20 ZÜRICH UND REGION Dienstag, 22. Oktober 2019
Der St adt stehen zu wenig Trams zur Verfügung –
jetzt wird der Fahrplan eingeschränkt SEITE 21
Zwei Abgewählte wollten es am Sonntag
nochmals wissen – mit unterschiedlichem Erfolg SEITE 22
Die Grünen preschen vor, die SVP ziert sich
Vor der Endrunde der Zürcher Ständeratswahl lichtet sich das Kandidatenfeld
RETO FLURY, MICHAELVON LEDEBUR,
FABIANBAUMGARTNER
Die Grüne Marionna Schlatter oder die
GrünliberaleTiana Moser – eine der Zür-
cher Ständeratskandidatinnen zieht sich
zurück, so viel schien am Sonntagabend
klar. Sollte die eineFrauenkandidatur im
zweitenWahlgangreelle Chancen haben,
darf die andere nicht weitergeführt wer-
den. Doch welche würde es sein?
DieseFrage stand am Montagvormit-
tag imRathaus im Zentrum. Unter den
Protagonistinnen herrschtesichtlich Ner-
vosität, wie sich amRand der Kantons-
ratssitzung zeigte.Immer wieder steck-
ten Schlatter und Corina Gredig, Co- Prä-
sidentin der Grünliberalen,dieKöpfe zu-
sammen und gingen wieder auseinander.
Dann wischte Schlatter im Saal eifrig auf
ihrem Smartphone herum, derweil sich
Gredig zwischen zweiTelefonanrufen
hastig mitParteikollegen austauschte.
Einerasche Einigung zeichnete sich
nicht ab,im Gegenteil.Vertreter der einen
Partei warfen der jeweils anderen vor, sie
beanspruche zu Unrecht den zweiten Sitz.
Die Grünliberalen warfen in dieWaag-
schale, dass sichMoser in der Mitte posi-
tioniereund das grösserePotenzial aus-
schöpfenkönne. Die Grünen verwiesen
auf Schlatters gutes Abschneiden und
darauf, dass man von Moser angesichts
ihres Bekanntheitsgrads ein besseres Er-
gebnis erwartet habe.
Im Ständerat «nichtsGeniales»
Mitte Nachmittag lenkten die Grünlibera-
len ein.In einem knappen Communiqué
kündigtendie Grünen daraufhin an, dass
ihre Kandidatin in die Endrunde ziehe.
Schlatter habe genau das Profil, das es
jetzt nach dieser Klima- undFrauenwahl
brauche, sagte dieFraktionschefin Esther
Guyer im Namen derParteileitung. Über-
dies halte sich die Überschneidung mit
DanielJositsch in Grenzen.
EineWahl Schlatters würde dazu füh-
ren, dass ausgerechnet derWirtschafts-
kanton Zürich mit zwei linkenPoliti-
kern im Ständerat vertreten wäre. Guyer
sieht darin allerdingskein Argument
gegen Schlatter. Jahrzehntelang hät-
ten die Bürgerlichen betont, wie wichtig
eine ungeteilte Standesstimme sei. Und
jetzt, da sich eine auf der anderen Seite
abzeichne, herrsche plötzlichAufregung.
«Das ist völlig übertrieben.»
Die Grünenkönnen für den zwei-
ten Wahlgang mit der offiziellen Unter-
stützung der Zürcher SP-Spitzerechnen,
wie Co-Parteipräsident AndreasDaurù
am Montag sagte.Die grüneWelle sei
da. «Ein links-grünesStänderatsduo für
Zürich wäre daher passend.» Ob auch
die Grünliberalen Schlatter empfehlen
werden, ist laut Co-Präsidentin Gredig
noch offen.Auf den 31. Oktober ist eine
Vorstandssitzung angesetzt, an der über
Unterstützung oder Stimmenthaltung
entschieden werde.
Die Grünliberalen halten laut Medien-
mitteilung zwar an ihrer Überzeugung
fest, dass MosersWahlchancen grösser
gewesen wären als diejenigen Schlat-
ters. DiePanaschierstatistik der Natio-
nalratswahl habe gezeigt, dass Moser bei
allenParteien ein grossesPotenzial habe.
Doch wenn es wie im erstenWahlgang ein
grosses Kandidatenfeld und eine Block-
bildung gegeben hätte, wären ihreChan-
cen klein gewesen,sagtGredig. Es ergebe
keinen Sinn, dass zweiFrauen mit einem
ökologischen Profil sich Stimmen strei-
tig machten.
Nicht nur grünePolitiker beratschlag-
ten sich imRathaus eifrig. Kurz nach Mit-
tag tauchte auch dieSVP-Spitze mit Prä-
sidentPatrickWalder, Ständeratskandi-
datRogerKöppelund ChristophMör-
geli auf und verschwand für eine Stunde
in einem Sitzungszimmer. Wie Walder
später imTreppenhaus betonte, hat die
kleineRunde bloss eine Unterredung und
keine formelle Sitzung abgehalten. Der
entscheidendenFrage, ob Köppel noch-
mals antritt, wichen sowohl der Präsident
als auch der Kandidat aus.Walder ver-
wies auf dieVorstandssitzung von Don-
nerstag. Köppel wiederholte seineAus-
sage vom Sonntag, ein solcher Entscheid
müsse sorgfältig mit derPartei bespro-
chen sein.
Schon amWahlabend hatteKöppel
seineWorte mit auffällig viel Bedacht ge-
wählt. Er habe einenThemenwahlkampf
geführt. DerWahlkampf für einen zwei-
ten Wahlgang werde anderer Natur sein.
Man kann dies dahingehend inter-
pretieren, dass einRückzugKöppels die
wahrscheinlichereVariante ist. Nahrung
für dieseThese lieferte Christoph Blo-
cher in seinerSendung«Tele Blocher»
vom Sonntagabend. Zwar hielt sich Blo-
cher mitkonkretenRatschlägen anKöp-
pel zurück, «das muss sich diePartei gut
überlegen und er selberauch». Doch Blo-
cher lobte ihn über den grünen Klee für
seineTour durch die162 Zürcher Ge-
meinden.Dadurch sei es derPartei ge-
lungen, dieVerluste zu minimieren.Aber
eigentlich seiRoger Köppelkein Stände-
ratstyp. Es brauche im Ständerat ja eher
Mittelmässigkeiten und «nichts Genia-
les».Auf Anfrage wollte sich Blocher am
Montag nicht weiter zumThema äussern.
Tatsächlich dürfte fürKöppel folgende
Überlegung eineRolle spielen: Mit dem
Rückzug zum jetzigen Zeitpunktkönnte
er seinen Einsatz als Erfolg verbrämen,
dem mittelmässigen Abschneiden im
Ständeratswahlgang zumTrotz.Köppel
wäre nach dieser Lesart derRetter der
Partei, der obendrein ein hervorragen-
desResultatals Nationalrat gemacht
hat. Sollte er in einem zweitenWahlgang
scheitern,liesse sich dies kaum mehr be-
schönigen. Die Niederlage hinterliesse
womöglich Kratzer am Image.
«Wir müssen zusammenstehen»
Eine dezidierte Meinung zumThema
hat NicoleBarandun, die für die CVP
als Ständeratskandidatin angetreten war
und sich am Montag wie EVP-Kandidat
Nik Gugger zurückgezogen hat. Sie sagt:
«Wenn wir sicherstellen wollen, dass der
Kanton Zürich wenigstens einen wirt-
schaftsfreundlichen Standesvertreter hat,
müssen wir zusammenstehen.» In einem
erstenWahlgang sei es legitim, dass ein
Kandidat alsWahlkampflokomotive fun-
gie re. Nun aber sei die Zeit der saube-
ren strategischen Planung gekommen.
Eine Ständeratskandidatin Schlatter
habe dank Unterstützung der SP-Wäh-
lerschaft durchaus Chancen. SollteKöp-
pel antreten und Schlatter obsiegen,wäre
dies derSVP anzulasten. «Ich erwarte von
derPartei,dass sie ihreVerantwortung
wahrnimmt.»
SVP-intern sind verschiedene Stim-
men zu vernehmen – solche, die wiePar-
teipräsidentWalderKöppels Einsatz in
einem zweitenWahlgang befürworten,
und solche, die die Übungabbrechen
wollen. Zu Letzteren gehört der aus dem
Nationalrat abgewählte Claudio Zanetti.
Er legt seinen Standpunkt mit gewohnt
markigenWorten dar. «Wir müssen jetzt
nicht auf Kamikaze machen. Es bringt
nichts, nochmals viel Geld zu verbren-
nen, nur um zu zeigen, dass wir noch da
sind.»Roger KöppelsResultat im ersten
Wahlgang sei nun einmal nicht gut genug
gewesen, als dass Erfolgsaussichten in
einem zweiten bestünden.Köppel habe
einen enormen Effort geleistet,und es sei
ein wenig traurig, dass diesvon derWäh-
lerschaft nicht stärker honoriert worden
sei. Aber damit gelte es sich abzufinden.
Wenn man dann alsSVP vor derFrage
steh e, ob Noser oder Schlatter die bes-
sereWahl sei, sei dies ein «No-Brainer»,
so Zanetti. EinFreisinniger sei besser als
eine Linke, «trotz allem».
Der Druck aufKöppel, sich zurück-
zuziehen, wird nicht nur parteiintern und
im bürgerlichenLager aufgebaut.Auch
Wirtschaftsverbände äussern sich ent-
sprechend. Der kantonale KMU- und
Gewerbeverband hat vorWochen eine
klare Empfehlung ausschliesslich für
Ruedi Noser abgegeben. Nach dem ers-
ten Wahlgang appelliert nun die Zürcher
Wirtschaftskammer, der viele Grössen
der ZürcherWirtschaft angehören, aus-
drücklich anRoger Köppel, sich zurück-
zuziehen.Andernfalls bestehe das Risiko,
dass angesichts der vorherrschenden
KlimadebatteThemen untergingen, die
ebenfalls wichtig seien, sagt Präsidentin
Karin Lenzlinger. Die ZürcherWirtschaft
sei mehr denn je auf eine Stimme in Bern
angewiesen, die ihre Interessen vertrete.
Eine ersteAuswertung derResul-
tate der Ständeratswahlen zeigt, dass ein
grosserTeil derSVP-Wählerschaft der
Empfehlung ihrerParteileitung gefolgt
ist. Viele schrieben lediglichden Namen
vonRogerKöppel auf denWahlzettel
und liessen die zweite Linie leer. Umge-
kehrt gaben lautPeter Moser,Analyse-
chef beim StatistischenAmt, wahrschein-
lich sogar mehr FDP-Anhänger dem SP-
MannDanielJositsch ihre Stimme als
demSVP-Kandidaten. Dies erklärt sich
auch damit, dassKöppel imWahlkampf
immerwieder gegen dieFreisinnigen und
Noser austeilte. Die grünliberale Kandi-
datin Moser wiederum wurde lediglich
von ihrer eigenenPartei sowie der Mitte
und einigen Grünen unterstützt,während
Marionna Schlatter (gp.) auf den Support
des linkenLagers zählenkonnte.
Die Grüne Marionna Schlatter fordert den freisinnigen Ständerat RuediNoserheraus. ENNIO LEANZA / KEYSTONE
Noch nie sandte Zürich so viele Parlamentarierinnen nach Bern
Grosse Unterschiede bei den Parteien – vorallem bei den Linken ist der weibliche Anteil hoch
LENA SCHENKEL
Die Zürcher Delegation in Bern wird
nicht nur grüner und linker, sondern auch
weiblicher. 16 der insgesamt 35 Sitze wer-
den künftig vonFrauen besetzt. Ihr An-
teil beträgt damit 46 Prozent.Das ist ein
Rekord und eine enorme Steigerung
gegenüber der letzten Legislatur, als der
Frauenanteil mit 11 Zürcher National-
rätinnen nicht einmal ein Drittel betrug.
DerFrauenanteil liegt bei der Zürcher
Delegation sogar um 4 Prozentpunkte
höher als jener der grossen Kammer ins-
gesamt. Zuvor war die ZürcherFrauen-
quote im nationalenParlament jedoch
nicht etwakontinuierlich angestiegen.
Nach dem Höchststand1995 und 1999
mit 41 Prozent sank sie imJahr 2011 wie-
der auf 29 Prozent. Bei denletztenWah-
len 2015 betrugsie 40 Prozent,nahm je-
doch imLaufe derLegislatur aufgrund
von Rücktritten auf 31,4 Prozent ab.
Innerhalb derParteien gibt es grosse
Unterschiede. Abgesehen von den Ein-
Mann-Delegationen der CVP und der
EVP ist dieFrauenquote bei der stärksten
Partei, derSVP, am geringsten: DiePar-
tei schickt zweiFrauen und acht Männer
nach Bern undkommt damit auf einen
Frauenanteil von 20 Prozent.Am anderen
Ende der Skala befindet sich die SP mit
71 Prozent:Fünf ihrer sieben Sitze werden
Frauen besetzen. Es folgen die Grünlibe-
ralen mit 67 Prozent und die Grünen mit
60 Prozent. Bei denFreisinnigen machen
die Frauen wieder weniger als die Hälfte
aus, nämlich 40 Prozent.Dass derFrauen-
anteil in der Zürcher Delegation steigt,
liegt also voralleman den linkenParteien.
Frauen rücken wieder vor
Es wurden indes nicht nur insgesamt ver-
hältnismässig mehrFrauen gewählt,viele
Frauen wurden auch besser gewählt,als es
von ihrem Listenplatz her zu erwarten ge-
wesen wäre. Das Phänomen hatte sich be-
reits bei den Kantonsratswahlen gezeigt:
Das Volk katapultierte Kandidatinnen
nach vorn, indem sie vor ihnen platzierte
Kandidaten strichen.Von Listenplatz 11
aus wäre dieSVP-FrauTherese Schläpfer
nicht wiedergewählt worden.Sie machte
jedoch zweiRänge gut und hängte Clau-
dio Zanetti und Martin Haab ab. Nicole
Barandun von der CVP sprang vom vier-
ten auf den zweitenRang und wäre ge-
wählt worden – hätte ihrePartei nicht
einen Sitz verloren.Auf der FDP-Liste
rückten ebenfalls mehrereFrauen nach
vorne, die beiden gewählten und sehr weit
oben in der Liste aufgestellten DorisFiala
undRegine Sauter schnitten indes nicht
besser ab, als sie platziert waren.
Eine Panaschier-Königin
Bei der GLP verbesserten sich fast alle
Frauen, manche sogar enorm: Andrea
Gisler etwa um sechs Plätze, Franziska
Barmettler gar um zehn.Auch von den
gewählten Sozialdemokratinnen mach-
ten alle Plätze gut bis auf Co-Präsiden-
tin Priska Seiler Graf, die vom zweiten
auf den viertenRang abrutschte. Die
neugewählte CélineWidmer etwa liess
überraschend die bisherigen Thomas
Hardegger und Martin Naef hinter sich.
JacquelineBadran sprang vom dritten
auf den ersten Platz. Sie wurde auch am
häufigsten vonWählerinnen undWählern
and erer Parteien unterstützt und ist somit
Panaschier-Königin. Nur bei den Grünen
waren die prominentesten Überflieger
männlich: Die BisherigenBastien Girod
undBalthasar Glättli überrundeten die
Spitzenkandidatin Katharina Prelicz-
Huber und die zweitplatzierte Stände-
ratskandidatin Marionna Schlatter klar.