30 UNTERNEHMENSPRAXIS Dienstag, 22. Oktober 2019
Die Vermittl ung von Betreuungs- und Pflegekräften in der Schweiz
Die Vergleic hsplattform Orahou bi etet eine von mehreren Möglichkeiten, sich eine Übersicht zu verschaffen.
Die Betreuung und Pflege von Seniorinnen und Senioren zu Hause wird immer wichtiger.
In Konkurrenz zuVerleihfirmen bietet eine Firma auch Dienst e für die Direktanstel lung von Betreuerinnen an.
Zu Hause ist es am schönsten
Die Betreuung und die Pflege von Seniorinnen und Senioren rufen nach neuen Angeboten
WERNER ENZ
«Es ist meist eine Illusion, dass dieFami-
lie imFalle einer Hilflosigkeit der Mut-
ter oder desVaters alles alleine ma-
chenkönne.» AntoniaJann, die Ge-
schäftsführerin der Stiftung Age mit
Sitz in Zürich, beobachtet seitJahren
die ziemlich unübersichtlichen und un-
gemein vielgestaltigen Angebote, wenn
es um dasWohnen im Alter oder auch
die Pflege der Mitmenschen im letzten
Altersabschnitt geht.
Bedürfnisse vorBegriffesetzen
Jann präsentiert eine Age-Wohnmatrix
(vgl. Diagramm), die es erleichtert, vor
lauterBäumen noch denWald zu se-
hen.Ausgangspunkt ist, dass für uns
alle Autonomie und Sicherheit univer-
selleWerte sind, die uns bis zum letzten
Atemzug begleiten werden.Wer in den
eigenen vierWänden lebt, sich also pri-
vat organisiert hat, geniesst sehr hohe
Selbständigkeit und Privatheit.Das Be-
dürfnis nachVersorgung wird graduell
im Alter steigen, bis womöglich zuletzt
eine Pflege rund um die Uhr, aber noch
zu Hause, erforderlich seinwird. Organi-
siertesWohnen, wie es im Mittelteil der
Age-Wohnmatrix aufscheint, findetsich
wieder in Begriffen wie «Alterswohnun-
gen» oder «Alterssiedlungen».
Im Unterschied zu institutionellem
Wohnen,also hauptsächlich in Alters-
und Pflegeheimen, ist derAutonomie-
gradbeim organisiertenWohnen höher.
Das äussert sich darin, dass ein Miet-
vertrag besteht, während vor dem Ein-
zug in einAltersheimein Heimver-
trag unterzeichnet wird. Eine Schluss-
folgerung vonJann ist, dieses Rah-
menmodellkönne helfen,Wohn- und
Unterstützungsangebote zu präzisie-
ren. Jedenfalls gibt es viele Möglichkei-
ten, in diesem wachsenden Markt, der
auf verschiedenen Stufen Betreuungs-
und Pflegedienste einschliesst, Fuss zu
fassen. Allein dieLangzeitpflegekosten
schätzt das Institut fürVersicherungs-
wirtschaft der Universität St. Gallen für
die Schweiz auf über15 Mrd.Fr. im Jahr,
wobei die informelle Pflege, also spon-
tane Hilfe vonFamilienangehörigen und
Nachbarn, nicht eingerechnet ist.
Orahou– neues Leben
Gleichsam auf den Matrixfeldern «Hilfe
und Betreuung» bewegt sich die vor
einemJahr gegründeteFirma Helvetic
Care. Sie hat sich bereits einen Namen
gemacht mit der Bewertungs- undVer-
gleichsplattform Orahou – der etwas ge-
wöhnungsbedürftige Begriff steht in der
Maori-Sprache für «neues Leben». Um
Interessierten einen Anhaltspunkt zu ge-
ben, werden die Leistungen von insge-
samt1600Alters- und Pflegeheimen, 800
Spitex- und 80 Home-Care-Organisatio-
nen bewertet. Martin Spinnler undTobias
Pflugshaupt sind für das Marketing und
das kostenlos angeboteneRating-System
zuständig. Spinnler, der früher alsLand-
schaftsgärtner arbeitete und zuletzt in
China einWebportal mitentwickelt hat,
ist im Element und sieht grosse Chancen.
Zusammen mit Pflugshaupt, der län-
gere Zeit den Spitex-VerbandBaselland
leitete und Beratungen für Spitex und
Altersheime anbot, baut er das KMU
auf. In der Sichtweise der beidenPartner
ist das Betreuungsangebot intransparent
und herrscht wenigWettbewerb. Alters-
und Pflegeheime würden oftmals wie
Schulen geführt, in allerRegel mit der
Gemeindeals Einzugsgebiet.Zudem
würden veraltete Strukturen undKul-
turen gepflegt. Ab 2025, so die Schät-
zung von Orahou,werden in Alters- und
Pflegeheimen etwa 50000 Plätze fehlen.
Aber wie kann das noch mitVer-
lust arbeitende Unternehmen, das viel
Geld in die Orahou-IT-Plattform inves-
tiert hat und etwazehn Mitarbeiter be-
schäftigt, auf einen grünen Zweig gelan-
gen? Eine Idee geht dahin, Schweizerin-
nen und Schweizern früher alsgewohnt,
etwa ab dem 75.Altersjahr,eine Bera-
tung fürden vierten Lebensabschnitt an-
zubieten. Zurzeit wird im Kanton Zug
dieses Be ratungsmodell in einem Pilot
getestet, der dann nächstesJahr auf die
Regionen Aargau/Luzern ausgeweitet
werden soll. 2021 soll eineVoice-App
lanciertwerden, die mitder IT-Plattform
verlinkt wird.Fürein Erstgespräch mit
angehendenKunden würden einheitlich
349 Fr. verlangt, sagt Spinnler. Das Be-
dürfnis nach ganzheitlicher Beratung sei
stark imWachsen begriffen; zurzeit seien
in der Schweiz etwa 200000 Beratun-
gen imJahr vonnöten. Zu den Heraus-
forderungen, aber auch Chancengehöre,
Partnerschaften mitFinanzplanern,Ver-
sicherungen und Krankenkassen aufzu-
bauen. Ebenfalls wichtig sei, ein Netz-
werk mit Ärzten zu pflegen und über die
Orahou-Plattform das Interesse zu we-
cken.Vermittlungskommissionen wür-
den etwa fliessen, wenn Spitex-Partner
gewonnen werden.
Von Orahou bzw. Helvetic Care darf
einiges an unternehmerischer Initiative
erwartet werden, denn imVerwaltungs-
rat haben sich einigeKenner desFachs
eingefunden. Otto Bitterli ist langjähri-
ger Chef der Krankenversicherung Sani-
tas, Joachim Masur ist früherer Chef der
Zurich Schweiz, und UrsWyss bringt
vonTicketcorner viel Know-how ein.
Als Mitinvestoren wollen sie Orahou zu
einer feinenAdresse machen. Letztlich
besteht das Ziel darin,Kunden gegen
eine Gebühr einen einfachen und auto-
matisierten Zugang zu gewünschten Be-
treuungs- und Pflegeangeboten zu er-
möglichen.Das mag nach wenig tönen,
aber viele Angehörige von Senioren wis-
sen ihr Leid zu klagen, was Situationen
angeht, in denen jemand in derFamilie
plötzlich einen hohen Grad von Pflege-
bedürftigkeit erleidet, beispielsweise
nach einem Unfall in hohemAlter.
Dass man sich verhauen kann, muss-
ten unlängst die Betreiber der Luxus-
Altersresidenz Gustav in der Nähe des
Zürcher Hauptbahnhofs schmerzlich
erfahren. Réception, Sterne-Restau-
rant undWellness, alles war da, aber ein
monatlicher Preis bis zu15 000 Fr. war
vielen für das Gebotene dann doch zu
hoch. Umfassendste Dienstleistungen
an zentralsterLage hätten zum Erfolg
führen sollen, doch dürften die Sterilität
des Umfelds oder auch das Manko von
altersgerechten Hilfestellungen Gründe
des Misserfolgs gewesen sein.
Helferinnen aus Osteuropa
Auf einem unscheinbaren Industrie-
areal in Hüntwangen bei Eglisau hat
sich SilvainKocher mit seinerFirma
AWH Alterswohnhilfe GmbH ein-
gerichtet.Das Unternehmen zählt zu
jen en Verleihfirmen, die Betreuungs-
kräfte vermitteln. Sehr heikel ist offen-
ba r, die feine Grenze zwischen Pflege
und Betreuung nicht zu überschrei-
ten. «Als Betreuer darf ich einerKun-
din den Kammreichen, aber die Haare
kämmen darf ich ihr nicht», erklärt
Kocher. «Und die Schuhe darf ich ihr
auch nicht schnüren.» BeimPersonal-
verleih liege dasWeisungsrecht beim
Kunden, bei Spitex dagegen bei der
Pflegefachkraft.Kocher lässt sich durch
derartige Abgrenzungsprobleme nicht
abschrecken und hat inzwischen einen
Kundenstamm mit demVersprechen
«Rund-um-die-Uhr-Betreuung im eige-
nen Zuhause» aufgebaut und beschäf-
tigt etwa achtzigTemporärangestellte.
Er sagt, dass die Betreuerinnen viel-
fach aus osteuropäischenLändern wie
Polen oder der Slowakei stammten und
ausser guten Deutschkenntnissen drei
Jahre Berufserfahrung und einen Pfle-
gegrundkurs des InternationalenRoten
Kreuzes vorweisen müssten.
Der Betrieb vermittelt je nach Ein-
satzplan Betreuungspersonal zuTages-
sä tzen von 200, 220 und 240Fr., wozu
nochdie Mehrwertsteuerkommt, bei
freierKost und Logis. Die Arbeit der Al-
terswohnhilfe besteht vor allem darin,
alles zu organisieren, was unter ande-
rem auch eine enge Zusammenarbeit
mit Spitex zum Inhalt haben kann. Ein
Mindestlohn ist vorgegeben, was bei
einem Bruttolohn von ungefähr 4700
Fr. in einen Nettoverdienst vonrund
3200 Fr. – nach Abzug von 33Fr. für
Kost und Logis imTag sowie Beiträ-
gen für Sozialversicherungen – mün-
det. Eine Beobachtung vonKocher ist,
dass sichKundinnen undKunden auch
bei ihm erst sehr spät melden, wenn die
Pflegebedürftigkeit schon sehr gross
ist. Der Nachkriegsgeneration falle es
schwer, Hilfe anzunehmen. Ein grosser
Aufwandposten ist für das Unterneh-
men Alterswohnhilfe, wie für die meis-
ten Konkurrenten auch, dieKundenak-
quise; dafür werden etwa Googleerheb-
lich e Beträge bezahlt.
Mit der Gründung des«Verbands Zu-
hause Leben» habenKocher – er ist Prä-
sident – und andere AnbietereineIniti a-
tive in dieWege geleitet, um sich besser
Gehör zu verschaffen.Esgeht in erster
Linie um Seniorenbetreuung, dies rund
um die Uhr, wobei zentrale Anlauf- und
Informationsstellen sehr hilfreich wären.
Kocher willkeine Namen nennen, doch
weist erauf schwarze Schafe hin,die bei-
spielsweise auf widerrechtlicheWeise
vomAusland aus Betreuerinnen in die
Schweiz vermitteln. Zu den grösseren
Anbietern unter denVerleihfirmen zu
zählen sind Home Instead (stunden-
weise Betreuung) oder die Pflegehilfe
SchweizAG,die sich über dieJahre
einen gutenRuf erworben haben.
QUELLE:ZEITSCHRIFT FÜR GERONTOLOGIE UND GERIATRIE NZZ Visuals/cke.
Spannungsfelder in der Alterspflege
Orientierung mit der Age-Wohnmatrix
Pflege
Hilfe und Betreuung
Soziale Einbindung
Wohnung
Privat Organisiert Institutionell
Wohntypus
Versorgung
Sicherheitsbedürfnis nimmt zu
Autonomiegrad nimmt ab
Das Modell Direktanstellung
nz.·Einenanderen Ansatz als diePer-
sonalverleiher verfolgt die in Pfäffikon,
Kanton Schwyz, beheimatete Firma
Pflegevermittlung Schweiz GmbH. Die
Grundidee besteht darin, demKunden
Betreuungspersonal so zu vermitteln,
dass er dieses direkt anstellt.Damit sol-
len die monatlichenKosten bis zu rund
ein em Viertel gesenkt werdenkönnen,
wie der Geschäftsführer Marian Birk-
holz in einem Gespräch erklärt.Ähnlich
wie beim Unternehmen Orahou werden
derKundschaft via Internet (pflege-
vermittlungschweiz.ch) ein interaktiver
Kostenrechner undeine Bedarfs-Check-
lis te zugänglich gemacht. DieWerbebot-
schaft lautet, private 24-Stunden-Betreu-
ung zu Hause sei legal bereits ab einem
Preis von monatlich 4260Fr. möglich.
Den SchweizerKunden werden da-
für mehrereBetreuerinnen aus dem
EU-Raum vorgeschlagen, die über
ein Pflegehelfer-Zertifikat und gute
Deutschkenntnisse verfügen müssen.
Bei häuslichen Arbeitsverhältnissen sei
nur der Mindestlohn vorgeschrieben.
Die PfäffikerFirma liefert hierzu Bera-
tung und sorgt bei einemAusfall für eine
Ersatzkraft, wobei jede Neuvermittlung
während 12 Monaten garantiert ist. Es
wirdein Honorar von 20% des Brutto-
lohns inRechnung gestellt.Aufmerksam
verfolge man, dass das Staatssekretariat
für Wirtschaft (Seco) für hauswirtschaft-
lichesPersonal einen neuen Normal-
Arbeitsvertrag (NAV) mit detaillierten
Auflagen zuFragen wieRuhe-, Bereit-
schafts- und Präsenzzeiten sowie Zu-
schlägen für aktive Arbeitsstunden in
der Nachtentworfenhabe, der dann in
jeweiliges kantonalesRecht gefasst wer-
den soll. DieNAV-Regelungkönne je-
doch schriftlich wegbedungen werden.
Sollte diese Möglichkeit in Zukunft
nicht mehr bestehen, wäre eine häus-
liche Betreuung für die allermeisten
Kunden in der Einschätzung von Birk-
holz nicht mehr finanzierbar.
Wo hört Betreuungauf,und wo beginnt Pflege?Die Grenzeist nicht immer genau zu definieren. CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ
Quelle. Höpflinger, Bayer-Oglesby, Zumbrunn (2011) NZZ/nz.