REISE
D
a saß sie, auf dem Bett im
Schlafsaal eines Hostels, den
Lonely Planet auf dem Schoß.
Ich, auf dem Bett gegenüber,
einen Roman auf dem Bauch. Verlegene
Blicke, aus denen blitzschnell Verliebtheit
werden sollte. Zumindest dachte ich das
damals, vor zehn Jahren in Neuseeland.
Der erste Kuss nach sechs Stunden, nach
zwölf Stunden Händchen halten, nach
40 Stunden: Wir sehen uns im nächsten
Land wieder! Sie wollte noch etwas in Neu-
seeland bleiben, ich schon weiter nach Fiji.
Wir trafen uns dort nicht. So kurz
und hitzig das Kennenlernen war, so kurz
und schmerzhaft war die Trennung. Ein
Telefonat: »Ich komme nicht.« Und es
war vorbei.
Die Verliebtheit im Urlaub, sie ist viel
hastiger, viel ungelenker als die zu Hause.
Und sie folgt ihren eigenen Regeln.
Zunächst: Wie entsteht ein Urlaubs-
flirt? Während früher in Reiseführern Bars
oder Clubs als Treffpunkte empfohlen
wurden, lernt man sich heute oft online
kennen. Apps wie Tinder oder Bumble
haben sogar einen Dienstreise-Modus, mit
dem man vorab ein Date in Auckland oder
Lissabon arrangieren kann. Oder man fährt
einfach nach Tel Aviv – keine andere Stadt
hat einen so offenen, bemerkenswert sorg-
losen Vibe zum Flirten oder Kennenlernen.
Hat es dann gefunkt, sollte man unbe-
dingt die Gepflogenheiten vor Ort beach-
ten. In Dubai wurde meine Begleitung mal
angespuckt, weil wir Händchen hielten. In
Japan ist es ungehörig, sich in der Öffent-
lichkeit zu küssen. In manchen Ländern,
etwa Argentinien, nimmt man sich ein
Hotelzimmer für Sex – die Wohnungen
sind meist klein und hellhörig.
Die wichtigste Regel, die ich zu Urlaubs-
flirts gesammelt habe, ist aber eine psycho-
logische: Man sollte im Kopf behalten, dass
die Gefühle im Ausland selten echt sind. Oft
lassen einen Heimweh, Einsamkeit oder Er-
schöpfung besonders emotional werden.
Man sucht Halt und entwickelt ein falsches
Gefühl von Nähe – man kennt den anderen
ja kaum. Also Ruhe bewahren, nicht den
Reiseplan umschmeißen oder sich gar Ver-
sprechungen auf ewige Liebe machen.
Denn Ferienflirt bleibt meist Ferienflirt.
Oft sind diese Lieben wie Kleidungsstücke,
die man im Urlaub kauft – zu Hause eher
peinlich. Und für die Frau aus Neuseeland
hätte ich mich daheim zwar nicht ge-
schämt. Aber logistisch wäre es schwierig
geworden: eine Beziehung nach Japan?
Dennoch können Reisebekanntschaften
sehr bereichernd sein. Wie Auckland aussah,
habe ich fast vergessen. Aber ich weiß noch
genau, wie diese Frau bei unserem Nacht-
spaziergang dort aussah.
Gibt es Regeln für einen
Urlaubsf lirt?
REISEWISSEN
Thilo Mischke ist 150 Tage im Jahr unterwegs. Hier gibt er in loser Folge
mit Stefan Nink seine Tipps und Erfahrungen weiter
türme und das Mini-MoMA noch so eine
breite Tranche working class-New-York
passt. Aber das lernt man schnell bei den
Streifzügen rund um die Ferry-Anleger:
Jenseits von Manhattan geht es deutlich
durchmischter zu als im Alpha-Stadtteil.
Am Anleger Hunter’s Point South ganz
im Süden von Long Island City treffe ich
Frank Raffaele, einen energischen Bolzen
um die 50 mit Yale-Basecap und Horn-
brille. Er betreibt direkt am Pier unter ei-
nem weit aufgespannten weißen Metall-
dach die Café-und-Biergarten-Kombi LIC
Landing. »Das neue Ferry-Netz«, sagt er,
»hat manche Ecken erst richtig zugänglich
gemacht. Die U-Bahn kommt ja oft nicht
ran an die ufernahen Viertel. Aber wir le-
ben nun mal in einer Stadt am Wasser.« Wo
Raffaeles schicke Café-Rampe steht, war
lange Deponiegelände. Jetzt, da die Fähre
direkt von Midtown Manhattan herüber-
kreuzt, ist Platz für 1400 Wohneinheiten.
Die Fähren seien ein großer Dienst am
Volk, sagt Raffaele, und das betont er auch
deshalb, weil er weiß, dass andere das an-
ders sehen. »Manche meinen ja, Anleger
gäbe es nur dort, wo Besserverdienende
leben – oder leben werden.«
Die Fähren, Speedboote der Gentrifi-
zierung? Mir darf das erst mal egal sein. Ich
freue mich ganz einfach, Brooklyns Ufer
einmal direkt vom Wasser her betreten zu
können. Ist schließlich viel, viel schöner, als
wieder in die stickigen Röhren zur ächzend
alten Subway hinabsteigen zu müssen, um
dann mühsam hinterrücks endlich bis ans
Ufer zu gelangen. Außerdem sieht man von
der Fähre aus auch sofort, wo man hin will:
zu dieser Outdoor-Kneipen-Wucherung in
Greenpoint zum Beispiel, die auf breiter
Front vor einer rustikal verrosteten Lager-
halle liegt und einen angedockten Lastkahn
eingemeindet. Oder, noch besser, in den
neuen Domino Park, errichtet auf dem
Gelände einer ehemaligen Zuckerfabrik,
deren Verladekräne jetzt helltürkis, wie
frisch geschminkt, in Richtung Fluss strah-
len. Ich komme in der Dämmerung an,
spaziere umher zwischen Gras und Bü-
schen, alten Sirupsilos und skulptural zu-
sammengestellten Riesenschrauben. Und
sitze dann, mit ein paar Tacos und einem
Bier, auf einer Bank am Ufer und schaue
lange auf Manhattan bei Nacht, den glit-
zernden Märchenwald.
Ein komisches Paradox beim Fährefah-
ren: Ist schön, so lange auf dem Wasser zu
sein; und ist auch schade, so lange auf dem
Wasser zu sein. Ich will immer weiter fah-
ren, will aber auch jedes Mal aussteigen
und mich ausführlich umschauen. Aber ich
habe doch nicht ewig Zeit, verdammt noch
mal! Trotzdem will ich unbedingt auch bis
zu den Endstationen. Bis nach Soundview
zum Beispiel, dem nördlichsten Stopp des
Ferry-Netzes in der Bronx. Die Bronx
kennt man ja von Weitem, also von
Deutschland aus, vor allem als hartes Pflas-
ter. Na mal sehen.
Auf der Fähre sitze ich neben Ursula
Richards, die in Soundview lebt; sie ist wie
ich am Pier 11 eingestiegen und trägt
schwarze Wollmütze und weißen Fleece-
pullover gegen den zackigen Wind. Seit
Kurzem ist sie in Rente und hat gerade in
Downtown ihre Ex-Kollegen besucht. »Die
wissen teilweise noch gar nicht, dass es die
Fähren überhaupt gibt«, sagt sie. »Dabei
sind die auf meiner Strecke pünktlicher,
friedlicher und schneller als die elende Sub-
way.« Über die Metro schimpft sie ausgie-
big. »Da setze ich immer eine versteinerte
Miene auf. Hier nicht.« Wir fahren an der
Gefängnisinsel Rikers Island vorbei und
sehen die Flugzeuge vom LaGuardia-Air-
port aufsteigen. Jegliche Skyline liegt hinter
uns. Das Stückchen Bronx, das mit dem
Anleger näher kommt: zweistöckige Leicht-
bauhäuschen, Parkbuchten, Hecken und
Rasen. Ursula, was gibt’s zu sehen in deiner
neighbourhood? »Ein ruhiges Wohnviertel,
nichts sonst.« – Ich reiße mich zusammen
und bleibe an Bord.
Fahre aber trotzdem bald darauf nach
Rockaway hinaus, an den fernen Stadt-
strand. Da schaukelt die Fähre sogar eine
Weile durchs offene Meer, um den großen
Hacken von Brooklyn herum, Manhattan
ist nur noch ein Mikro-Lego am hintersten
Horizont. Von der Landzunge Rockaway
leuchten als Erstes helle Holzhäuser mit
Veranda herüber, davor weißer Sand, ich
stelle mir endlos gleißende Sommer vor, in
denen wenig mehr zu hören ist als das Meer
und die Eiswürfel im Glas. Wo das Boot
anlegt, gibt es dann allerdings auch Fünf-
stöcker und ein paar marzahnige Blöcke.
Aber der Strand: extrabreit und extralang.
Wenn auch extraleer im Moment, trotz
Sonne, wohl weil der frische Wind zu sehr
peitscht für einen lässigen Tag auf dem
Handtuch. Auch ich gehe nicht baden,
sehe nur im Himmel den Fliegern dabei zu,
wie sich einer nach dem anderen in die
Spur begibt zum Landeanflug auf JFK.
Mit signalgelben Sneakers und wild
flatternder Mähne kommt eine Joggerin
den endlosen Boardwalk entlang, für mich
fällt sie auf Schritttempo zurück. María
Begoña Filgueira, Mitte 50, eine Schulbus-
fahrerin zwischen zwei Schichten. Ich zeige
auf den verwaisten Strand: Where is every-
body? »Na komm mal morgen wieder, am
Wochenende«, sagt sie, »da findest du kei-
nen Platz mehr für dein Badetuch.« Ist da-
ran die Fähre schuld? Oh nein. »Die ist das
Beste, was Rockaway seit Langem passiert
ist!« Sähen allerdings nicht alle so. »Viele
Passagiere zwischen Manhattan und Brooklyn vor der Williamsburg Bridge
sagen: Ich will doch gar nicht raus aus Rock-
away, was soll ich mit der Fähre?« Na mal
nach Manhattan fahren vielleicht? »Nein,
vor Manhattan fürchten die sich. Zu sehr
Großstadt. Das gilt aber auch für viele Leute
aus anderen Bezirken.«
Schon lustig, wie man das als New-York-
Besucher total anders sieht. Für einen selbst
ist Manhattan natürlich nicht der Moloch
irgendwo da hinten, sondern immer das
Herzstück, von dem aus man auf alles andere
blickt. Alle Genügsamkeit in Queens oder in
den Hipster-Kuschelecken von Brooklyn ge-
nießt man ja gerade, weil sie gewissermaßen
im Schatten der Skyline stattfindet, immer
nur einen Steinwurf entfernt vom großen
Getürm. Und auf den Ferrytouren koste ich
auch genau diese Spannung aus: Umschun-
kle das hochaufgeschossene Zentralmassiv
und spüre dabei ständig dessen Sog, will
hinein in die Straßenschluchten, die immer
kurz als verführerische Lichtschlitze ins
Panorama schneiden – und gehe dann eben
doch noch mal auf Distanz.
Besonders krass spüre ich diese Anzie-
hung auf Abstand beim Besuch von Gover-
nors Island. Die kleine grüne Insel zwischen
Manhattans Südspitze, der Freiheitsstatue
und dem Südwesten von Brooklyn war lan-
ge ein Stützpunkt der US Army, die Be-
diensteten lebten mit ihren Familien zwi-
schen hohen Laubbäumen und viel gescho-
renem Rasen in dreistöckigen Häusern wie
in einer abgeschiedenen Kolonie, mit eige-
ner Kirche, eigenem Kino und Baseball-
platz. Heute gehört alles der Stadt. Ich wan-
dere durch eine Art postmilitärisches Idyll,
an einer neuen urban farm vorbei und um
den alten Exerzierplatz herum. Ich kann von
der Uferpromenade nach Osten hinüber-
schauen zu Brooklyns letzten Docks in Red
Hook und nach Westen zur Freiheitsstatue.
Irrster Blick allerdings: auf das schnuckelige
weiße Holzkirchlein der früheren Gemein-
de, in dessen Himmel nun das One World
Trade Center hineinragt wie ein Ding aus
einer fremden Zivilisation.
Schöner Ausflug nach Governors Island.
Aber zwischen flirrendem Laub und grüner
Welle sage ich mir jetzt auch: Einmal muss
gut sein mit den Trabanten-Besuchen.
Warum soll ich dem Magneten Manhattan
auf ewig widerstehen? Ich will zurück ins
Dick icht, will die Augen hochreißen und
durch die Straßen mäandern wie eine neu-
gierige Ameise. Ich verlasse das Boot in Mid-
town und entsichere ein Leihbike. Fahre die
Park Avenue hinauf bis zum Central Park
und trudele dann in der heraufkommenden
Nacht den Broadway hinab, bis ich im Ge-
witter der Werbevideowände am Times
Square stehenbleibe und alles auf mich ein-
prasseln lasse. Ich bin nicht mehr auf dem
Wasser und doch tief im Strudel.
Foto: Todd Heisler/The NewYorkTimes/Redux/laif
Fähre fahren
Den Routenplan des neuen Fährnetzes,
Abfahrtszeiten und Hinweise zur App gibt
es unter ferry.nyc. Bisher sind U-Bahn-
und Bustickets nicht mit den Fährtickets
kombinierbar. Abseits des neuen Netzes
pendelt die Staten Island Ferry (siferry.com)
zwischen Manhattans Südspitze und Staten
Island. Zur Freiheitsstatue nimmt man die
Liberty Island Ferry (statuecruises.com)
NEW YORK PER BOOT
Trinken
Im Brooklyner Stadtteil Red Hook lebten
früher viele Hafenarbeiter. Manche Docks
sind noch heute in Betrieb. In Sunny’s Bar
(Conover Street 253), einer wunderbar
rotlichtigen Kneipe, stehen noch die
alten Kaffeemaschinen-Monster, die einst
nötig waren, um die Dockarbeiter zu
versorgen. Heute besser Bier bestellen.
Anleger Red Hook, South Brooklyn Route
Essen
Einen besonders schicken Platz mit
Aussicht hat man im Outdoor-Restaurant
Island Oyster im Norden von Governors
Island. Unter gelb-weiß gestreiften
Markisen blickt man hinüber zur Skyline
von Downtown Manhattan. Auf der Karte
stehen auch Austern aus dem New Yorker
Long Island Sound (islandoyster.com)
Anleger Governors Island
Rad fahren
An fast jedem Anleger des Fährnetzes gibt
es Stationen für Leihfahrräder. Da New
York auch immer mehr Fahrradwege hat,
lassen sich Fähr- und Radausflüge gut
miteinander kombinieren. Am besten lädt
man sich die App von Citibike herunter;
die zeigt auch, wo jeweils noch wie
viele freie Räder oder Andockplätze zur
Verfügung stehen (citibikenyc.com)
Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT
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