Berliner Zeitung - 19.10.2019

(Tina Sui) #1
Berliner Zeitung·Nummer 243·19./20. Oktober 2019–Seite 24
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Sport

S


teveHansen bringt so
schnellnichtsausderRuhe.
Der60J ahrealteNeuseelän-
der hat in seinemSportso
ziemlich alles erlebt, was man erle-
ben kann.Er war selbstRugby-Profi
und ist seit 1997Trainer,seit 2011
Chefcoach der neuseeländischen
Nationalmannschaft, dem großen
Favoriten bei derWeltmeisterschaft
derzeitin Japan,malwieder.Dochso
etwas wie dieBraveBlossoms ist
Hansen bisher auch nur seltenvor-
gekommen.Dietapferen Kirschblü-
tenalso ,wiediejapanischeAuswahl
genannt wird.DerTrainer ist froh,
dass seineNeuseeländer frühestens
imFinaleam2.NovemberaufJapan
treffen können.„Sie sind jetzt unter
denTopachtder Welt,undsiespie-
lenQualitäts-Rugby“,sagtHansen.
Wenndie BraveBlossomsandie-
sem Sonntag imViertelfinale gegen
Südafrika antreten, ist das so etwas
wieeineSensationimUnionRugby,
derVariantemit15Akteurenaufdem
Platz. Underst recht wär eesd as,
wenn die Blüten mit einemSieg ins
Halbfinale einziehen.Nicht nur für
die japanischenFans,doch für die
vorallem.Von„Brighton2.0“spricht
das Land derGastgeber bereits in
AnlehnungandieWeltmeisterschaft
2015, als dieBraveBlossoms den
zweimaligenWeltmeister Südafrika
34:32bezwangen.
DieGeschichte,die Japans
Rugby-Auswahl dieserWeltmeister-
schaftschenkt,istlängtgeschrieben,
unabhängigvomEinzuginsViertel-


finale oder vielleicht insHalbfinale
sogar.Die Geschichte handeltvon
Trauer undFreude,Erschütterung
und Begeisterung.In Japan liegen
diese Gefühle derzeit sehr nah bei-
einander.DennnebenderEuphorie,
ausgelöst durch den sportlichenEr-
folg,sinddadieWehennachHagibis,
dem stärkstenTaifun seit mehreren
Jahrzehnten, der amverg angenen
Wochenende inTeilen des Landes
fürTodund Zerstörung gesorgt hat.
Mehrals70 Menschenstarben,mehr
als 110000 blieben tagelang ohne
Wasserversorgung.Amverg angenen
Sonnabend, alsHagibis einschlug,
kamin TokioderAlltagzumErliegen,
MillionenJapanerkonntennichtvor
dieTürgehen.Weildas Sicherheitsri-
sikofür Fansund Spieleralszuhoch
eingestuft worden war,wurden bei
der der zeit laufendenWeltmeister-
schaftauchzweiSpieleersatzlosab-
gesagt.

MitteninderTaifunsaison
So ist das Turnier,das mitten in der
japanischen Taifunsaison stattfin-
det,zueinerKontroversegeworden.
Indem nämlich das für vorigen
Sonnabend angesetzte Gruppen-
spiel zwischenSteveHansensWelt-
meisterschaftsfavoritenNeuseeland
undItalienkampflosalsUnentschie-
den gewertet wurde,schieden die
Italiener,die mit einem Überra-
schungssieggegendenamtierenden
Weltmeister insViertelfinale einge-
zogen wären, automatisch aus.Der
italienische Spieler Sergio Parisse

klagte:„Esfälltschwerzuverstehen,
warumwirnichtdieGelegenheitbe-
kommen, gegen eines der stärksten
Teams zu spielen.“ HätteNeusee-
land denSieg benötigt,vermutete
Parisse,wäredasSpielwohlnachge-
holtworden.
Einen Tagspäter jedenfalls,als
derTaifun vorüberge zogen war und
JapannochineinemhalbenAusnah-
mezustandverharrte ,durfte nach
vorhergehendenDiskussionen das
letzte Gruppenspiel derGastgeber
gegen den Turniermitfavoriten
Schottland wie geplant stattfinden.
Undesw ar diesePartie,die für die
bisher größte sportlicheSensation
des Turniers sorgte.Mit dem 28:21-
Sieg der Japaner hat das ostasiati-
sche Land alsGruppensieger erst-
mals ein WM-Viertelfinale erreicht.
Japan, vorTurnierbeginn noch fast
ein Entwicklungsland im Rugby,

zählt nachverdienten Siegen über
SchottlandundIrlandnunzurWelt-
klasse.
Dasistein KapitelderGeschichte
vonJapansRugby-Team.Einanderes
handelt davon, dass dieBraveBlos-
soms demvonder Unwetterkatast-
rophe noch traumatisierten Land
beim Blick nachvorn helfen. „Ehr-
lichgesagthabenwirdasganzeSpiel
über an denTaifun und dieMen-
schengedacht“,hatKapitänMichael
Leitch nach demSieg am verg ange-
nenSonntaggesagt.
Durchdie erheblichen Schäden
und dievage Möglichkeit, dieStim-
mung im Land aufzuheitern, habe
man sich angespornt gefühlt.Wenn
an diesemSonntag mit Südafrika
nun also einweiterer Turnierfavorit
wartet, kann die Heimmanschaft
sichsichersein,dasssoziemlichdas
ganzeLanddas Spielaufirgendeine

Weiseverfolgenwird.Nachder Welt-
meisterschaft 2015 inEngland und
demüberraschendenSiegüberSüd-
afrika interessiertsich in Japan eine
breite Öffentlichkeit fürRugby. Die
WM im eigenen Land nun markiert
den bisherigen Höhepunkt. Laut ei-
ner Umfrage einenMonat vorTur-
nierbeginn wussten 90Proz entaller
Japaner,dass diese WM stattfindet.
DieStadien sind ausverkauft, selbst
Personen, die sich eigentlich nicht
fürSportinteressieren,verfolgendas
Turnier.JapanistimRugbyrausch.
Für denSportist das einGlücks-
fall. Zwar bewirbt derWeltverband
das derzeitige Turnier als nach
OlympiaundderFußball-WMdritt-
größte Sportveranstaltung derWelt.
Doch im Wettrennen um globale
AufmerksamkeithatesjedeSportart
schwer ,sich gegen den sich schnell
ausbreitenden Fußball einigerma-
ßenzubehaupten.

BeitraggegenAlltagsrassismus
Zudemist RugbybisaufeinigeAus-
nahmenfastnurinLänderndesbri-
tischgeprägtenCommonwealthbe-
liebt. MitderWM inJapan hofft der
Weltverbandnun,dasSpielauchauf
dem gesamten asiatischen Konti-
nent populärer zu machen.Abgese-
hen vonden Erschütterungenrund
um den Taifun Hagibis und den da-
rauffolgenden Kontroversen um
Spielabsagen scheint dies bisher
auchzugelingen.
Eine transformierende Wirkung
könntedieseWMaberauchinJapan

selbst haben. Dasostas iatische
Land ,ind emkaumzweiProz entder
Einwohner einen ausländischen
Passbesitzen,hatsichbishergernals
homogeneGesellschaft verstanden
undsichschwerdamitgetan,kultu-
relleVielfaltzuakzeptierenodergar
zufördern.DieHürdenfür Immigra-
tion sind auch nach kürzlichen
Lockerungenhoch,Alltagsrassismus
gegen Ausländer ist spürbar.Schon
Menschenmiteinemausländischen
Elternteilsindhäufigstigmatisiert.
Deshal bist die der zeit überaus
beliebteRugbynationalmannschaft,
diesoerfolgreichistwiekeinejapa-
nischeAuswahlv orihr,defactoeher
eine Internationalmannschaft. 15
von31S pielernimK ader haben
mindestens ein ausländisches El-
ternteil oder wurden eingebürgert.
Undbisher beeindrucken viele der
Spieler mit ausländischenWurzeln
nichtnursportlich.
DerKapitän MichaelLeitch etwa
gibt Interviews sowohl auf seiner
MutterspracheEnglischalsauchauf
Japanisch. „Wir repräsentieren Ja-
pan“,sagtedergebürtigeNeusee län-
dernachdemSieggegenSchottland
mit noch pustendem Atem. Dies
wolle man nun mit einem neuerli-
chen Sieg gegen Südafrika diesen
Sonntagbeweisen.(mit cs.)

Für das japanische
Team in den rot-weißen
Trikots geht es bei der
Heim-WM hoch hinaus.
IMAGO IMAGES/PABLO ARIEL MORANO

WM-VIERTELFINALE

Übertragung:ProSieben
Maxx zeigt dieViertelfinals
der WM live. Am Sonnabend
England-Australien und
Neuseeland-Irland, am
SonntagWales -Frankreich
und Japan-Südafrika (je-
weils von9bis 14.30 Uhr).

Überflieger:DerWeltranglis-
tenerste Irland ist ebenso
wie Viertelfinalgegner Neu-
seeland WM-Favorit. Gegen
die Iren spricht die Nieder-
lagegegen Japan, für Neu-
seeland die Historie des Du-
ells (29:2 Siege).

Überraschung:England -
Australien, ein Duell mit
110-jähriger Geschichte,
zwei ehemaligeWeltmeister
mit großen Ambitionen. Bei
der WM 2015 siegteAustra-
lien mit 33:13 und warf Eng-
land in derVorrunderaus.

Felix Lill
ist gespannt, wieweit Japan
bei der WM nochkommt.

Blütedes


Lebens


JapansRugby-Nationalmannschaftsteht


überraschendimViertelfinalederHeim-WM.


VieletrauendemTeameineSensationzu,


dochdiegrößteLeistunghatdasTeamabseits


desSpielfeldeserbracht


VonFelix Lill,Tokio

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