Neue Zürcher Zeitung - 22.10.2019

(John Hannent) #1

Dienstag, 22. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 29


Der digitale Umbruch kommt per Moped


In Südostasien kämpfen die zwei Online-Platt formen Grab und Gojek um die Vormacht im Liefer- und Fahrdienstvermittlungsgeschäft


MANFRED RIST, KUALA LUMPUR


ZwischenGrab und Gojek findet derzeit
ein erbitterter Kampf umFahrdienste,
virtuelleKüchen fürFood-Lieferungen
(«cloud kitchens») und andere Services
statt. Es handelt sich um eine Dienst-
leistungspalette, die in ihrerVielfalt neu
und einmalig ist.
Das Wachstum ist exponentiell
und zumTeil atemberaubend:Food
Delivery (dessen Anfänge auf Pizza-
Kurierdienstezurückgehen) verzeich-
net ab 2015 im Durchschnitt eine jähr-
liche Steigerung um 91 %. Bis 2025
dürfte der entsprechende Markt in Süd-
ostasien gemäss einer Studie vonTema-
sek, Google undBain eine Grösse von
20 Mrd. $ erreichen. Letztlich geht es
aber um mehr alsVolumen, nämlich um
die digitaleVormachtstellungin Südost-
asien. Sowohl Grab als auchGojek stie-
gen innerhalb wenigerJahre von Start-
ups zu milliardenschwerenTech-Kon-
zernen («Decacorns») auf. Hinter Grab
steh t der Malaysier AnthonyTan, Go-
jek wurde vom Indonesier Nadiem Ma-
karim auf die Beine gestellt; beide sind
Harvard-Absolventen und stammen aus
privilegiertenVerhältnissen.
Grab hat seit dem Rückzug von
Uber aus Südostasien (und der Einglie-
derung von dessen Aktivitäten) in der
Region grössenmässig die Nase vorn.
Zurzeit fasst Grab zudemrasch auch
auf den Philippinen und in BurmaFuss.
Die bereits 2010 gegründeteFirma Go-
jek operiert demgegenüber hauptsäch-
lich in Indonesien in einem riesigen und
vielversprechenden Heimmarkt, des-
sen Wachstumspotenzial enorm ist. Be-
reits jetzt geniesst Gojek dort aufgrund
des breitenAngebots von Dienstleistun-
gen des täglichen Gebrauchs den Status
einer SuperApp, die eineArt moderner
Tante-Emma-Laden verkörpert: Mit
Gojek lässt man sich transportieren, be-
stellt Essen, abonniertFilme, beg leicht
mit dem BezahldienstGoPay Rechnun-
gen.Und wer will,kann auch Geld spen-
den. Dies alles wird über eine einzige
Plattform abgewickelt, die denKunden
aufgrund seines digitalenFussabdrucks
analysiert und anschliessend mit passen-
den Produkten und Dienstleistungen zu
bedienen und anzubinden versucht.


Der blinde Fleck der Banken


Was in den Gründerjahren als Disrup-
tion des klassischenTaxi- undTransport-
geschäfts begann – ein Prozess, der vie-
lerorts noch heute hoheWellen schlägt–,
hat sich zu einem Kampf umKontakte,
Kundendaten,Kundenstämme undVer-
haltensmuster gewandelt. Sowohl Grab
als auch Gojek versprechen sich davon
stärkereKundentreue und höhere Mar-
gen. Dabei zählen besonders wachs-
tumsstarke untere und mittlere Bevöl-
kerungsschichten, kleine Detailhändler
und andere Kleinunternehmen zu den
neuen Zielgruppen in derRegion.Beide
Segmente sind bisher von traditionellen
Anbietern derRestaurations-,Konsum-
güter- undFinanzbranche hauptsächlich
aufgrundvon Kosten/Nutzen-Abwägun-
gen vernachlässigt worden.
Noch steckt einTeil der südostasiati-
schenLänder bei dieserWandlung vom
traditionellenVertrieb hin zum digita-
len Plattform-Modell in den Anfän-
gen. Aber dieVoraussetzungen präsen-
tieren sich gut: Es gibt einWirtschafts-
wachstum von rund 6%.Auch die Be-
völkerungwächst; Urbanisierung und
digitale Durchdringung nehmen zu-
demrasant zu. Zu den Charakteristi-
ken zählt aber auchdas Wohlstands-
gefälle, das sich teilweise gar verschärft
hat. So haben fast zwei Drittel der Be-
völkerung noch immerkein Bankkonto.
Und weil (mitAusnahme Singapurs)
das öffentlicheVerkehrsangebot im
Argen liegt, bleiben viele Bürger auch
bezüglich Mobilität und Arbeitsmarkt-
zugangnoch benachteiligt.
Genau dieser Aspekt, nämlich Inklu-
sion in wirtschaftlichen und finanziellen
Belangen, steht seit einigenJahren auf
der Agenda vonInstitutionen wie dem
Int ernationalenWährungsfonds (IMF),


der Weltbank und der Asiatischen Ent-
wicklungsbank(ADB).Jetztzeichnetsich
ein vielversprechenderAnsatzab, des-
sen wirtschaftlicheAuswirkungen grös-
ser und nachhaltiger sein dürften: Platt-
formen wie Grab und Gojek durchdrin-
gen dank der Digitalisierung die ganze
Region im Schnellzugtempo; sie bieten
dabei neue Absatzkanäle mit Zehntau-
senden vonJobs an und zielen treffsicher
aufMillionenneuerKundenbeziehungen.
In einer ersten Phase sind Fahr-
dienste und Hauslieferungen für je-
dermann erschwinglich geworden. In
der zweiten Phase dürften zahlreiche
weitere Dienstleistungen folgen. Platt-
formkennerTom Ludescher von Ent-
sia International spricht in diesem Zu-
sammenhang von «Hoch-Frequenz-
Super-Commodity Services» wie Mobi-
litäts- oder Bezahldienstleistungen, die
im Motor der SuperApps alsTreibstoff
dienen. Mit den umfangreichenKun-
denbindungen undKundendaten stre-
ben diese denVertrieb neuer Produk-
ten mit höheren Margen an.Dabei rü-
cken, wie Grab und Gojek vormachen,
Bezahldienste,Food Delivery,Kredite,
Geldtransfers undVersicherungspro-
dukte in denVordergrund.

Umrelevant zu werden, investie-
ren diese Plattformbetreiber jetzt vorab
massiv in die Akquisition vonKunden
undAnbietern.Man setzt auf Netzwerk-
effekte, dank denen ein exponentielles
Wachstum des Marktplatzes erreicht
werden soll.Damit werdenKunden und
Anbietern auch stärker an die jewei-
lige Plattform gebunden, was diePosi-
tion der Anbieter festigt.Dass diese Su-
perApps heute mit der grossenKelle an-
richtenkönnen, ist vor allem der aktuell
leichtenVerfügbarkeit vonVentureCa-
pital und demGlauben andie digitale
Zukunft zu verdanken.

Umgepflügter Arbeitsmarkt


Der Wettbewerb zwischen Grab und
Gojek in Südostasien macht vor, wie mit
digitalen Plattformen bisher vernach-
lässigteKundensegmente bedient wer-
den können.Dieser Mittelbaukönnte in
zehn bis fünfzehnJahren alleine in die-
sem Raum etwa eine halbe Milliarde
Menschen erreichen. InkeinemLand
präsentieren sich dieVeränderungen
dabei so vielversprechend wie in dem
260 Mio. Einwohner zählenden Indone-
sien:DieApp von Gojek ist dort mittler-

weile auf fast jedemSmartphone instal-
liert. DieFirma hat mit ihrer Geschäfts-
idee und den typisch grünen Helmen
den Arbeitsmarkt und dasTransport-
angebot inJakarta wohl stärkerrevolu-
tioniert als manche ausländische Direkt-

investition oder die unlängst in Betrieb
genommene U-Bahn.
Noch nicht alleLänder in derRegion
sind gegenüber den neuen Entwicklun-
gen so aufgeschlossen wie Indonesien.
Auf den Philippinen etwa,wo sonst eine
starkeTech-Affinität herrscht,ist der
Einsatz von Zweirädern für den gewerb-
lichenPersonentransport aus Sicher-
heitsgründen immer noch verboten.

Damit wird der Einstieg in dieDaten-
sammlung verzögert, Gojek muss sich
also etwas gedulden.Aus BurmasWirt-
schaftsmetropoleRangun sind Motor-
räder seit 2003 gar ganz verbannt.Ein
entsprechendesVerbot hält sich aus
Gründen derVerkehrssicherheit vor-
derhand auch noch in Malaysia. Dort
kommt ein andererFaktor dazu: Es sei
unislamisch, dassMann undFrau Kör-
per anKörper auf dem Motorrad säs-
sen, heisstes d azu inreligiösen Kreisen.
Aufzuhalten ist derTrend mit Grab
und Gojek aber selbst imkonservativen
Malaysia nicht. Nach mehreren Anläu-
fen hat der lokale Anbieter Dego Ride
eine provisorische Lizenz für Motorrad-
transporte erhalten.Kurz danach ist Go-
jek-Gründer Nadiem Makarim in die-
ser Angelegenheit persönlich von Pre-
mierminister Mahathir empfangen wor-
den. Laut Berichten ist es jetzt nur noch
eine Frage der Zeit, bis auch Gojek mit
dem Service beginnt und seinenKun-
denstamm aufbaut. An der notwendi-
gen Kriegskasse für die nächsten digita-
len Kämpfe fehlt es dankVenture Capi-
tal bei beidenFirmen nicht.
Der Wettlauf der beiden Giganten
ist drauf und dran, eine ganzeRegion
umzukrempeln. Und derAusbau der
Dienstleistungspaletten erfolgt Schlag
auf Schlag. Die Slogans vonGrabund
Gojek fassen deren Ambitionen zusam-
men: Eat,Pay, Ride, Send, Book, Shop,
Donate, Enjoy. Über das App«Go-
Food» zählt Gojek nach eigenen An-
gaben (unter Einschluss vonThailand
und Vietnam) derzeit rund 400000 Ge-
schäfte als Vertragspartner und ver-
zeichnet bereit 1,7Mio.Aufträge pro
Tag. Das entsprechendeTransaktions-
volumen wird mit2Mrd.$ beziffert,
der Marktanteil mit 75%.Damit ist das
Geschäft mit Nahrungsmitteln gemäss
Gojek-Präsident Andre Soelistyo fast
doppelt so gross wie der ursprüngliche
Fahrdienst – und es bringt höhere Mar-
gen. Mit GoFood-Festivals an stark fre-
quentiertenAnlässen dringt Gojek auch
di rekt in denRestaurationssektor vor.
AuchdieDynamikvonGrabkrempelt
den Markt um:Via die App von Grab-
Food sind im1-km-Umkreis des Schrei-
benden in Singapur derzeit über 100An-
bieter auszumachen, dieTeil des Grab-
Netzwerks geworden sind.Jetzt fasst
Grab in Massenmärkten wieThailand
und VietnamFuss.Der nächste Schritt
bei diesemTrend sind CloudKitchens
oderGhostKitchens,dieganzohneStuhl
undTisch auskommen und ausschliess-
lich auf Lieferungen setzen. So auch Go-
jek: Für Indonesien plant Gojek 100 sol-
cher Küchen. In Indien hat Gojek in die
inMumbaibasierteStartup-FirmaRebel
Foods investiert,die bereits über 200 sol-
cher Ghost Kitchens betreibt.

Fast alle hängen amHandy


Firmen wie Grab und Gojek – sowieTra-
veloka (Reise- und Hotelbuchungen)
sowieTokopedia und Shopee (E-Com-
merce) – stehen heute an der Spitze der
Internet-EconomyinSüdostasien.Laut
einer Studie von Google,Temasek und
Bain & Co. hat dieserWirtschaftszweig
bereitsdie100-Mrd.-Markeerreicht.Das
wäre dreimal mehr als 2015. Bis 2025 er-
warten dieAutoren nochmals eineVer-
dreifachung.BasisdieserEntwicklungist
die Tatsache, dass in derRegion heute
schon mehr als jeder Zweite das Inter-
net benutzt. Gemäss der Erhebung set-
zen Asiaten dabei zu etwa 90% auf das
Mobiltelefon. Dabei ist dieVerweildauer
deutlich höher als im globalenDurch-
schnitt:Für Spitzenreiter Thailand etwa
wurdegareinedurchschnittlicheOnline-
Präsenz von 5 Stunden und 13 Minuten
proTag ermittelt.
Diese wachsendeFokussierung und
Abhängigkeit vom kleinen Bildschirm
wirkt zwar auch erschreckend.Auch die
systematische Sammlungund Auswer-
tung persönlicherDaten undVerhal-
tensmuster hat etwas Abstossendes an
sich und trägt or wellsche Elemente in
sich. Zumindest in Asienregt sich dies-
bezüglich aber kaum Kritik oderWi-
derstand.

Ein Gojek-Moped-Taxifahrerwartet in de rindonesischen HauptstadtJakarta aufKundschaft. DIMAS ARDIAN / BLOOMBERG

Gojek-Chef Nadiem Makarim übernimmt Ministerposten


rt.·Dem am Sonntag neu
vereidigten indonesischen
PräsidentenJoko Widodo
ist ein Überraschungscoup
gelungen: Nadiem Ma-
karim, der Gründer und
CEO von Gojek, hat eine
Berufung ins neue Kabinett des wieder-
gewählten Staatschefs angenommen.
Noch ist unklar, welchesRessort der
35-jährige Milliardär übernehmen wird.
Aber derWechsel schlägt hoheWellen –
und weckt Erwartungen.Makarim,mitt-
lerweile ein weltweit gefragter Redner
und dasAushängeschild derFirma, wird
den Chefposten bei Gojekan die beiden
MitbegründerKevin Aluwi und Andre
Soelistyo übergeben.Seinen Wechsel in
die Politik erklärt Makarim mit den rie-
sigenHerausforderungen,vordenensein
Land stehe.
Tatsächlich steckt Indonesien inmitten
einer gewaltigenTransformation.Es fehlt
an technologisch versiertenFachkräften,
an einem modernenAusbildungssystem
sowie an Spitzenuniversitäten. Hier will
PräsidentWidodoinseinerzweitenAmts-
zeitansetzen.Bis2045,zum100-Jahr-Jubi-
läum der Unabhängigkeit von den Nie-
derlanden, solleIndonesien der berüch-
tigten «middle-income trap» entkommen

sein , meinteWidodo kürzlich.Damit ist
jene Falle gemeint, in die ein Schwellen-
land tappen kann, wenn es zu langsam
wächst, zuwenigProd uktivitätsgewinne
verzeichnet und dadurch einkommens-
mässig letztlich stagniert. Diese Gefahr
ist in Indonesienreal, zumal das Riesen-
land in den letzten dreiJahren bezüglich
ausländischer Direktinvestitionen wieder
anTerraineingebüssthatundimVergleich
zu Vietnam, Malaysia und den Philippi-
nen deutlich zurückgefallen ist.Auch die
schleichendeIslamisierungdergrundsätz-
lich säkularenRepublik hilft da wenig,im
Gegenteil.
Die konkrete Rolle, die Makarim
fortan spielen soll, ist noch nicht publik.
Die Spekulationen gehen in Richtung
eines neu zu schaffenden Ministeriums
für Digitales, was zunächst einmal gut tö-
nen würde und allenfalls mit dem Prädi-
kat eines «Superministeriums» garniert
werdenkönnte. Oderer wird Bildungs-
minister, was sich weniger spektakulär
ausnimmt, aber angesichts des lange ver-
nachlässigten Schulsystems für den Har-
vard -Absolventen ebenfalls eine durch-
aus nobleAufgabe wäre.
Mit der Berufung des weltoffenen und
wohl populärstenJungunternehmers im
Land allein wird es nicht getan sein;Indo-

nesien verkörpert letztlich ein sehr träges
und konservatives Staatsgebilde, in dem
Reformen von oben sehr selten unten
ankommen und noch seltenerwirklich
durchgesetzt werden.Widodo will in sei-
ner zweiten Amtszeit deshalb auch bei
derberüchtigtenBürokratieansetzenund
frischenWind in dieVerwaltung bringen.
Diesbezüglich erhalte er jetzt eine zweite
Chance,meintedieenglischsprachigeZei-
tung «JakartaPost» am Montag mit leicht
zynischem Unterton.
Was immer ihn zu diesem spektaku-
lärenWechsel bewogen hat: Als Spröss-
ling einerreichenFamilie und als Begrün-
derdesersten«unicorn»desLandesüber-
hauptsindfinanzielleÜberlegungenwohl
kaum entscheidend.Für Spekulationen
über eine politische Karriere ist es noch
etwas früh.Last, but not least sindPoli-
tik undWirtschaft in Südostasien nie voll-
ständig zu trennen.EineFührungsrolle in
der Politik wird weder dem Betreffenden
noch Gojek schaden.Und schon gar nicht
Joko Widodo: Er holterste ns den popu-
lärstenJungunternehmer in dieRegie-
rung. Zweitens ist es – wie versprochen –
ein Schritt in Richtung einerRegierung,
die mitFachkräften besetzt ist und in der
weniger Mief ausPolitik undReligion so-
wie wenigerKorruption herrschen sollen.

Der Wettlauf der
beiden Giganten
ist drauf und dran,
eine ganze Region
umzukrempeln.
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