    Wie können wir nachfolgenden Generationen eine
    lebenswerte Welt hinterlassen? Der Regisseur
    Damon Gameau stellt in seinem Dokumentarfilm einige
    Antworten vor. Kinopreview mit Filmgespräch.

  3. November | Berlin
    Wenn Babyboomer in Rente gehen
    Der Ruhestand wird zur Chance, sich noch einmal neu zu
    erfinden. Doch was bedeutet das fürs Wohnen, Arbeiten
    und für die Familie?


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