Berliner Zeitung - 19.10.2019

(Tina Sui) #1
Berliner Zeitung·Nummer 243·19./20. Oktober 2019–Seite 25*
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Feuilleton

„DieLuftwarwohleinwenigraus.“


JörgAufenangerinseinemZeitzeugenberichtübereineMontagsdemonstrationimNovember1989Seiten26 und27


A


mDonnerstag kam die
dritte Großproduktion
dieser Spielzeit an der
Volksbühne heraus.Es
warderdritteZündungsversuchdes
vonKlaus Dörr wieder auf die
SchienegesetztenTheatersmitEn-
semble und Schauspieldirektion.
AlsDörrimSommer2017dasinner-
halb einer knappenSpielzeit von
Chris Dercon zumFestspielhaus
umgewidmete,leergespielte und
trotz eines millionenschweren
Übergangsetats heruntergewirt-
schafteteHaus übernahm, füllte er
dieSpielplanleeremitsolidarischen
Gastspielen und erstenEigenpro-
duktionen auf, die mit gut 100000
Euro aus den nochvonFrank Cas-
torfhinterlassenen Rücklagen fi-
nanziertwerdenmussten.
Parallel muss Dörr sofortange-
fangen haben, auch dieSpielzeit
2019/20 zu entwerfen, die erste,die
er ohneDercon-Vorplanungen um-
setzenkann.Betriebsstrukturenund
Stellenpläne mussten wieder aufge-
bautwerden,und vorallemmussten
Künstler gefundenwerden, die den
nötigen schwindelfreien Mutund
bretternden Ausdruckswillen mit-
bringen,umdasnochimmermitder
glorreichen Castorf-Är aidentifi-
zierteTheaterzuerobern.


KeinMangelan Mut

Nunalso –nach der „Odyssee“, ei-
nemdurchgerührtenpsychoanalyti-
schenVater-Sohn-Konflikt-Salatvon
Schauspieldirektor Thorleifur Örn
ArnarssonundnachKayVoges’kul-
turpessimistischer Digitalgesell-
schaftskritik „Don’t be evil“–die
dritte Packung: „Germania“, eine
Heiner-Müller-CollagevonClaudia
Bauer.Nichtundelikatbeiallem:Die
Regisseurin und ihrebeiden Kolle-
genwarenzwischenzeitlichauchals
Volksbühnen-Intendanten im Ge-
spräch, während derKultursenator
Klaus Lederer ernsthaft eigentlich
nur mitRené Pollesch verhandelte,
der das Haus im Herbst 2021 über-
nehmenwird.
EinMangel an Mutund Aus-
druckswillenistauchbeidieserdrit-
ten Regiearbeit nicht dasProblem.
Sondern–wieauchbeiihrenbeiden
Vorgängern–ihreunaufgeräumte
gedankliche und dramaturgische
Kanalisation. Überkomplexe Zei-


chenpampe,diemitSchmackesund
unterAufbietungeineshochtouren-
den Theaterapparates–egal, ob ir-
gendwer imSaal noch folgen will
undkann–überdie Rampegekippt
wird,dasklingtdocheigentlichnach
der Fortsetzung guter alterCastorf-
Tradition. Möglicherweise sind des-
sen vibrierendeHervorbringungen
dannaberdochluzider,böser,über-
raschender und dringlicher,vor al-
lem aber fehlen die Schauspielerin-
nen und Schauspieler,die ihr eei-
gene Künstlerschaft imZenit des
Rundhorizontes abfeuern, die nicht
nurschreien,grinsenundgrimassie-
ren, sondernsenden, und zwarvon
Herz zu Herz,mit allen Lüsten,
Schmerzen, mit allem Klamauk der
geschwisterlichenVerzweiflung,ver-
einigt mit demPublikum auch im
nervenzerfetzendenWiderstand ge-
gendiesenRegisseurmitdemuner-
schöpflich blubbernden und spru-
delnden Genie-Ego .Bitte nicht
nachmachen!
Dass nun Heiner Müller gespielt
wird,derersteundobersteunterden
Hausgeisternder Castorf-Volks-
bühne,unddassdasGanzeine inem
zweistöckigenLeichtbaucontainerà
laBertNeumannstattfindet(Bühne:
AndreasAuerbach),aufdessenWell-
blechrückwand die allgemein blei-
bende Hysterie in Videogroßauf-
nahmemitdenAugenrollt,reißtalle
vernarbten Volksbühnen-Tren-
nungswundenwiederauf.
Dabei ist es doch–inZ eiten des
allerorten wiederaufkeimenden
Nazi-Drecksim Jahrdreißignachder
Wiedervereinigung–keineschlechte
Idee,die textlichenHauptbestand-
teile desAbends zwei Müller-Stü-
ckenzuentnehmen,diesichmitden
Abgründen der deutschenSeele be-
schäftigen:„GermaniaTodinB erlin“
(1971),dessenersteDialogeschonin
den 50ernentstanden sein sollen
und das in der DDRverboten war,
und„Germania3.Gespensteramto-
tenMann“,dasletzte,langersehnte
StückMüllers,daserinseinemSter-
bejahr 1995 beendete.Beides Sze-
nen-Bruchhalden, in denen dialek-
tisch verbundene Deutsc hmonster
schlachtdurchsuppte und utopie-
verk eimte Albtraumdialoge aus-
scheiden. Alles in kalt entsetzter
Gleichzeitigkeit:Hermannsschlacht,
Nibelungen, Preußen, Stalingrader

Kessel ,Kriegsendegräuel, 17.Juni
und Eigentumsrückübertragung
nachderWendezumBeispielin Par-
chim,immer mit dabei die beiden
Diktatoren und millionenfachen
Massen mörder mit den markanten
Schnurrbärten: Hitler und Stalin,
braunrote Schicksalsdämmerung
auf demAbort, am Schluss hängt
ebenallesmiteinanderzusammen.
Claudia Bauerstürztsichauf das
vonMüllerkicherndeingeschriebene
Kasper-undClownstheatersamtVer-

teilungsslapsticksundPimmelwitzen
–von Pathos keineSpur,worüber
man allerdings auch erleichtertsein
kann. DiedurchnummeriertenSpie-
ler treten zuerst in Tüllkleidern, zu-
letztingrünenAufblaskostümen,da-
zwischeninallenmöglichenillustra-
tiven Verkleidungen auf (Kostüme:
Patricia Talacko).EinanderimSchnee
vonStalingrad aufessende Toten-
kopfpuppen kommen hinzu. Ein
ganzer Männerchor dekorierterst in
diskretemBankfilialenoutfit,dannals

Windspiel-Rudel das krachige Büh-
nengewusel.UndvondemOrchester
samtdreierSängerinnenundSchlag-
zeug, das da amDrehbü hnenrand
mitkomplexenKompos itionen(Mu-
sik: Mark Scheibe)vomimmer zäh-
flüssigerenGeschehen undvonden
Müller’ schenBlut-,Schlacht-undTo-
desbonmots ablenkt, war noch gar
nichtdieRede.
Beim Schlussapplaus nach drei
Stunden fasst die breiteVolksbüh-
nenrampe das spielende,singende

undmusizierendePersonalbeiwei-
temnicht.Erleichterungmachtsich
breit, und es gibt sogar punktuelle
Begeisterung imSaale. Zumindest
auseinemGrundistsiewohlberech-
tigt: DieVolksbühne hat ihreMus-
keln wieder.Sie steht und geht. Es
wäreschön, wenn sie ihrPublikum
mitnimmt.

Vorstellungen:19., 31.10.; 10., 16.11. in der
Volksbühne, Karten und InformationenunterTel.:
24065777 odervolksbuehne.berlin

MuskelndesTheaters


Protzig,krachig,mitMusik:DerMüller-Abend„Germania“vonClaudiaBauerinderVolksbühne


VonUlrich Seidler


Die durchnummerierten Spieler treten zuerst in Tüllkleidern, zuletzt in grünen Aufblaskostümen, dazwischen in allen möglichen illustrativenVerkleidungen auf. JULIAN RÖDER


Das fliegendeAuge:
Claus Löser
über Filme
aus dem Baltikum
Seiten28 und 29

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