Neue Zürcher Zeitung - 22.10.2019

(John Hannent) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Dienstag, 22. Oktober 2019


Als der Dichter auf die Bühne tritt,verw andelt
er sich in einen Erlöser. Eine vielköpfige Menge
erwartet ihn, begierig, seineWorte zu hören, von
denen sich dieVersammelten nicht weniger als Er-
lösung versprechen – ihrer Stadt, Italiens und, in
den aufgewühlten Zeiten kurz nach Ende des Ers-
ten Weltkriegs, vielleicht auch ihrer Seele.
Seit Monaten haben sie auf GabrieleD’Annun-
zio, den Schriftsteller und Kriegshelden,gewartet.
Nun endlich, es ist der 12. September1919 , steht er
vor ihnen, hoch oben auf demBalkon des Gouver-
neurspalastes vonFiume, dem heutigen Rijeka an
der nördlichen kroatischenAdriaküste. NachVor-
stellungD’Annunzios und anderer Nationalisten
sollte die Stadt bei der Neuzuschneidung Europas
an Italien gehen – ein Ansinnen, das die imFrüh-
jahr 1919auf derPariserFriedenskonferenz ver-
sammeltenPolitiker rundweg ablehnten. Stattdes-
sen beschlossen sie, Fiume dem frisch gegründe-
ten südslawischenKönigreich zuzuschlagen. Eine
naheliegende Entscheidung, die italienische Natio-
nalisten aber zum Skandal aufbauschten–und da-
mit zahlloseLandsleute in schäumendeWutbürger
verwandelten,die sich mit der Entscheidung nicht
abfinden wollten.


Messianische Geste


An dieser Hysterie hatte GabrieleD’Annunzio er-
heblichen Anteil. Mit feinem Gespür für den Zeit-
geist begabt, lieferte er diesem auch nach Kriegs-
ende die passenden Stichworte, allen voran die
griffigeFormel von dervittoria mutilata,dem «ver-
stümmelten Sieg».Verstümmelt sei dieser Sieg,
weil Italien aufFiume als Kriegsbeutenichtrech-
nen durfte.Also machte sich der imWeltkrieg auf-
grund seines militärischenWagemuts zum Kriegs-
helden stilisierte Dichter mithilfe zahlreicher
Unterstützer auf, die Stadt zu besetzen und zu Ita-
lien zu holen. An jenem 12. September zog er zu-
sammen mit rund 2000 Getreuen dort ein, um am
Abend mit messianischer Geste vor die Menge zu
treten: «Italiener vonFiume. Hier bin ich.» Allein
dieser Umstand,deutete er im nächsten Satz an,sei
der bedeutenden Neuigkeiten schon genug: «Weite-
res möchte ich heute nicht sagen.» Er sei eben da –
ganz so, als ob sich damit allesWeitere erübrigte, als
ob die italienische Zukunft der Stadt allein durch
seine Präsenz bereits gerettet sei.
D’AnnunziosAuftritt eröffnete eines der merk-
würdigsten und absurdesten politischen Schau-
stücke des 20.Jahrhunderts, ein Unternehmen,
das gescheitert war, noch bevor es überhaupt
begonnen hatte. Dass der italienische Dichter es
vermochte, mehrere tausend Anhängertrotz der
immer evidenterwerdendenAussichtslosigkeit sei-
nes Unterfangensrundfünfzehn Monate für die-
ses zu begeistern, war vor allem seiner Begabung
für politische Inszenierungen zu verdanken. Ihret-
wegen wird der knapp anderthalbJahre dauernde
Ausnahmezustand in derAdriastadt von den meis-
ten Historikern – zuRecht – als ästhetischeVor-
wegnahme desFaschismus gedeutet. Dort fan-
den sich nahezu alle Elemente, die später auch
in den grossen faschistischen Massenzeremonien
verwendet wurden:dieReden des charismatischen
Führers vomBalkon; dieAufmärsche undPara-
den; die schwungvollen Märsche und Hymnen, die


pathetischen Chorgesänge; dazu eine eigens ge-
schaffeneSymbolwelt: Flaggen, Uniformen, Ab-
zeichen; Münzen und Briefmarken;eigeneParo-
len und Losungen, inFiume etwa dieFormel «eia
eia alalà», intoniert nach Art des amerikanischen
«yippie,yippie yeah».
Gerade weilFiume ein aussichtsloses Unterneh-
men war, durfte sichD’Annunzio nicht nur an den
Verstandseiner Anhänger richten, sondern musste
vor allem an ihr Gefühl appellieren. «Wir sind
wenige gegen viele, wir sind wenige gegen die gan-
zen Welt», rief er an jenem Septemberabend in die
Menge. In Fiume, gab er zu verstehen, warenAus-
nahmegestaltenversammelt,Auserwählte, Mitglie-
der einerWillenselite, die es besser wussten als der
Rest derWelt und dieser darum ihrenWillen auf-
zwingen durften.
Anders formuliert:Fiume war in jenen Mona-
ten dieHeimstatt einer entgrenzten Subjektivität,
einer grenzenlos aufgepeitschten Menge, die ernst-
haft meinte, sich gegen die politischenRealitäten
ihrer Zeit stellen zukönnen.D’Annunzio und die
ihm Ergebenen lebten in ihrer ganzeigenenWelt,
aufrechterhalten von schrägen Überzeugungen,
deren tagtäglicher Beschwörung und Inszenierung
qua kraftvollerSymbolik – und nicht zuletzt, dank
ebenfalls in Scharen herbeigeeilter Italienerinnen,
einer gesteigerten erotischen Intensität.
Gewiss, das krudeFestspiel war nur möglich vor
der Folie des soeben zu Ende gegangenenWelt-
kriegs.Viele Männer hatten als SoldatenJahre
brutaler Kämpfe hinter sich – und nun nicht sel-
ten Schwierigkeiten,sich in eine neue, zivilen Spiel-
regeln folgende Ordnung einzufügen. 6000 Men-
schen waren in diesem Krieg täglich gestorben.Die
Frage nach dem Sinn des Ganzen lag auf der Hand
und mit ihr die nach der Legitimität jener Akteure
und Institutionen –Politiker, Generäle, Regierun-
gen, Staatsverfassungen –, die zu diesem Krieg ge-
führt hatten. Zugleich waren dieRepräsentanten
der neuen Ordnung zumindest in den ersten Mona-
ten nach Kriegsendenoch nicht in der Lage, diese
auch wirkungsvoll durchzusetzen. Die Revolutio-
näre vonFiumewie auch die ihnen verwandten
Freikorpskonnten allein imKontext einer noch
schwachen Staatsordnung entstehen.

Politische Enthemmung


Die Schwäche der damaligen Institutionen als Hin-
tergrund bietet aucheinen Schlüssel zumVerständ-
nis d er politischen Nervosität, vielleicht gar Hyste-
rie der Gegenwart.Denn auch sie trägt Züge der in
Fiume offenbarten politischen Enthemmung. Er-
staunlich istdas nicht. Denn wie damalsstehtauch
heute diepolitischeOrdnung zumindest inTeilen
wieder zur Disposition,wenn auch auf ganz andere
Weise.Klimawandel,Finanzkrise, Massenmigra-
tion, islamistischerTerrorismus: Herausforderun-
gen wie diese bringen den Nationalstaat an seine
Grenzen.Darüber geraten seine politischen Insti-
tutionen in erheblicheVerlegenheit.
Dies hat dramatischeFolgen, ablesbar etwa an
der schrumpfenden Bedeutung der ehemaligen
Volksparteien. ÜberJahrzehnte kanalisierten sie
die politischen Energien ihrer Mitglieder undWäh-
ler – und domestizierten,zivilisierten sie zumindest
im Ansatz. Der politischeWettbewerbfolgte eta-

bliertenFormen. Der Schlagabtausch mochte bis-
weil en hart sein,respektierte im Grundsatz aber
den parlamentarischenKodex – inklusive einiger
Ausnahmen, die dieRegel bestätigten. Man war
sich darin einig, nicht einig zu sein, und akzeptierte
dies als selbstverständlicheVoraussetzung des poli-
tischenWettbewerbs unter Demokraten.
Heute, in Zeiten «alternativloser» Sachzwänge –
der Begriff wurde 2011 zum Unwort desJahres ge-
kürt – tritt an die Stelle der politischen eine mora-
listisch aufgeladeneAuseinandersetzung. Streitfra-
gen werden nicht selten zu letztenFragen stilisiert,
die, so derTenor, nur eine einzige politisch akzepta-
bleAntwort zuliessen und ohne jedes Zögern anzu-
gehen seien.Die Erregungsgesellschaft der Gegen-
wart fordertauf ihreWeise wenn nicht totale, so
doch sehr weitgehende Hingabe.Ambivalenzen so-
wie der Sinn für die unumgänglichen Nebenwir-
kungen aller politischen Entscheidungengeltenals
Skandal, dem ehedem moderaten Streit imParla-
ment ist der lauteTon der Strasse und des Internets
zur Seite getreten, ein schroffer Gestus desRech-
thabensundBeleidigtseins,derdenpolitischenDis-
kursverengt.DieReizbarkeitsteigt,dieBereitschaft
zum Kompromiss schwindet.Optionenvielfalt – der
Kern allen demokratischen Handelns – gilt nicht
mehralsSegen,sondernalsZumutung.AndieStelle
der Politik,verstanden alsKunst des Interessenaus-
gleichs,trittdröhnendesPathos,Toleranzweichtder
Unduldsamkeit,derZeitgeistpflegteineentgrenzte
Subjektivität, die auf Kritik allergischreagiert.

Nochmals Herr der Lage


All dies geschieht in dem Bewusstsein, dass der
westliche Lebensstil seine besten Zeiten womög-
lich hinter sich hat. Im Kleinen verbindet sich die-
ser Eindruck mit der Sorge, auch die eigene Bio-
grafiekönnte am Ende ganz anders verlaufen als
geplant, nämlich nicht nach oben, sondern nach
unten. «Disobbedisco» («Ich gehorche nicht»)
schleuderteD’Annunzio einst dem italienischen
Parlament entgegen. Sein höhnischer Ruf er-
tönt auch heute wieder. GrölendeRechtsextreme
hier, die Vermummten des schwarzen Blocks da:
In solchen Milieus hat nuancierte Urteilsfindung
die äusserste Schwundstufe bereits erreicht.Wie
einst in dem durch einen militärischen Cordon ab-
geschirmtenFiume haben sich auch heute Echo-
räume gebildet, in welche Gegenstimmen kaum
mehr durchdringen.
«Fiume ist ein Leuchtturm, erstrahlend in einem
Meer der Niedertracht», rief D’Annunzio seinen
Anhängern am Abend des 12. September 1919 zu.
Damit umriss er jenesFreund-Feind-Denken, das
seine Anhängerdie folgendenfünfzehn Mona-
ten lang inTrance versetze. DasAbenteuer endete
durch einen Akt der Gewalt: ItalienischeTruppen
beschossen im Dezember1920 die Stadt und zwan-
gen D’Annunzio zurAufgabe. Mit Extremisten, er-
kannte dieRegierung inRom, lässt sich nicht ver-
nünftig sprechen. Dieses Mal wurde sie ihrer noch
Herr. Bald darauf musste sie feststellen, wie wirk-
sam sich mit finsteren Affekten Macht sammeln
liess:Alsbald übernahm Mussolini den Staat.

Kersten Knipplebt als Romanis t und Publizist in Köln.

Der Faschismus


entspringt dem


Geist der Gewalt


Vor 100 Jahrennahmder Dichter Gabriele D’Annunzio


in Fiume, dem heutigen Rijeka an der kroatischen Adriaküste,


die ästhetischen Strategien des Faschismus vorweg.


Heute haben extreme und psychotische politische Weltbilder


wiederHochkonjunktur.Gastkommentar von Ke rsten Knipp


An der Hysterie hatte


Gabriele D’Annunzio


erheblichen Anteil.


Mit feinem Gespür für den


Zeitgeist lieferte er diesem


nach Kriegsende die Stich-


worte, allen voran die Formel


vom «verstümmelten Sieg».

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