Dienstag, 22. Oktober 2019 WAHLEN 2019 13
Obwohl die SVP das schlechteste Result at seit 20 Jahren
erzielt, wird Präsident Albert Rösti ni cht kritisiertSEITE 15
Die neugewählten Grünen und Grünli beralen sind
in der Mehrheit weiblich, jung und gut ausgebildet SEITE 17
Für eine CO
2
-Abgab e und mehr
Krippen, gegen Rentenalter 67
Der grüne Triumph wird sich im Nationalrat auswirken – das ze igt eine Analyse der Wahlversprechen
SIMON HEHLI, NIKOLAI THELITZ
Am Sonntag ist es zu einer für Schwei-
zerVerhältnisse erdrutschartigenVerän-
derung derParteistärken im Nationalrat
gekommen.Die grosse Kammer ist öko-
logischer geworden, aber auch linker,
weiblicher und gesellschaftspolitisch
offener.Was bedeutet das für die ein-
zelnenPolitikbereiche?Wo gibt es neue
mehrheitsfähige Allianzen? Um diese
Fragen zu beantworten,hat die NZZ die
Positionierungen der gewählten Natio-
nalräte aufder Plattform Smartvote
ausgewertet.189 der 200 Mandatsträger
füllten denFragebogen aus.
Umweltpolitik
26 Sitze haben die Grünen und die GLP
zusammen gewonnen. Für die Gletscher-
initiative, die eine CO 2 -Bilanz von netto
null in derVerfassung verankern soll,
findet sich im neuenParlament denn
neu auch eine satte Mehrheit.Dabei
hätte es den Grünen-Rutsch vielleicht
gar nicht in dieser Stärke gebraucht:
Auch dieFreisinnigen stellen sich mehr-
heitlich hinter dasVolksbegehren, für
das bereits mehr als 120000 Stimmen
zusammengekommen sind. Insgesamt
sprechen sich 129 Gewählte füreine
neutrale CO 2 -Bilanz bis 2050 aus.
Auch dieTrinkwasserinitiative kann
mit Unterstützung aus demParlament
rechnen, doch hier hat wohl erst die
grüneWelle eine Mehrheit geschaf-
fen. Die Initianten wollen unter ande-
rem, dass nurBauern, die aufPestizide
und präventiven Antibiotika-Einsatz
verzichten, Direktzahlungen erhalten.
DieseForderung unterstützen 108 neu-
gewählte und bisherige Nationalräte.
Auch eine CO 2 -Abgabe aufTreib-
stoffe ist im neuenParlament mehrheits-
fähig – in der letzten Legislaturperiode
lehnte der Nationalrat ein entsprechen-
des Instrument imRahmender Aus-
arbeitung des CO 2 -Gesetzes noch ab.
Nun wollen 127 der Gewählten das An-
liegen unterstützen.
Verkehrspolitik
Eng mit der Klimafrage verknüpft ist die
Verkehrspolitik. Angesichts des «Öko-
rutschs» erstaunt es nicht, dass Mehr-
ausgaben für die Strasse oder einAus-
bau vielbefahrenerAutobahnabschnitte
auf sechs Spuren nicht mehr hoch im
Kurs stehen – und dass noch mehr Geld
in den öffentlichenVerkehr fliessen soll.
Auch einRoad-Pricing für den motori-
sierten Individualverkehr auf vielbefah-
renen Strassenkommt in die Nähe einer
Mehrheit, obwohl sich FDP, CVP und
SVP dagegen wehren.
Der neue Nationalrat will – gegen
den Widerstand von FDP und GLP –
den Service public in ländlichen Ge-
bieten stärker fördern und dafür sor-
gen, dass auch abgelegene Täler Bus-
verbindungenoder Poststellen behal-
ten. Beste Chancen hat einAusbau des
Mobilfunknetzes nach 5G-Standard. In
diesem Punkt stehen die Grünen iso-
liert da.Weder die Grünliberalen noch
die SP unterstützen sie in ihrem Kampf
gegen die Strahlung.
Gesellschaftspolitik
Die Grünliberalen und die Grünen wol-
len diePolitik nicht nur ökologischer,
sondern auch «progressiver» machen.
Das dürfte sich beispielsweise bei der
Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf
bemerkbar machen. Im neuen Natio-
nalrat will eine deutliche Mehrheit von
130 Mitgliedern mehr Geld in familien-
ergänzende Betreuungsstrukturen wie
Krippen investieren. Hier spielt eine
Allianz von SP, Grünen, GLP und der
selbsternanntenFamilienpartei CVP.
Erst im September hat der National-
rat dieVolksinitiative für vierWochen
Vaterschaftsurlaub mit 126 zu 66 Stim-
men abgelehnt und stattdessen eine ab-
gespeckteVariante mit zweiWochen
gutgeheissen. Dank der Hilfe der Grün-
liberalen wäre künftig aber selbst der
einmonatige Urlaub knapp mehrheits-
fähig. Geradezu ein Erdrutsch hat sich
bei derFrage des vollenAdoptions-
rechts für Homosexuelle ereignet: Spra-
chen sich 2015 erst 94 Nationalräte da-
für aus, sind es nun146. Die CVP-Frak-
tion ist knapp auf einJa umgeschwenkt,
so dass nur noch dieSVP nichts von
einer rechtlichen Gleichberechtigung
von Schwulen und Lesben wissen will.
Interessantes tut sich auch bei der
Individualbesteuerung. Die Konservati-
ven wehrten sich bis anhin erfolgreich
gegen denSystemwechsel. Doch die
Linke, die FDP und die GLP spannen in
diesemBereichzusammenundkommen
künftigauffastdreiViertelderStimmen.
In der Drogen politikkönnte dasPar-
lament neue Akzente setzen: Zu einer
Legalisierung des Cannabiskonsums
hatte es sich nie durchringenkönnen,
jetzt sprechen sich 114Parlamentarier
dafür aus.Das sind 29 mehr als unter
den vor vierJahren neu Gewählten.
Wirtschafts-und Sozialpolitik
Eine differenzierte Haltung zeigt sich
in derRentenfrage. Eine Erhöhung des
AHV-Alters auf 67Jahre ist vorderhand
chancenlos – zu gross ist derWiderstand
bei der Linken,aber auch beiTeilen von
SVP und CVP.Anders sieht es bezüg-
lich der zweiten Säule aus:111 National-
räte sind für eineSenkung des Umwand-
lungssatzes und damit für tiefere Ren-
ten. Die GLP stellt sich in dieserFrage
klar ins bürgerlicheLager und spielt das
Zünglein an derWaage.
AuchbeiihrenBemühungen,dieVer-
billigungen für Krankenkassenprämien
auszubauen,könnenSPundGrünenicht
auf den Support der Grünliberalen zäh-
len. Strengere Lohnkontrollen, welche
die Gleichbehandlung von Männern
undFrauensicherstellensollen,sindhin-
gegen mehrheitsfähig. DennTeile von
GLP, CVP und FDP unterstützen diese
ursprünglich linkeForderung. Noch-
mals eine andereKoalition ergibt sich
bei derFrage, ob diePolitik einheimi-
sche Unternehmen vor der Übernahme
durchausländischeKäuferschützensoll.
119 Nationalräte von SP, Grünen,SVP
und CVP sind dafür, während die FDP
und die GLP solchem Protektionismus
nichts abgewinnen kann.
Die beiden liberalenParteien weh-
ren sich ebenfalls als Einzige gegen eine
stärkereRegulierung von Online-Ver-
mittlungsdiensten wieAirbnb und Uber.
Das neueParlament wird sich weiter
mit derFrage beschäftigen müssen, ob
es dieKonzernverantwortungsinitiative
mit einem Gegenvorschlagkontern soll.
Die Smartvote-Daten zeigen allerdings:
In der grossen Kammer hätte selbst die
InitiativeAussicht auf Erfolg, 106 der
künftigen Nationalräte sprechen sich
dafür aus. Entscheidend ist, dass sich
die Grünliberalen hier auf die Seite der
kapitalismuskritischen Linken schlagen.
Bezüglich einesFreihandelsabkommens
mit den USA sindsie j edochim bürger-
lichenLager zu finden,was die Chancen
der rot-grünen Skeptiker mindert.
Sicherheitspolitik
Die grünenWahlsieger haben traditionel-
lerweisewenigfürdieLandesverteidigung
übrig, deshalb darf die Armee kaum auf
mehr Geld hoffen. Zudem ist eine Mehr-
heitderNationalräteneuerdingsdagegen,
dieZulassungsbedingungenfürdenZivil-
dienst zu verschärfen. In anderen Streit-
punktenhabendieArmeefreundeimPar-
lament jedoch die Nase vorne:Sie dürften
den Kauf neuer Kampfjets durchbringen
und einVerbot des Exports von Kriegs-
material verhindernkönnen.
Aussenpolitik
Wie sich die neuen Mehrheiten auf die
Aussenpolitik auswirken werden, lässt
sich schwer abschätzen – zu diffus ist die
Situation bezüglichRahmenabkommen.
Klar ist, dass ein EU-Beitritt ein abso-
lutes Minderheitenprogramm bleibt.
Eine Kandidaturder Schweiz für einen
Sitz im Uno-Sicherheitsrat hingegen
stösst auf breite Zustimmung.
Verabsolutieren darf man diePosi-
tionsbezüge der Nationalräteauf Smart-
vote nicht: Meinungen können sich
ändern,etwa wenn Neugewählte den
Druck derFraktion zu spüren bekom-
men.Ausserdem wird der Ständerat in
einzelnenFragen dieAkzente anders
setzen. Und ohnehin hat dasVolk
jeweils das letzteWort.
Derneue Nationalrat wirdeher denöffentlichenVerkehr fördernals das Strassennetz ausbauen. ANNICK RAMP/NZZ
Wahlbeteiligung
war viel tiefer
als vorhergesagt
Waren die Grünen vor allem
stark, weil vieleSVP-Wähler am
Sonntag zu Hause blieben? Im
Kanton Bern hat dieserFaktor
gespielt, in Zürich hingegen nicht.
CHRISTOF FORSTER, BERN
Die meisten Politbeobachter gingen
von einer überdurchschnittlichenWahl-
beteiligung bei den nationalenWah-
len aus. Sie begründeten ihre Prognose
mit den Klima- undFrauenstreiks, die
Wähler mobilisierten. Die hohe Zahl an
Wahlcouverts, die imVorfeld eingegan-
gen waren, schien ihnenrecht zu geben.
Doch die Experten verschätzten sich.
Die Beteiligung lag bei bloss 45,1 Pro-
zent, 3,4 Prozentpunkte tiefer als vor
vier Jahren. Seit1995 ist die Beteiligung
bei jeder nationalenWahl gestiegen,von
42 auf 48,5 Prozent (2011 und 2015).
Nicht in diesem Chor mitgesungen
hat derPolitologe Georg Lutz von der
UniversitätLausanne –aufgrund dieser
Überlegung. Lutz sieht zwei Haupttrei-
ber der steigendenWahlbeteiligung seit
1995: Polarisierung und Zusammenset-
zung des Bundesrats.
Die Mobilisierungvon rechts durch
die SVP hat bei den vergangenenWah-
len jeweils auf der Linken eine Gegen-
bewegung provoziert.Am Sonntag sei
nun aber einRückgang derSVP er-
wartet worden, sagt Lutz. Deshalb sei
die Mobilisierung auf der Gegenseite
schwächer gewesen.
Bundesratsthema fehlte
Der zweiteTreiber derWahlbeteiligung,
die Diskussion über die parteipolitische
Ausrichtung des Bundesrats, war viel
weniger stark als früher. Im Vorfeld der
Wahlen 2003 wurde spekuliert, ob die
SVP einen zweiten Bundesratssitz holen
würd e. Nach der Abwahl von Christoph
Blocher drehten sich die Diskussionen
darum, wann diePartei wieder mit zwei
Vertretern in derRegierung sitzt. Im
Dezember 2015 wählte dasParlament
Guy Parmelin in den Bundesrat.
Die SVP hat 2015 mit 29,4 Prozent
Wähleranteil ein ausserordentliches
Ergebnis geschafft.Damals gab es mit
der Migration einThema, das die Be-
völkerung stark beschäftigte und das
der SVPindie Hände spielte.2019hin-
gegen sprach niemand über Flüchtlinge.
Die SVP versuchte, über denRahmen-
vertrag das EU-Thema zu lancieren.
Aber dies verfing nicht, weil die Mate-
rie offensichtlich zukompliziert ist.
UnterschiedlicheMuster
Die These,wonach dieGrünen ihre
Leute besser mobilisiert haben als die
SVP, stimmt in derTendenz für den
Kanton Bern. Dort blieb dieWahlbetei-
ligung in den mehrheitlich links-grü-
nen Städten stabil, während sie in den
konservativen Gemeinden im Oberland
rückläufig war.
Im Kanton Zürich hingegen liegt die
Beteiligung flächendeckend rund 3 Pro-
zentpunkte tiefer als bei den nationalen
Wahlen 2015. Laut einer Analyse von
Peter Moser vom Statistischen Amt des
Kantons Zürich gingen die Gewinne
der Grünen vor allem aufKosten der
SP. Ein Zusammenhang besteht auch
zwischen GLP und FDP. In Gemein-
den mit grossen Gewinnen der Grün-
liberalen haben dieFreisinnigen Haare
lassen müssen. Bei derSVP hingegen
sehe erkeine solchen Erklärungsmuster
für dieVerluste. Mögliche Gründe sieht
Moser in der Umschichtung der Bevöl-
kerung und der demografischen Ent-
wicklung. Ein Teil derWähler, welche
die SVP bei in den1990er Jahren dazu-
gewonnen hat, sind nun in ein Alter ge-
kommen, in dem sie nicht mehrregel-
mässig an die Urne gehen.