Neue Zürcher Zeitung - 22.10.2019

(John Hannent) #1

22 ZÜRICH UND REGION Dienstag, 22. Oktober 2019


Mörgelis Tragödie, Preliczs Triumph


Zwei politische Urgesteine setzte n am Wahlsonntag zu einem Co meback an


REBEKKA HAEFELI UND LENA SCHENKEL


Warum tun sie sich das an?, dürften sich
viele gedacht haben. Obwohl derSVP-
Politiker Christoph Mörgeli und die
Grüne Katharina Prelicz-Huber wissen,
wie bitter sich eineAbwahl aus dem
Nationalrat anfühlt, traten sie nochmals
an. Der angriffigeMörgeli gab sich im
Wahlkampf geläutert und besonnen. Er
dürfte nach der beruflichen auch auf
eine politischeRehabilitierung gehofft
haben. Prelicz-Huber wiederum wollte
ihre langjährige Erfahrung unbedingt
nochmals auf nationaler Ebene einbrin-
gen, da sich dort am meisten erreichen
lasse. Natürlich durfte sie zudem damit
rechnen, von der grünenWelle zu pro-
fitieren.Während sie mit Listenplatz 1
aus derPole-Position startete,musste
sich Mörgeli mit dem15.Rang begnügen.
PreliczsPartei gewinnt am Ende drei
Sitze, MörgelisPartei verliert zwei.Tr otz-
dem wird am Abend auch bei der Zür-
cherSVP in Illnau applaudiert und ge-
jubelt – allerdings erst, als der Stände-
ratskandidatRogerKöppel den Saal
desRestaurantsRössli betritt. Hinter
ihm geht Christoph Mörgeli, weitgehend
unbemerkt imTr ubel. Er, der einst wie
Köppel scharfzüngiganvordersterFront
politisierte und polarisierte, wurde aber-
mals in die zweiteReihe versetzt. Er hat
dieWiederwahl nicht geschafft und darf
nichtzurück ins Scheinwerferlicht.Trotz-
dem lächelt er im «Rössli»-Saal jedem
zu; er wirkt, alskönne ihm die Nieder-
lage nichts anhaben.
Im Cabaret Voltaire in Zürich1
ist die Stimmung anhaltend im Hoch.
Hier feiern die Grünen ihrenTr iumph.
Für die 60-jährige Katharina Prelicz-
Huber, ein Urgestein der ZürcherPoli-
tik,waren dieseWahlenauspersönlicher
Sichttrotz dem allgegenwärtigen Klima-
thema eine Zitterpartie. Um 20 Uhr 18
fällt alleLast von ihr ab. In dieser Mi-
nute am Sonntagabend spricht sich’s
herum: Die letzten Stimmen aus dem
letztenWahlkreis in der Stadt Zürich
sind ausgezählt. Nun ist klar: Das Come-
back ist geschafft.


«DasVolk ist mein Chef»


Prelicz-Huber, die Spitzenkandida-
tin auf der Nationalratsliste der Zür-
cher Grünen, ist gewählt. Die Anspan-
nung weicht von ihr. Ihre Schultern im
schwarz-weiss gemusterten Jäckchen
scheinen einen Zentimeter tiefer zu
fallen, ihr Gesicht wird weich. Sie um-
armt ihren erwachsenen Sohn und ihren
Mann. Die beiden sind – zusammen mit
ihrer Mutter und ihrem Bruder – mit
einem Blumenstrauss insWahllokal der
Grünen gekommen.
Im Dezember wird sie zum ersten
Mal nachJahren wieder mit einem poli-
tischenAuftrag in den Zug nach Bern
steigen, unterwegs zurWintersession.
Es wird ihr vieles bekannt vorkommen,
denn sie sassschon einmal imNational-
rat: zwischen 2008 und 2011, bis sie ab-
gewählt wurde. 20 15 versuchte sie be-
reits ein Comeback – ohne Erfolg. Da-
mals kam sie auf dem dritten Platz ins
Ziel und ging damit leeraus.Heutehat
es geklappt.
Mörgelis Comeback-Versuch in den
Wahlen 20 19 ist hingegen gescheitert.
Die eigenenWählerreichten ihner-
neut nach hinten durch, vom15. auf den
20.Rang. Immerhin: Ganz so arg und
unerwartet wie 20 15 erwischt ihn die
Wahlklatsche diesmal nicht.Damals war
der zuvor stets sehr gut gewählteSVP-
Nationalrat im Nachgang der Affäre um
seine Tätigkeit am Medizinhistorischen
Institut der Universität Zürich vom 2.
auf den 20.Platz zurückgeworfen und
damit klar abgewählt worden.
Das habe er schwer genommen, sagte
Mörgeli imFrühling in einemTV-Inter-
view – weil sein Amt ihm wichtig gewe-
sen sei. Sollte es diesmal nicht klappen,
sei daskeinWeltuntergang. «DasVolk
ist mein Chef», sagte er. «Wenn ich nicht
gewählt werde, ist klar, dass die Leute
mich nicht mehr wollen in derPolitik.»
Auch nun, imRestaurantRössli in Ill-
nau, gibt er sich bescheiden. Nicht er,


sondern diePartei und Ständeratskandi-
datRogerKöppel seien imZentrum die-
serWahl gestanden.Wie stark ihn die
erneute Niederlage persönlich tatsäch-
lich trifft, gibt er nicht preis. Er hat sein
Pokerface aufgesetzt.

Greta und die «Klimahysterie»


Prelicz-Huber wagt am Nachmittag des
Wahlsonntags noch nichtan einen Erfolg
zu glauben. Die vergangenen Monate
haben sie viel Energie gekostet. Eigent-
lich sei sie nudelfertig,sagt sie.Sie sitzt
in ihrerKüche und trinkt Schwarztee. Sie
habeversucht, sich mit Gartenarbeiten
abzulenken,amMorgen sei sie selber
an der Urne gewesen. Statt über ihren
Seelenzustandredet sie lieber über die
GrünePartei–und über «Greta, die für
vieleJunge zurSymbolfigur geworden
ist, weil sie dranbleibt».Auch die Grünen
seien drangeblieben am Klimathema.
ÜberJahre,nicht erst seit gestern, wie
andereParteien. «Unskonnte man an
unseren Leistungen, unserem Programm
und unseren Überzeugungen messen.»
Mörgeli sagt, dieSVP sei bei den Kan-
tonsratswahlen imFrühling vom Klima-
Tsunami überrollt worden und habe da-
mals einen zu bravenWahlkampf ge-
führt. Das habe ihn motiviert,nochmals

anzutreten, obwohl ihm in derPartei
viele davon abgeraten hätten. Er selbst
nennt seinen Entscheid «mutig». Ein
SVP-Kollege im «Rössli»sagt, Mörgeli
habe wohl schlechte Berater gehabt. Ein
anderer, er sei vonParteistrategen darum
gebeten worden,sich nochmals zurWahl
zu stellen. Ein dritter sagt, es sei Mörgelis
persönlicher Entscheid gewesen.
Der Gescheiterte selbst analysiert
dieLage am Abend desWahlsonntags
so: DieSVP habe aufgrund der Klima-
debatte beziehungsweise «Klimahyste-
rie» auch bei den nationalenWahlen mit
einem massiven Einbruchrechnen müs-
sen. Nun seien dieVerluste weniger stark
als erwartet. «Es hat sich gezeigt, dass es
sich lohnt, wenn wir energisch gegen die
Klimahysterie antreten und dieKonse-
quenzen, vor allem auch dieKosten,auf-
zeigen», hält Mörgeli fest.Das seiauch
dankRogerKöppel gelungen, der diese
Themen als Zugpferd derPartei aufsTa-
pet gebracht habe.
Ein solches Zugpferd hätte auch Mör-
geli sein wollen. «Ich dachte, es braucht
jemanden,der die Leute mitzieht in die-
semWahlkampf», sagt er; schliesslich sei
er ein bekanntes Gesicht.Inzwischen
sitzt er auf einem schwarzen Ledersessel
imFoyer des «Rössli». Drinnen im Saal
klopfen dieParteikollegenRogerKöp-

pel auf die Schulter. Mörgeli sagt: «Ich
habe zurKenntnis genommen, dass mein
aktiver Einsatz anvordersterFront weni-
ger gefragt ist.» Er habekeineProbleme
damit, in der zweitenReihe zu sein – das
habe er schon unter Christoph Blocher
bewiesen.
Bemerkenswert ist: DieSVP gab sich
nach einem eher angepasstenWahl-
kampf imFrühling kämpferisch und pro-
vozierte zum Beispiel mittels des Plakats
mit dem wurmstichigen Apfel.Just der
ehemals bissigsteParteiexponent, Mör-
geli, scheint aber zahm geworden zu sein.
Seine–nach zwei schwerenAutounfäl-
len 2008 und 20 18 – gesundheitlichen,
beruflichen und politischenRückschläge
scheinen ihn geprägt zu haben. In sei-
nem Empfehlungsschreiben für dieWahl
schrieber, er sei «sicher auch überlegter,
bedachtsamer und abgeklärter» gewor-
den.VondenWählerinnen undWählern
wurde das nicht honoriert.
Katharina Prelicz-Huberredet sich
schnell inRage, politisiert mit Haut und
Haar, gestikuliert wild. Sie musste sich
angewöhnen, imFernsehen auch ein-
mal zu lächeln, anstattWut undVerve
nach aussen zu zeigen. Als grünePoli-
tikerin hat sie vieleAuf und Ab erlebt.
«Mein bitterster Moment war die Ab-
wahl», hält sie fest. «Das war schlimmer,

als vierJahre später nicht gewählt zu wer-
den.» 2011 habesie gewisse Machtspiele
der nationalenPolitik noch nicht genau
durchschaut, sagt sie rückblickend. «Ich
habe erst da richtigrealisiert, dass man
bei einersolchenWahl faktisch eben
doch alleine kämpft.» Heute scheint
sie jede Spur von Naivität verloren zu
haben: «Meine Erfahrungkommt mir zu-
gute», sagt sie. «Das ist mein Plus gegen-
über denJungen.»
Neben Katharina Prelicz-Huber
haben am Ende desTages zwei weitere
grüneFrauen aus dem Kanton Zürich
di e Wahl in den Nationalrat geschafft:
Marionna Schlatter, die Kantonalprä-
sidentin mitJahrgang1980, und Meret
Schneider,Jahrgang1992. Prelicz-Huber
könnte von beiden die Mutter sein. Im
Wahlkampf habe man sie das nie spüren
lassen,rekapituliert sie – im Gegenteil.
«Ich habe dieseWahlen als extrem team-
orientiert erlebt.Und ich blühe auf, wenn
ich mich imTeam für Gerechtigkeit ein-
setzen kann.» An den zahlreichen Stand-
aktionen habe sie sehr viel Zuspruch er-
fahren, gerade auch von jungen Leuten.
Das zeige ihr, dass ihre Erfahrung wert-
geschätzt werde. EineWahl wäre aus
ihrer Sicht die Bestätigung dafür,dass
sie stets geradlinig gekämpft habe.

Tief gefallen, hoch gelobt


So schlecht Mörgelis Standing inzwi-
schen bei derWählerschaft ist, so gut ist
es noch immer an derParteispitze.Auch
amWahlsonntag magin Illnau niemand
ein schlechtesWort über ihnverlieren:
Alle betonen, wie sehr sie sein Schei-
tern bedauerten und wie stark er sich in
derPartei verdient gemacht habe. Gre-
gorRutz etwa bezeichnet ihn als «zu-
verlässigen Schaffer», auf den man zäh-
lenkönne.ImGegensatz zu dem in den
Medienkolportierten Bild sei Mörgeli
sehr differenziert und weder ein Blen-
der noch ein Schwätzer. Köppel nennt
ihn «selbstlos» und «authentisch».
JehöherseineParteikollegen Mör-
geli loben, desto tragischer erscheint
seinFall. «Er hat es nicht verdient, dass
seine politische Karriere so zu Ende
geht»,sagt Max Binder. «Einesol-
che Niederlage mag man niemandem
gönnen», pflichtetToni Bortoluzzi bei.
«Mörgeli leistet als Programmchef der
Kantonalpartei ausgezeichnete Arbeit,
doch das ist ebenkeineWahlgarantie.» –
Müsste er sein Amt nun nicht abgeben?
«Die Nachfolgesuche für die Ämter ist
im Gang», sagt Mörgeli – man werde se-
hen, wer sich finden lasse. Er hegekei-
nen Groll gegen diePartei, sagter, und
werde sicher nichts hinknallen. «Ich
würde es sehr schätzen, wenner weiter-
hin rückwärtigen Dienst leistet», meint
Binder.Auch der Präsident der Kan-
tonalpartei,PatrickWalder, sagt: «Mit
seinem analytischen und strategischen
Denken sowie seiner Erfahrung ist und
bleibt er der richtige Programmchef.»
Die Zürcher Grüne Prelicz-Huber
weiss aus Erfahrung, dass in Bern hohe
Erwartungen in sie gesetzt werden –
nicht nur politische.Als Nationalrätin
wird sie der dauernden Beobachtung in
der Öffentlichkeit ausgesetzt sein. «Mir
ist bewusst, dass ich alsMorgenmuffel
nicht mit grauem Gesicht und schlech-
terLaune auf die Leute zugehen kann»,
sagt sie selbstkritisch. «Und ich muss
mir eine Garderobe zurechtlegen, wie
ich sie sonst niemals hätte.»Von einer
Frau erwarte man im Bundeshaus, dass
sie während der dreiwöchigen Session
nicht zweimal dieselben Kleider trage.
Als ihr um 20 Uhr 18 am Sonntag-
abend ein grosser Stein vom Herzenfällt,
hat PreliczTr änen in denAugen. Die ge-
glückteWahlistfür sie dasTüpfelchen
auf dem i für ihre Karriere.Nun wird
sie feiern – auch ihren 60. Geburtstag,
der vor einerWoche war.Auch für die-
sesFest war sie vor denWahlen viel zu
angespannt.
«Roger, wollen wir?», fragt Mörgeli
in Illnau seinenKollegenKöppel. «Ja, ab
nach Hause zuFrau und Kindern», sagt
dieser mit einemLachen. Und so schrei-
ten die beiden in ihren dunklen Anzügen
nebeneinander zurTür hinaus.

Wiestark ChristophMörgelidie Niederlagetrifft, gibt er nicht preis.Hier mit AlexandraPfister von der SVP Uster. KARIN HOFER / NZZ

KatharinaPrelicz-Huber vor demWiedereinzugin denNationalrat. ENNIO LEANZA / KEYSTONE
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