Berliner Zeitung - 19.10.2019

(Tina Sui) #1

Feuilleton


Berliner Zeitung·Nummer 243·19./20. Oktober 2019 (^27) ·························································································································································································································································································
Handke
liestseine
Kollegenkaum
Literaturnobelpreisträger
erneuertseineMedienkritik
L
iteraturnobelpreisträger Peter
Handke kennt nach eigenem
Bekundenwenig vonder aktuellen
Literatur.„Fast eine Schandevon
mir,dass ich sowenig lese ,was
heutzutag’geschrieben wird,weil
ich keinrechtes Vertrauen habe“,
sagte der 76-Jährige dem österrei-
chischenMagazinNews.
SokenneerdieWerkedereben-
falls vergangeneWoche mit dem
nachgeholtenNobelpreis für 2018
ausgezeichneten Olga Tokarczuk
garnicht.IndemGespräch,dasvor
einer Woche geführtund am Frei-
tag veröffentlicht wurde,unter-
streichtHandke seineMedienkri-
tik. Er habe denEindruck gehabt,
dass kaum einer derJournalisten,
die nach derPreisverkündungvor
sein Haus bei Parisgekommen
seien, je etwasvonihm gelesen
habe.Ess eien sofortprovo kative
FragenzuseinerumstrittenenHal-
tung imJugoslawien-Konflikt ge-
stellt worden. „ImNachhinein
habeichmirgedacht,ichhätteein
paarFußtritteausteilensollen.“
Handke ist für seine proserbi-
sche Haltung erneut starkind ie
Kritik geraten.Unter anderem der
Gewinner des Deutschen Buch-
preises ,dergebürtigeBosnierSaša
Stanišic, hatte Handke ein Aus-
blenden serbischer Gräueltaten
vorg eworfen. Regie-Altmeister
Claus Peymann (82) hatHandke
dagegen verteidigt. DerKonflikt
umHandkesei„sehraufgeblasen“,
letztlich spiele auch sein unge-
wöhnlicher Charakter eine ent-
scheidendeRolle:„EristkeinOp-
portunist,errichtetsichnichtnach
der Mehrheit, sondernspricht
seineeigeneMeinungaus,wiedas
Schriftsteller machen sollten“,
sagtePeymannderRhein-Neckar-
Zeitung(Heidelberg/Freitag).Der
vielfach preisgekrönte Regisseur
hatzahlreicheHandke-Stückeauf
dieBühnegebracht,darunterauch
„DieFahrtimEinbaum“überden
Jugoslawien-Krieg.(a¬?)
dieim Fernseherzusehenwaren,bis
zumMorgengrauennichtentziehen
konnte.GegenzehnUhrmorgenslief
ich durchLeipzig, suchte dieselbe
Euphorie ,wie ich sie imFernsehen
gesehen hatte,fand sie nicht.Die
Menschen schienen ungerührt.Da
und dor tsah man einigePassanten
zusammenstehen.Sieredeten. Über
das,was in Berlin passiertwar.Weit
wegwar das ,inL eipzig gab es keine
Mauer,die man hinter sich lassen
konnte.„SiehabenunsereRevolution
geklaut“, meinte ein jungerMann.
Undman ließ der Antipathie gegen-
über denBerlinernLauf.„Die waren
schon immer besser gestelltvonder
Regierung alswir“,meinteeineältere
Frau.EinigeLacherfolgten.
AlsichgegenMittagim Hotelzu-
rückwar,klingeltedasTelefon.End-
lich habe man mich erreicht.Der
WestdeutscheRundfunk.Ichsollte
erzählen, was in Leipzig los sei.
SchonwarichaufSendung.Undich
antwortete:„Nichts.“Manwollte es
mir nicht glauben, fragte nach, ich
schaute aus demFenster,nun war
keine dickeLuft mehr ,schaute auf
den Ring. „Nichts“ wiederholte ich.
KönntemanKopfschüttelnhören,so
hättemanesdurchdenTelefonhörer
vernommen.Wassollten die Leipzi-
ger,die Helden des 9.Oktober,mit
den Ereignissen inBerlinanfangen?
Siewaren vonder Revolution, die
hier begonnen hatte,ausgeschlos-
senworden.
AmAbendtrafichmichmitmei-
nenneuenLeipzigerFreundeninder
Moritzbastei. Vorwenigen Tagen
hätteichnochgarnichtindenFDJ-
Studentenclubmitkommenkönnen,
denn Gäste aus demWesten hätten
nicht hinein gedurft, meinte Liese.
Natürlich sprach manvondem was
passiertwar,beschlossaber,morgen,
am 11.11., erst mal in derBastei den
Beginn desKarnevals zu feiernund
amSamstaggemeinsamnachBerlin
zu fahren.„Komm mit nachBerlin“,
meinten alle.„Kannst in meinem
Trabimitfahren“,sagteeiner.NurJörg
wolltenichtnachBerlin.
Also feierte ich mit ihnen am
11.11. in derMoritzbastei ausgelas-
sen Karneval. NurLiese hatte ein
Problem, denn sie hatte einenTer-
min. Wiejeden Samstag sollte die
SED-FunktionärininderHochschule
für Grafik undBuchkunst Aktmodell
sein. Undsie fand keineFrau, die es
an ihrerStelle tun wollte.Also be-
schlosssie,zus chwänzen.Schließlich
warjaseitvorg esternallesandersge-
worden,nichtsgaltmehr.Oder?
Am Samstag fuhr ich mit mei-
nen neuenFreunden nachBerlin,
nichtimTrabi,dastrauteichmich
nicht, sondernimZ ug. Mituns
stieg im Leipziger Kopfbahnhof
eine schweigende Mehrheit ein.
Alle wollten sie zum erstenMal
den Westen sehen. DochvonBe-
geisterungwarauchhiernichtszu
spüren.In Karlshorst warEndsta-
tion,weitergingesmitderS-Bahn
bis zur Friedrichstraße.Und so
nahm ich alsWestdeutscher den-
selbenWeg wieeinige Leipziger
BürgerindenWesten.Grenzergab
es noch. DDR-Bürgerzeigten ih-
renblauen Ausweis ,ich meinen
grünenPass.Und diejenigen, die
keine Papieredabei hatten, konn-
ten auch hinüber,waren plötzlich
im Westen. Viele verharrten erst
einmaleinenAugenblick.
DER AUTOR
JörgAufenanger,1945 inWuppertalge-
boren, ist Schriftsteller und Regisseur.Zu
seinenWerken gehören u.a. biografische
Arbeiten über Friedrich Schiller,Heinrich
Heine und HeinrichvonKleist. BLZ/WÄCHTER
Es ging bei den Montagsdemonst-
rationen in Leipzig auch um ganz
konkreteForderungen. IMAGO IMAGES
rowohlt.derowohlt.de
©Asja Caspari
rowohlt.de
«Ein erzählerischesMeisterstück.»
AndreasPlatthaus,FrankfurterAllgemeineZeitung
«Ein Pageturner ... ein atemberaubendesStück Zeitgeschichte ...Eingroßer Roman.»
CarstenOtte, SWR2«Lesenswert»
«Schon die wahreGeschichte klingt so spektakulär,als wäresie erfunden ...
Einebenso klug komponiertes wie spannendesBuch.»
Martin Doerry, DerSpiegel
«Inder Belletristik gibt es erstaunlichwenig Vergleichbares.»
CorneliaGeißler,BerlinerZeitung
Nach dem internationalenErfolg von«In Zeiten des
abnehmenden Lichts» kehrtEugenRuge zurück zurGeschichte
seinerFamilie–ineinem herausragenden neuenRoman.

Free download pdf