Die Zeit - 24.10.2019

(lu) #1

ENTDECKEN


I


ch hatte schon mit 16 wahnsinnigen Horror davor,
alt zu werden. Jeder runde Geburtstag war ein
schwarzer Tag. Als ich in meinen Vierzigern von dem
Ü50-Schönheitswettbewerb hörte, wollte ich sofort
mitmachen. Ich finde, die attraktive reifere Frau kommt
zu wenig in der Öffentlichkeit vor. Für mich war das ein
Ansporn, mich fit zu halten. 2016, mit 50, trat ich an,
kam aber nur in die Top Ten. Da saß meine Mutter im
Publikum. Sie starb ein Jahr später. Als ich 2018 noch
einmal mitmachte, tat ich das auch für sie. Mehr als 500
Frauen hatten sich beworben – mit Bildern, Fragebogen,
Konfektionsgröße. Beim Casting in Frankfurt kamen 20
Kandidatinnen ins Finale. Ich war dabei.
Unter den Frauen ging es total kollegial zu. Wir haben
uns Mut zugesprochen. Da waren keine zickigen Schön-
heiten, das waren alles Frauen mit Geschichten, mit Jobs,
Kindern, einige schon Omas. Es gab eine Ingenieurin, eine
Physiotherapeutin, ich selbst bin alleinerziehende Mutter
und habe in einer Bank Privatkunden betreut.
Der Wettbewerb funktioniert so: Man läuft vor der Jury
in jeweils zwei Business-Outfits und Abendkleidern.
Dazwischen bekommt man Fragen nach Hobbys und
Lebensgeschichte gestellt. Die Juroren vergeben Punkte,
die erst am Ende verkündet werden. Der schlimmste Mo-
ment des ganzen Wettbewerbs war, als ich vor den Jury-
mitgliedern warten und ihnen dabei direkt in die Augen
sehen musste, mehrere Sekunden lang. Dieser Blickkontakt
und dabei lächeln zu müssen ... es kam mir wie eine Ewig-
keit vor. Ein Juror schaute mich mit versteinerter Miene
an. Ich dachte: »Das war’s jetzt für dich.« Und: »Auch okay.«
Als mein Name verkündet wurde, stand ich unter
Schock. Sie hängten mir eine Schärpe um, setzten mir ein
Krönchen auf, die Nationalhymne erklang, und ich lief
einfach. Am Ende des Stegs warteten die Fotografen. Alles
war so surreal. Durch den Titel hat sich einiges verändert:
Als Miss 50plus Germany bekomme ich Model-Jobs und
Auftrittsangebote. Womit ich nicht gerechnet hätte, sind
die Hass-Kommentare auf Facebook. Von Frauen. Richtig
schlimme Beleidigungen über mich, meine Figur, mein
Gesicht. Das tut weh. Wenn Männer schreiben, wollen sie
mich meistens daten. Aber ich weiß nie, ob jemand von
mir angezogen ist – oder von dem Trubel um mich.
Wer bei so einem Wettbewerb mitmacht, wird in die
Öffentlichkeit geschubst. Das ist nicht für jeden was. Aber
toll ist, wenn mir junge Frauen schreiben: »Du nimmst
uns die Angst vorm Alter.« Mittlerweile habe ich selbst
kaum noch Angst davor. Ich hoffe sogar, dass ich alt werde.
Meine Eltern haben es leider nur bis Mitte 70 geschafft.


... bei einem Ü50-


Schönheitswettbewerb


mitzumachen


WIE ES WIRKLICH IST

Evelyn Reißmann, 53, ist amtierende Miss 50plus

Germany und Finanzfachwirtin aus Plauen (Sachsen)


Wenn meine Freundinnen mich morgens zur Schule
abholen und ich sie schon von Weitem auf der Straße
singen höre.
Leoni Thiele, 13 Jahre, Frankfurt am Main

Wenn ein Windstoß goldgelbe Blätter vom Baum
tänzeln und im herbstlichen Sonnenschein wie Stern-
taler glitzern lässt.
Dirk Ludewig, Hamburg

Bei einer Ausstellungseröffnung. Ein kleines Mädchen
steht vor einer Platte mit Schnittchen: »Papa, ist das
Kunst, oder darf man das essen?«
Monica Uhlich, Baindt, Baden-Württemberg

Das erste Mal die Saiten meines Cellos anzustreichen,
nachdem es über Wochen zur Reparatur beim Geigen-
bauer war.
Michael Holtkamp, Schwäbisch Gmünd

Sich an der Nordsee in den stürmischen Herbstwind
stellen und den Kopf durchpusten lassen. Danach bei
einem heißen Tee die durcheinandergewirbelten Ge-
danken neu ordnen.
Maria Wollinger, Würzburg

Den kleinen Igel zu hören, der auf immer gleichem
Weg durch den Garten läuft. Und zu sehen, wie er Tag
für Tag ein bisschen fülliger wird, wohl bald schon
bereit für den Winter.
Michael Reisinger, Landshut

Meine – demnächst 81-jährige – Oma, die in jeder
Lebenslage ein passendes Gedicht auswendig hersagt,
zu jeder historischen Person eine Geschichte weiß und
in Rom spontan einen einstündigen Vortrag über die
Engelsburg halten kann. So viel echtes Wissen – wenn
man sich all das nur selbst merken könnte ...
Katharina Feyrer, Nürnberg

Im Deutschkurs. Ich ermahne meine Sprachschüler,
mich doch bitte nicht zu duzen. Entrüstete Reaktion:
Weil »sie« ja die weibliche Form sei, müsse man zu
Männern doch »du« sagen. Logo!
Es folgen vertiefende Erklärungen an die jungen
Grammatik fundamentalisten, die am nächsten Morgen
strahlend – wenn auch nur selektiv – angewendet
werden: »Du, Herr Buuuß, ham wir gleisch Deutsch
bei Sie?«
Heinz Buß, Boekzetelerfehn, Niedersachsen

Kürzlich war ich für eine Operation in der Klinik und
danach ein paar Tage lang ans Bett gefesselt. Ich
konnte kaum schlafen. Das bekam der Pfleger mit.
Mitten in der Nacht fragte er mich, ob ich schon den
tollen Mond gesehen hätte, und rollte mich mitsamt
meinem Bett ans Fenster, um mir den wunderbaren,
rötlich gefärbten Vollmond über dem Bodensee zu
zeigen.
Bianca Türk, Freiburg

Leben


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Schwätzbänkle


Meine Oma hatte vor dem Haus eine Bank, die sie das Schwätzbänkle nannte. Wenn sie dort saß, um sich von der
schweren Arbeit auszuruhen, kamen Nachbarinnen vorbei und setzten sich eine Weile zu ihr. Man tauschte Neuigkeiten
aus und beriet sich bei Problemen. Bei so einem Schwätzle konnte jeder ein wenig neue Kraft tanken. Heute müssen die
Menschen nicht mehr so hart arbeiten, aber die Zeichen der hektischen, mit Reizen überflutenden Social-Media-Welt
sind ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Menschen sind einsam geworden. Inzwischen habe ich vor meinem Haus auch
so ein Bänkle aufgestellt. Gestern kam ein etwa siebenjähriger Junge vorbei, als mich zwei Zeugen Jehovas in ein
Gespräch über Gott und den Weltuntergang verwickelt hatten. Er parkte sein Kinderrad, setzte sich dazu und
diskutierte wie ein Großer mit uns über den Klimawandel, den brennenden Regenwald und darüber, wie wir den
Planeten retten könnten. Gegen seine kluge, aufrichtige Kinderlogik kam keiner an. Wir brauchen mehr Schwätzbänkle!
Ursula Bechtle, Besigheim, Baden-Württemberg

MEIN WORTSCHATZ

Aufgezeichnet von Eva Marie Stegmann

Dieser Krauskopfpelikan lebt am Kerkini-See in Griechenland. Artgenossen begrüßen einander mit einem Zischlaut. Nicht uncool, die Krauskopfpelikane. Fotografiert von Oliver Richter

Folge 176


Du siehst aus, wie ich mich fühle


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Illustration: Eva Revolver für Die Zeit; kl.Foto: privat

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  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44


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