Neue Zürcher Zeitung - 22.10.2019

(John Hannent) #1

Dienstag, 22. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 27


Berater-Legende Roland Berger

stellt sich sein er Familiengeschichte

Der Vater sollgemäss Recherchen des «Handelsblatts» nicht Opfer, sondern ein Profiteur des Nazi-Systems gewesen sein


Über sieben Millionen Mitglieder


hatte die nationalsozialistische


Partei.Auch Georg Berger


gehörte dazu. Nun muss sein


Sohn wohl seinVaterbild


korrigieren.


CHRISTOPH EISENRING


Es ist in Deutschlandkeine Seltenheit:
Die Nachfahren der im Nationalsozia-
lismus aktiven Generation haben sich
lange davor gescheut,sich mit derVer-
gangenheit ihrer Eltern zu befassen. Oft
stiessen sie bei ihren Eltern auf eine
Mauer des Schweigens, zuweilen gaben
sie sich auch mit verharmlosenden Ant-
worten zufrieden, ohne genügend nach-
zuhaken. Nun hat der Gründer der Be-
ratungsfirmaRoland Berger anerken-
nen müssen, dass er in den letztenzwei
Jahrzehnten wohl ein zu positives Bild
über seinenVater vermittelt hat, wie
über dasWochenende deutlich wurde.
Die Auseinandersetzung mit der
eigenen Geschichte beschäftigt seit die-
semFrühling auch den 70-jährigenVer-
waltungsratschef der Guetsli-Fabrik
Bahlsen,WernerBahlsen. Er hatte da-
mals eingeräumt, er habe mit seinem
Vater nicht viel über die Zeit des Natio-
nalsozialismus gesprochen und dessen
Version der damaligenVorkommnisse
geglaubt. Zuvor hatte seine 26-jährige
TochterVerena für Unmut gesorgt,
als sie erklärte, Bahlsen habe Zwangs-
arbeiter wie Deutsche bezahlt und gut
behandelt. Sie hat sichrasch dafür ent-
schuldigt.


«Tragischer Selbstbetrug»


Der 81-jährigeRoland Berger, der seine
Firma von Grund auf selbst aufgebaut
hat, sprach gegenüber dem «Handels-
blatt», das derVergangenheit seines
Vaters monatelang in Archiven nach-
gegangen ist, von einem «tragischen
Selbstbetrug», dem er wohl erlegen
sei.Seine gleichnamige Stiftung ver-
leiht jedesJahr einen Preis für ausser-
ordentlicheVerdienste um den Schutz
der Menschenwürde.
DieseAuszeichnung sollte am Mon-
tag imJüdischen Museum in Berlin ver-
geben werden. Doch die Stiftung hat
die Preisvergabe kurzfristig auf nächs-


tes Jahr verschoben. Nach denRecher-
chen hatten zwei Preisträger erklärt, die
Auszeichnung derzeit nicht entgegen-
zunehmen.Zunächst will Bergerreinen
Tisch machen. Mit derAufarbeitung der
Vergangenheit seinesVaters Georg hat
er den bekannten Historiker Michael
Wolffsohn betraut.
Der Preis hat zwar direkt nichts
mit seinemVater zu tun, und das Stif-
tungsvermögen von 50 Mio.€stammt
allein aus demVermögen des Stifters.
Allerdings hatte Berger deren Grün-
dung 2008 auch mit dem Schicksal sei-
nesVaters begründet. SeinVater sei
ein moralischesVorbild für ihn gewe-
sen,er stehe für Anstand und Mut, hatte
er früher etwa erklärt. So sei seinVater
nach derReichskristallnacht 1938 aus
der NSDAP ausgetreten, weil ihm klar
geworden sei, wohin das Ganze füh-
ren würde. Doch die «Handelsblatt»-

Recherchen zeigen ein anderes Bild.
Schon1931 trat er derPartei bei – also
vor deren Machtübernahme imJahr


  1. Und er blieb 13Jahre in derPar-
    tei, bis er im Herbst1944 ausgeschlos-
    sen wurde. Der1977 verstorbene Ber-
    ger senior war Kassenwart der Hit-
    ler-Jugend und führte später inWien
    eine Grossbäckerei, die zuvor jüdische
    Eigentümer hatte.Erwohnte mit sei-
    nerFamilie zudem in einerVilla, die
    von jüdischen Eigentümern enteignet
    worden war. ImJuli 1942 musste er die
    Geschäftsleitung der «arisierten»Firma
    verlassen. InsVisier desRegimes soll er
    geraten sein, weil er Lebensmittel ab-
    gezweigt und Arbeiter eingesetzt hatte,
    um seineVilla zu verschönern.
    Nach dem Krieg wurde Georg Ber-
    ger1947 zu 500Reichsmark und zwei
    Jahren auf Bewährung verurteilt. Er
    wurde als «Minderbelasteter» in der


Nazizeit eingestuft. Zahlreiche Zeugen
hätten aber auch zu seiner Entlastung
ausgesagt: So habe er sich etwa gegen
die «Arisierung» derFirma gewen-
det, zitiert die Zeitung aus Unterlagen.
Allerdings urteilte ein Berufungsgericht
später, Georg Berger habe die NSDAP
durch seine Tätigkeit wesentlich geför-
dert. Hier zeigen sich widersprüchliche
Einschätzungen, das Bild scheint nicht
nur schwarz zu sein.

Keine Belege für Täterschaft


Diese Graustufen erkunden soll nun
also der HistorikerWolffsohn. Er er-
klärte gegenüber demWirtschaftsblatt
bereits, dasser Georg Berger für einen
Profiteur des NS-Systems halte. Gleich-
zeitiggebe es bisher aberkeine Belege
dafür, dass er auch Täter gewesen sei.
Wolffsohn mahnte auch vorvoreiligen

Schlüssen, etwa dort, wo es um die an-
gebliche Unterschlagung von Lebens-
mitteln gehe, die Berger von der Ge-
stapo zurLast gelegt wurde. Bei solchen
Aktenkönne es sich auch um Instru-
mente der Denunziation handeln.

Viele Zwa ngsarbeiter bei Bahlsen


BeiBahlsen ist im Gegensatz zuRoland
Berger nicht nur dieFamilien-, sondern
auch dieFirmengeschichte mit der Nazi-
vergangenheit verstrickt.Firmenpatron
WernerBahlsen hat imFrühling den
Historiker Manfred Grieger mit der
Aufarbeitung beauftragt. Grieger hat
kürzlich in der «Hannoverschen All-
gemeinen» ersteErgebnisseerörtert.
Laut diesen hatBahlsen in Hannover
mehr Zwangsarbeitereingesetztals bis-
her angenommen.1942 hatte dieFirma
eine Biscuitfabrik in Kiew übernom-
men. Diese hatte rund 20 00 Beschäf-
tigte,wobei es sich fast ausschliesslich
um Zwangsarbeiter aus der Ukraine ge-
handelt habe.
EinTeil von ihnen wurde nach Han-
nover verbracht.Laut Grieger mussten
in Hannover 260 Ukrainerinnen sowie
200 Angehörige anderer Nationen in
derKeksfabrik arbeiten. DiesePersonen
waren somit überJahrevon ihrer Hei-
mat getrennt und derWillkür des Nazi-
regimes ausgeliefert.Auch die ursprüng-
lic heBehauptungVerenaBahlsens, man
habe sie wie deutsche Mitarbeiter be-
zahlt,konnte Grieger entkräften.Laut
dem Historiker bekamen sie netto deut-
lich weniger, da sie eine Sondersteuer,
die «Ostarbeiterabgabe», sowie Geld
für Unterkunft, Essen und Kleidung ab-
geben mussten.
Keine Frage: Das System der
Zwangsarbeit war Unrecht, wurde in
derFirma aber zu lange ausgeblendet.
So hatte ein Historiker schon1996 eine
Broschüreveröffentlicht, in der auch das
Ausmass der Zwangsarbeit beiBahlsen
thematisiert wurde. Doch damals wollte
dieFirmenleitung offenbar nichts da-
von wissen. Er werfe sich vor, die Ge-
schichte nicht früher aufgearbeitet zu
haben,sagteBahlsen im Mai denn auch
der «Bild»-Zeitung. Berger undBahlsen
sind immerhin Beispiele dafür, dass die
Einsicht – oft erst auf äusseren Druck
hin – dafür gewachsen ist, um vor sich,
der Öffentlichkeit und den Nachfahren
glaubwürdig zu bleiben.

Für Roland Berger warsein Vater Georg lange ein moralischesVorbild gewesen. STEFAN ZEITZ/IMAGO

737-Max-Krise wird für Boeing immer bedrohlicher


Neue Dokumente zeigen, dass der Flugzeughersteller bereits 2016 über Sicherheitsprobleme Bescheid wusste


ANDREAS SPAETH


Eigentlich hatte Boeing gehofft, dass
das Problemflugzeug 737 Max noch in
diesemJahr wiederabhebt. Doch trotz
Überarbeitung der Software und er-
folgter behördlicher Neuzulassung ist
dies sehr unwahrscheinlich geworden.
Denn jüngst sind Dokumente öffent-
lich geworden, die zu belegen scheinen,
dass bereits seit demJahr 20 16 intern
auf Sicherheitsprobleme mit dem so-
genannten MCAS-Flugkontrollsystem
hingewiesen wurde. DessenFehlfunk-
tion wird für beide Flugzeugabstürze des
Typs mitverantwortlich gemacht.


Boeing-Präsidentunt er Druck


Dieser zusätzlicheRückschlag hat für
Boeing drastischeKonsequenzen. In
Branchenkreisen geht man davon aus,
dass es für dieFirma deutlich teurer
wird. Bisher hat der Skandal laut Beob-
achtern bereits8Mrd.$verschlungen.
Analytikerrechnen daher mit einem
Stellenabbau beim Flugzeugbauer und
einer weiterenKürzung der 737-Max-
Produktion,die trotz der Probleme stets
weiter lief. Nach den neuen Enthüllun-


gen wackelt derThron von Dennis Mui-
lenburg, dem starken Mann bei Boeing,
gewaltig. Erst vor wenigenTagen musste
er seineRolle alsVerwaltungsratspräsi-
dent abgeben. Ob er sich in seiner ver-
bliebenenFunktion als Boeing-CEO
noch lange halten kann, ist äusserst un-
gewiss. Spätestens wenn er am 30. Okto-
ber erstmals vor einemAusschuss des
US-Kongresses aussagen muss,könnte
es eng werden.
Muilenburgkönnteein interner E-
Mail-Austausch zwischen zwei füh-
renden Boeing-Testpiloten aus dem
Jahr 20 16 zumVerhängnis werden. Die
Unterhaltung wurde vier Monate vor
der überhasteten Zulassung der 737
Max aufgezeichnet. Die beiden Piloten
lassen sich in ihren Mails darüber aus,
dass das MCAS-System während ihrer
Simulatorflüge aggressiv und seltsam
reagiert habe: «Das Flugzeug spielt im
Simulator verrückt», schreibt der dama-
lige technische 737-Max-Chefpilot Mark
Forkner an seinenKollegen.Das Flug-
zeug verhalte sich abnormal.
AusserdemräumtForkner ein, dass
«ich im Prinzip (unwissentlich) dieAuf-
sichtsbehörden angelogen habe», womit
er sich potenzieller Strafverfolgung stel-

len muss. Denn exakt jener MarkFork-
ner war es auch, der im Boeing-Auftrag
die US-LuftfahrtbehördeFAAund an-
dere internationaleRegulatoren über-
zeugte,MCAS nicht in der Anleitung
für Piloten zu beschreiben.Durch die-
sesAuslassenkonnte Boeing teure Um-
schulungen für die Piloten von der bis-
herigen 737 auf die neue 737 Max ver-
meiden – ein entscheidendesVerkaufs-
argument für das Unternehmen.
Forkner selbst beruft sich auf sein
Aussageverweigerungsrecht und spricht
weder mit seinem ehemaligen Arbeit-
geber noch mitden Behörden über seine
E-Mails von 2016. Lediglich sein Anwalt
teilt mit, dass das Simulatorprogramm
damals nicht richtig funktioniert habe.

Angesichts dessen, was er gewusst habe,
sei er davon ausgegangen, dass das Flug-
zeug sicher sei und der Simulator ent-
sprechend überarbeitet würde.

Versagender Sicherheitskultur


DieWirkung der Dokumente ist verhee-
rend.DieFAA verlangte eine «sofortige
Erklärung» von Boeing, der wichtigste
737-Max-Kunde Southwest Airlines äus-
serte massive Kritik: «Boeing täuschte
Pilotenund Behörden über die Sicher-
heit der 737 Max. Es ist klar, dass das
fahrlässige und betrügerischeVerhal-
ten des Unternehmens diePassagiere
gefährdet hat», sagte der Präsident der
Pilotengewerkschaft. DerVorsitzende
des zuständigenVerkehrskomitees im
Repräsentantenhaus, Peter DeFazio,
wetterte: «Hier geht es um dasVersa-
gen der Sicherheitskultur bei Boeing.»
Boeing versucht sich unterdessen
miteinerVerteidigungsstrategie, die
darauf abzielt, das 20 16 von denTest-
piloten beschriebene erratische MCAS-
Verhalten alsreines Simulatorproblem
einzuordnen und nicht als Problem des
echten Flugzeugs. Daneben zeigt sich
immer deutlicher,dass die gefährlich

engeVerbindung zwischen Boeing und
derFAA,die viele ihrer Überwachungs-
aufgaben an Boeing-Angestellte dele-
giert hatte, den Schlamassel mitverur-
sacht hat. Erst im Oktober hatte eine
internationale Untersuchungskommis-
sion festgestellt, dass Boeing die Ände-
rungen in den an dieFAA gegebenen
Zulassungsunterlagen nicht ausreichend
dargestellt habe. Boeing hingegen be-
harrt auch seit den jüngsten Enthül-
lungen darauf, dies derFAA sehr wohl
kommuniziert zu haben.Dafür spricht,
dass es offenbar auch bei derFAA er-
heblicheKommunikationsmängel gab.
So wurden entscheidende Informatio-
nen wohl auch innerhalb der finanziell
und personell schlecht ausgestatteten
Behörde nicht an alle Zuständigen wei-
tergegeben.
Fakt ist, dass die 737-Max- Krise tief-
greifende Missstände in der Über-
wachungs- und Zulassungspraxis der
FAA offenlegt, deren Handlungen zu-
vor weltweit gesetzesähnlichen Charak-
ter hatten.Was das in Zukunft für Zulas-
sungsverfahren sowohl für die 737 Max
als auch für neue Flugzeuge anKompli-
kationen undVerzögerungen bedeutet,
ist noch gar nicht absehbar.

Aktienkurs von Boeing (in $)

ONDJFMAMJJASO

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300

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400

450
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