Die Zeit - 24.10.2019

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68 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44


I


ch bin ganz oberflächlich unter-
wegs. Und bin begeistert von der
Oberfläche. Vor meinen Augen
zieht langsam ein sehr bekanntes
Bild vorbei, die Skyline von Man-
hattan, eine Fassade aus Fassaden,
was für ein Anblick. Meine Augen
sind sicher inzwischen so groß wie
die von japanischen Comicfiguren, damit
noch ein bisschen mehr Panorama auf die
Netzhaut passt. Ich sitze auf dem offenen
Oberdeck einer Fähre, das Boot tänzelt
durch den East River zwischen Manhattan
und Brooklyn Richtung Norden und ver-
schiebt und verschiebt und verschiebt den
Blick auf den Stalagmitenwald von Mid-
town wie in einer Kamerafahrt. Das Empire
State Building taucht im Hochhausge dränge
auf und wird wieder verdeckt, ebenso das
Chrysler Building. Aber es kommt ja gar
nicht an auf das eine oder andere ikonische
Gebäude. Es kommt an auf die Totale in
Bewegung, die berauschende Partie entlang
der Skyline.
Gibt es einen besseren ÖPNV-Deal als
diesen?
Die Fähre gehört nämlich zum neuen
Netzwerk NYC Ferry, das sich die Stadt erst
in den letzten Jahren geleistet hat: Sieben
Fährlinien, 21 Stopps, verteilt über Man-
hattan, Brooklyn, Queens und die Bronx.
Die längste Tour geht bis zum Strand von
Rockaway hinaus, eine Stunde ist man da
unterwegs. Und das alles kostet nicht mehr
als ein U-Bahn-Ticket. Man möchte gleich
überallhin fahren.
Knotenpunkt der Ferry-Linien ist Pier
11 in Downtown Manhattan, Höhe Wall
Street. Auf der Landungsbrücke nebenan
starten und landen regelmäßig Hubschrau-
ber, hier geht es etwas bodennäher zu. Eine
Handvoll Anleger rund ums Pier, an denen
die verschiedenen Fähren im 20-, 30-,
40-Minutentakt kurz andocken, gut sortier-
te Warteschlangen. Auf einer großen Digi-
taltafel steht, welche Fähre als Nächstes von
welchem Anleger losmacht. Als Tourist
fühle ich mich ein wenig wie vor dem Bü-
fett: Welches Boot darf es diesmal sein? Als
Ferry-Flaneur bin ich ja sehr viel flexibler als
die commuter, die Arbeitspendler, für die das
Routennetz vor allem gedacht ist. Die Fähre
nach Astoria in Queens legt gleich ab, also
okay, ich bin drauf.
Groß sind die Boote nicht, 150 Sitz plätze,
die meisten davon im Unterdeck. Die Bord-
wände haben einen fast sportwagenschnitti-
gen Schwung. Der Prototyp wurde Lunchbox
getauft, andere Boote heißen Opportunity,
Ocean Queen Rock Star und New York, New
York, die Namen stammen alle aus einem
stadtweiten Schülerwettbewerb.
Astoria liegt auf der Ostseite des East
River nördlich von Brooklyn. Die Fähre
gleitet auf ihrem Weg flussaufwärts unter
der Brooklyn Bridge und der Manhattan
Bridge hindurch, beim Blick nach oben
sieht man durch das stählerne Trägerwerk
schattenhaft den Verkehr vorbeihuschen.
Wir halten kurz an den Brooklyn Navy
Yards, den ehemaligen Marinedocks, in de-
nen zu Weltkriegszeiten Zehntausende
Arbeiter Flugzeugträger zusammenbauten,
dann in Midtown Manhattan im Schatten
der American Copper Buildings, zwei zart
einander zugeneigten neuen Hochhäusern.
Auf einer Videowand im Unterdeck der
Fähre werden Wohnungen in dem Doppel-
riegel angepriesen, natürlich diskret ohne
Preisangabe. Zwei weitere Stopps noch,
dann legt das Boot in Astoria an.
Alles sehr entspannt hier, Einfamilien-
Reihenhäuschen mit Erkern und Blumen-
töpfen am Treppenaufgang. Hallo Klein-
stadt-Amerika. Ein Cop patrouilliert so ge-
mächlich über die Straße, als würde sowieso
nie etwas passieren können an so einem
sonnigen Tag. Ich höre Vögel und kaum
etwas sonst. Im Socrates Sculpture Park nah
am Flussufer nehmen zwischen Laubbäu-
men gerade 30 locals an einer öffentlichen
Yogastunde teil. Entschleunigtes, flachgehal-
tenes New York. Schön, einmal vorbeige-
schaut zu haben. Auch weil man ja immer
mitdenkt: Hey, direkt nebenan liegt das
brausende Zentrum der westlichen Welt; er-
staunlich, wie anders gepolt es schon hier
um die Ecke zugeht.
Zwei Ferry-Stopps südlich von Astoria
legt das Boot in Long Island City an, gerade
noch Queens, an der Grenze zu Brooklyn.
Hier wird schon wieder höher gestapelt.
Am Anleger stehen ein paar frische 20- bis
30-Geschosser, beste Uferlage, ausschwin-
gende Balkone. Am anderen Ufer in Man-
hattan hat man das ewig elegante UN-
Ensemble in voller Breite vor sich. Auf dem
umgrünten Boardwalk in Queens stehen
ausladende Holzsessel, die einem einflüs-
tern: Hier setz dich hin – und dann lass dich
wegpusten von der Aussicht auf delirious
New York! In Long Island City unterhält
das Museum of Modern Art seit Langem
einen Satelliten für aktuelle Kunst, das PS1,
in einem ehemaligen Schulgebäude. Sehr
smart und zeitgenössisch. Auf dem Weg
dahin passiere ich eine Reihe flacher Ziegel-
bauten: Tischlereien, Auto- und Metall-
werkstätten, ein Crossfit-Studio, das aus-
sieht wie ein Army-Trainingscamp. Schwei-
ßende, fräsende, schwitzende Männer über-
all, es riecht nach schwerem Öl und ge-
schmortem Gummi. Eine kleine Überra-
schung, dass zwischen die gläsernen Ufer-

Foto: Noor Abouzanaid/Getty Images

REISE


Fähre Lösung


New York kann man jetzt auch vom Wasser aus erkunden,


auf sieben städtischen Fährlinien zwischen der Bronx,


Manhattan und dem Strand von Rockaway. Man möchte


gleich überallhin VON MERTEN WORTHMANN


Viel schöner als in der stickigen Subway: Vom Wasser aus glitzert die Skyline von Manhattan wie ein Stalagmitenwald

QUEENS

BRONX

BROOK LY N

MANHATTAN
East 34th Street

East 90th Street

Soundview

Wa ll
Street

Astoria

Long Island City
Hunter‚s Point South

North Williamsburg

Brooklyn Navy Yard

Red Hook

Governors Island

Rockaway

W

N
O

S
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