Berliner Zeitung - 19.10.2019

(Tina Sui) #1

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„AlserstesspielenwirantifaschistischerSchutzwall“:


LeaStreisandüberihreKindheitinPrenzlauerBerg–


einAuszugausihremRoman„Hufeland,EckeBötzow“


Lea Streisand:
„Hufeland, EckeBötzow“
Roman. Ullstein, Berlin


  1. 224 Seiten,
    20 Euro. Erscheint
    am 25. Oktober.


Die Premierenlesungist
am 30. Oktober,20Uhr,
im Pfefferberg-Theater.
Moderation&Gespräch:
Marion Brasch.
Zusatztermine am


  1. und 7. November.


Für mich war derWesten ein magischer Ort,


wo man jedenTagseine Li eblingssachen anziehen


durfteundsichausschließlichvonSchokoladeernährte.Manwu sste,dassmanniehin-


kommen würde.Aber das war nicht schlimm.


Es war nur gut, dass es ihn gab.Wosollten sonst dieWestpakete herkommen?


BPK/BERND HEYDEB

GERALD VON FORIS

E


ine Höhle.Das war es.Eine große,
finstereHöhle.JedeWand in einer
anderen muffigen Farbe –Bor-
deauxrot,Nachtblau,Tannengrün,
Dunkelbraun.Hier gab esMonster,sov iel
stand fest.Nachts würdenHexen aus den
Eckengekrochenkommen,undderHollän-
dermichelwürdeeinemdasHerzherausrei-
ßen.
„Das wirddein Kinderzimmer.“ Mein
Stiefpapa,einRiesemitBartundJungenau-
gen,standimdüsterenKorridordergiganti-
schen Altbauwohnung und schaute erwar-
tungsfroh auf mich herab.Ich starrte fas-
sungsloszuihmzurück.Dannsahichwieder
in die Höhle.Die stuckverzierteZimmerde-
cke war mitrotbraunerFußbodenfarbe ge-
strichen.
„Das guteOchsenblut“, sagte meinVater
undlächeltezärtlich.AusmeinemErstaunen
wurde Entsetzen.Manwollte mich in ein
Zimmer stecken, das mitBlut gestrichen
war?
„Papa“, wimmerte ich leise.Dann ging
mir ein Licht auf.Ichkicherte .Papa macht
Quatsch, dachte ich.MeinVater machte oft
Witzeüber alles Mögliche.Einmal hatte er
mir erzählt, es gäbeFliegen, die nur einen
Taglebten. Eintagsfliegen.So ein Blödsinn.
Einanderes Malbehaupteteer,dasses Fahr-
stühleohneTürengäbe,dieniemalsanhiel-
ten, undwenn man ein- oder aussteigen
wollte,müssemanhöllischaufpassen,damit
man dasrichtige Stockwer kerwischte.Und
wernichtrechtzeitigvordemDachgeschoss
ausstieg,müsseimKopfstandwiederrunter-
fahren. SowaserzähltemeinPapa.Undnun
sollte das hier meinKinderzimmerwerden.
Daskonnteernichternstmeinen.
DerUmzugswagen kam am 20.Februar.
MeineMutterfand,dasseieingutesDatum
zum Umziehen. Da sei der Winter vorbei.
Frau SchmidtvomZeitungskiosk inAdlers-
hof, der sie diese Theorie darlegte,wiegte
zweifelnd denKopf hin und her.„Also,ick
weeß nich.Mein Jüngsta hatEnde Februar
Jeburtstach, und meistens jehn wir daro-
deln.“
Es schneite tatsächlich in derNacht zu
Donnerstag, dem 20. Februar 1986. Es
schneitesosehr,dassder Umzugswagenam
nächstenMorgen nicht dieEinfahrthoch-
kam.


„Minus zehn Grad waren das“, sagte
meine Mutter,und vierzigZentimeterNeu-
schnee.“MitdenJahrenwurdendieTempe-
ratureninihrenErzählungenimmerniedri-
ger,dieSchneeverwehungendafürumsohö-
her.Zwanzig Grad unter null, behauptet sie
heute,hätte das Thermometer angezeigt,
und der Schnee hätte ihr fast bis zumHals
gereicht.
MeinVater rutschte bei demUmzug auf
einergefrorenenPfützeausundprelltesich
das Steißbein.Er konnte zweiWochen lang
nicht sitzen.Meine Mutter holte sich eine
Blasenentzündung und lag dann fiebernd
aufeinerMatratz ezwischengestapeltenMö-
beln und unausgepacktenKisten im erdfar-

benen Schlafzimmer derVormieter,einge-
hüllt in denPelzmantel, den sievonihrer
Großmuttergeerbthatte,währendmeinVa-
terleisewimmernddieKücherenovierte.
MeineElternhattenunserelichtdurchflu-
teteNeubauwohnunginAdlershofmitSpiel-
platz direktvordem Haus eingetauscht ge-
gen diese 140Quadratmeter Altbau mit 18
MeternFlur,vierMeterhohenWänden,Flü-
geltürenundParkett.Was,zumTeufel,warin
siegefahren?
Daseinzige Fenster meines neuenKin-
derzimmers führte auf einen winzigenIn-
nenhof mit Mülltonnen, einer Teppich-
stange,ander man höchstens Schweine-
bammel machen konnte,und einem spin-
deldürren Bäumchen in derMitte,das sich
tapferdemLichtentgegenreckte.IndenFas-

saden klafften Einschusslöcher aus dem
ZweitenWeltkrieg. DirektuntermeinemKin-
derzimmerfenster,imE rdgeschoss,befand
sichdieLüftungdesDamen-undHerrenfri-
siersalonsModische Linie,und auf der ge-
genüberliegendenSeite grenzte derBillard-
raum des Bötzowstübl an denHof. Es roch
nachHaarspraymitBierund Dauerwellemit
Aschenbecher zwischen Mülltonnen und
Kohlenstaub.
In Adlershofhatteichabendsmanchmal
bei KrögersFernsehen gucken dürfen.Erst
„Sesamstraße“, dann dieNachrichten.Herr
und Frau Kröger waren unsereNachbarn
undschoninRente.SiebesaßeneinenFarb-
fernseherundeineSchrankwand.FrauKrö-

ger saß auf demSofa und trank Likörchen,
währendihrMannwütendWalnüsseausei-
gener Ernte vomGrundstück inGrünau
knackte und auf „die da oben“ schimpfte,
wasichnichtverstand,weildanurderDach-
boden war.Meist schlief er irgendwann in
seinem Sessel ein, und dieNussschalen fie-
lenvonseinemSchoßhinunteraufdieAus-
legware. Wenn ich nach Hause ging,
knirschteesuntermeinenHausschuhen.
MeineElternwaren vonderneuenWoh-
nungbegeistert.EndlichmehrPlatz,rausaus
dem Neubau nachPrenzlauerBerg ,woalle
ihreFreundewohnten.„Bert,guckdochmal,
die Linden!“, freute sich meineMutter bei
der Besichtigung. „Mhm. Klebt uffmAuto-
dach“, brummteHerr Fritzner,derVormie-
ter.Eru nd seineFrau wolltenraus aus der

stinkenden Innenstadt, in eine kleinere
WohnungmitLichtundSchrankwand.
FritznerswarenkleineLeute.Reinkörper-
lichbetrachtet.BeruflichwarerDachdecker
gewesen und sieVerkäuferin in derKauf-
halle.Etwas Größeres konnte man in der
DDR nichtwerden. Diebeiden hattenZu-
gang zuRohstoffen.Wassie unter anderem
dazugenutzthatten,dieriesigeAltbauwoh-
nung optisch ihrem Körperwuchs anzupas-
sen: Über die gesamte Länge des 18-Meter-
FlurswarenaufhalberHöheDachbalkenin
dieWändegetrieben,dieDeckedarüberwar
schwarzgestrichen.Im Wohnzimmer war
auf Brusth öhe eineHolzvertäfelung ange-
bracht, die dem vormals ballsaalartigen

Raum das Flair einerBahnhofskneipever-
lieh. ZurDekoration waren oben auf dem
Sims derVertäfelung Bierdosen drapiert.
LeereBierdosen.AusdemWesten .EineDose
DAB, eineDoseBecks, eine DoseDAB, eine
Dose Becks, immer abwechselnd. Fritzners
würdensichmitKrögersverstehen.
UnsereneuenNachbarnhießenHerrund
Frau Huntgebein.Er war ein halbes Hähn-
chen; sie dagegen sah aus wie eine Riesin,
fast so groß wie meinVater,nur dicker,und
umgebenvonder Sanftmut einer altenEle-
fantendame.
FrauHuntgebeinwarschonindemHaus
geborenworden. „Vor zirka 300Jahren “,
wusste Rico,der sein Kinderzimmer ein
Stockwer küber meinem hatte und bereits
zur Schule ging. Ricos Familie war fast

gleichzeitigmitunseingezogen.Ricokannte
sich aus .Ersagte ger n„zirka“, das klang so
erwachsen.SeinVater war„zirka“ der beste
Volkspolizist der Welt, und seineMutter
backte beim Bäcker auf der anderenStra-
ßenseite „zirka“ die besten Schrippen der
Stadt. Mich beeindruckte das sehr.Das wa-
renwenigstensrichtige Berufe.Meine Mut-
ter saß immer bloß an ihrem Schreibtisch,
rauchte Club-Zigaretten, trank schwarzen
Teeund klapperte mit ihrer Schreibma-
schine.
Mein Vater studierte und war ständig in
Leipzig.OftsaßMamamit vorKonzentration
krausge zogenerStirnvorst apelweisevollge-
tipptemPapierundmaltemiteinemKugel-
schreiberkleineKringelundWortezwischen
die Zeilen. Kurz darauf klapperte die
Schreibmaschine erneut, und diePapiere
landetenunterdemSchreibtischimMüllei-
mer.
Manchmal schaffte ich es,sie zu retten.
DannschleppteichdielosenBlätterinsKin-
derzimmer,setzte mich dortand en Tisch,
trank ausgedachtenTeeaus Puppentassen,
sogkonzentriertand erMineeinesBleistift-
stummels,den ich mir mühsam zwischen
Zeige-undMittelfingergeklemmthatte,und
unterstrichPassagen imTextmitr oten,grü-
nen und blauenBuntstiften.Dazu machte
ich ein möglichstverkniffenesGesicht. Das
SpielhießArbeiten.
HinundwiederkamenFreundinnenmei-
ner Mutter zu Besuch ,die auch Kinder hat-
ten. Dann spielten wirReden. Wirversam-
meltenunsimKreisumdenPuppentisch,je-
derbekameinePuppentasseundeinenBlei-
stift, alle mussten mit überschlagenen
Beinendasitzen,ausgedachtenRauchind ie
Luft pusten undDenkgeräusche machen.
Denkgeräuschewaren„ja“,„aha“,„na,aber“,
„achso“.Undnatürlich„zirka“.

DAS HAUS, IN DEM WIR WOHNTEN,standan
derKreuzungHufeland-,EckeBötz owstraße.
Vonunserem Wohnzimmerfensteraushatte
mandieKreu zunggu timBlick. FastjedeWo-
chekonnte manzugucken,wie ein Unfall
passierte .Die Bötzow warnämlich Haupt-
straße,dieAutos,diedortfuhr en,h attenVor-
fahrt. AberweildieHufelandbreiter warals
dieBötzow,vergaße ndas dieAutofahrer.

Unddann knallte es,und alle Leute kamen
aus denLäden gelaufen.Ausdem Fischla-
den,ausderReinigungundausderBäcke rei,
woRicos Mutterarbeitete.
„Wer hatnSchuld?“,riefdie Fischverkäu-
ferin zur Bäckermeisterin hinüber,und die
antwortete: „DerMann! Schuld hat immer
derMann.Undwenndie FrauSchuldhätte,
dann nur,weilein Mannsie dazugetrieben
hat.“ DieBäckermeisterin war nicht beson-
dersgutaufMännerzusprechen.
DerBäckermeister–ein bulligerTypmit
einem Bru stkasten wieein Trafohäuschen
und einem winzig kleinen Bärtchen auf der
Oberlippe–hattenämlicheineAffäremitei-
ner seiner Angestellten. Jeder imViertel
wussteBescheid.DieStimmungindemLa-
denwarstetsausgesprochenangespannt.
„Irgendwannwardiedannsogarschwan-
ger“, erzählte meineMutter.Sie wollte dort
überhaupt nicht mehr einkaufen,weil ihr
das alles so peinlich war.Sollten die Leute
doch insBett gehen, mitwemsie wollten,
abersiemusstendieEinzelheitenjanichtin
aller Öffentlichkeit ausdiskutieren. Ich
mochtedenBäckermeister.Ers chenkteuns
KindernimmerKuchenränder.
An der Ecke war derFischladen.Vonau-
ßensaherauswieeinAquarium,mitgemal-
ten Fischen an den Scheiben.Drinnen kam
mansichvorwieineinerSchwimmhalle,in
deresnachOstseeroch:FliesenamBoden,
und dieWände warfen die lautenStimmen
derFischwirtezurück.
DieFischverkäuferinnen glichen einan-
derwieeinEidemanderen.SietrugenDau-
erwellen,weißeKittelundklobigeschwarze
Gummistiefel.Ichstell temirmanchmalvor,
derhintereTeildesLadenswäreeingewalti-
gesBassin,indemdieFischwirteherumwa-
tetenundmitbloßenHändendieFischean-
gelten.
NebendemFischladenlagdieReinigung
Rewatex, woMama ihrenPelzmantel hin-
brachte ,wennich wiederSofteis draufge-
kleckerthatte.UnsereBettwäsche wurde
sogar abgeholt. Alle zweiWochen kam ein
Kurier,nahm unserezerwühltenKissenbe-
züge mit und hinterließ ein inPackpapier
eingeschlagenesPaket mit frischen Laken,
die,auf Kante gelegt, zu flachenweißen
BretterngepresstwarenundnachSommer
dufteten.WennmandieBettenfrischbezie-

henwollte,musstemandieWäscherichtig
auseinanderschälen.WieSeiten in neuen
Büchern, dievomDruck noch zusammen-
kleben.
„Wobringen sie dieWäsche hin?“, fragte
ich. „InsGefängnis“, sagte meineMutter.
„Dortwirdsie gewaschen, gestärkt und ge-
mangelt, und dann kommt sie zu uns zu-
rück.“
„Ist das eineMangelwirtschaft?“, fragte
ich meineMutter.DasWort hatt eich in ei-
nemihrerGesprächeaufgeschnappt.Meine
Mutter verschluckte sichvorLachen am
Rauchihrer Zigarette .Oh,wieicheshasste,
wennsieübermichlachte!Ichversuchteein
ernsthaftesGesprächzuführen,undsiefand
micheinfachnurniedlich.
IchstelltemirdieOlsenbandevor,wiesie
inder MangelwirtschaftimGefängnissaßen
und Filzstiftflecken aus meinen Laken
schrubbten.Neben derReinigung befand
sich die Kohlenhandlung.DerKohlenhänd-
lerwareinkleinerMannmitgroßenHänden
undfunkelndenAugenim rußverschmierten
Gesicht,derinseinerFreizeitausschließlich
weißeKleidungtrug.ErleiteteseinGeschäft,
vondem ich dachte,damit seien „dreckige
Geschäfte“ gemeint,voneiner Baracke aus,
die hinter riesigen Kohlebergen in einer
Bombenlücke stand.Nach getaner Arbeit
gingermitseinenMännernrüberzu Marlies
ins Lindenstübchen, eine winzige Ka-
schemme gegenüber derKohlenhandlung,
diesogarmeinenElternzuverrauch twar.
Aufder Bö tzow gab es auch einenSpiel-
platz, aber da durfte ichwegen der vielen
Unfällenichtalleinhin.Außerdemhingdort
an der Tischtennisplatte immerRonny mit
seinerCliquerum.Ronnywohntebeiunsim
Hinterhaus und war einesvonsechs od er
sieben Geschwistern, die alle zusammen in
einem Bett schl iefen. Behauptete Rico.Kei-
nervon unswar je in RonnysWohnung ge-
wesen.
Ronnys Eltern waren regelmäßigeBesu-
cherdesBötzowstübl.WennRonnysMutter
lustigwurd e, stelltes iesichinunserenHin-
terhof und sang ausvollem Halse: „Einmal
um die ganzeWeltund die Taschen voller
Geld“, den SchlagervonKarel Gott,dasses
vielstimmigvonden Steinwänden wider-
hallte und ihreStimme sich krächzend an
den Kanten derEinschusslöcher aus dem

heißenKriegbrach.
RonnygingaufdieselbeSchulewieRico,
in die dritte Klasse,und war schon zweimal
sitzengeblieben.EinmalstandRonnymitei-
nemPflastersteininderHandvorRico:„E nt-
weder du kommst jetzt mitüber diegroße
Straße,oderick ha udir mit mStein uffn
Kopp.“ SeitdemgingRicodemÄlteren lieber
ausdemWeg.
EinZaun teilte unserenHof in zwei
gleichgr oßeHälften.Dieeinewar betoniert,
dieanderegepflastert.AufderG renzestand
dasspindeldürreBäumchen.„Der beto-
nierte TeilistderWesten“,erklärteRico,der
gernbestimmte,was wir spielten.Weil er
schließlich schon zur Schule ging und den
Ernst des Lebens kannte.Manchmal mach-
tenandereKindermit,dievorRonnyinun-
seren Hofgeflohenwaren.Dannführtesich
RicoaufwieeinKönig.
„Ihr müsstversuchen, aus demWesten
rüberzukommen.Undich beschützeden
antifaschistischen Schutzwall. Wenn ich
euch erwische,schießich euch tot.“„Wieso
das denn?“, erkundigte ich mich. Ricover-
drehtedieAugen.„StehtsoinderFibel.Das
istdas Buch,ausdemwirlesenlernen.Und
wie man ein guter Pionier wird.“ Ich
schnapptenachLuft.„WannkriegichdieFi-
bel?“ Ichdachte,esgäbe nur eine und die
würde immerweitergegeben.WieeinWan-
derpokal.
„Daskommtdraufan“,erklärteRicound
genoss seine Überlegenheit,„ob du zu den
Gutengehörst.“„Oh,ganzbestimmt“,versi-
cherteich.„IchwillimmerzudenGutenge-
hören.Wasmussichdafürtun?“
Ricos Augen blitzten.„Dumusst einfach
immer machen, was ich sage“, erklärte er
grinsend.„AlsErstesspielenwirantifaschis-
tischer Schutzwall.Undjetzt versuc hmal,
ausdemWestenrüberzukommen.“
Für mich war derWesten ein magischer
Ort,womanjedenTagseineLieblingssachen
anziehendurfteundsichausschließlichvon
Schokolade ernährte.Omilein wohnte im
Westen, meineUrgroßmutter,die Omavon
Rainer,meinemr ichtigenVater. Sieschickte
Westpaketeundverlangte,dafürmi tBriefen
undPostkartenentlohntzuwerden.Manch-
malkam sie auch zuBesuch zurJohannis-
thal-Oma, derMutter meinesVaters.An-
sonsten stellte ich mir denWesten vorwie

Bullerbü.EinUtopia. Manwusste,dassman
nie hinkommen würde.Aber das war nicht
schlimm.Eswarnurgut,dassesihngab.Wo
sollten sonst dieWestpakete herkommen?
IchwolltenichtindenWesten,ichhattekon-
kreter eZiele.Ich wollte endlich zur Schule
gehen.Ichwolltelesenlernen.
Unsereganze Wohnung stand nämlich
voll mit Büchern. Bücher imWohnzimmer,
im Arbeitszimmer und imKinderzimmer.
DerganzeachtzehnMeterlangeFlurwarta-
pezier tmitBüchern.SelbstinderKüchehat-
tenmeineElterneinBücherregalaufgestellt.
IchhattekeineAhnung,wodievielenBücher
herkamen, aber ich wollte sie lesen. Alle.
Ganzallein.Ohneauf MamasZeit un dLust
zum Vorlesen angewiesen zu sein.Meine
Mutter ko nntetoll vorlesen. Mitwarmer
Stimme und demrichtigen MaßanBeto-
nung.Im richtigenTempo. AndersalsPapa,
der ständigFaxen dabei machte undver-
suchte,Passagenzuüberspringenoderum-
zuerzählen.Da war er allerdings beimir an
derfalschen Adresse.„Dassteht da nicht!“,
beschwerte ichmich regelmäßig und er-
gänztedasWort,daservergessen hatte.
Ichbesaßdreize hnSchallplattenmitHör-
spielenundKinderliedernundeinenKoffer-
plattenspieler aus hellgrauemKunstleder,
den meineMutter damals zu ihrerJugend-
weihe geschenkt bekommen hatte.Genau
wie meine Bücher konnte ich alle meine
Platten auswendig mitsprechen. Es war,als
hätteicheinLochimKopf,das Geschichten
aufsaugte.Wenn ich dasGehörtespäter er-
zählte,wares ,alswürdeichmitdemRollerin
eineRillezwischendieGehweg plattengera-
ten.DieGeschichterolltevonganzallein.Ich
musstenurmitmachen,einbisschenlenken
und aufpassen, dass derRoller nicht um-
kippte.
AbernunwollteichneueGeschichtenha-
ben, die anderen,vondenen meineEltern
immer behaupteten, dafür sei ich noch zu
klein–genaudasmachtesiesoreizvoll. Die
Dinge,für die man angeblich zu klein war,
machten doch immer am meistenSpaß:
langeaufbleiben,nach20Uhrfernsehen,ar-
beiten, ThomasMann lesen.DieWelt ge-
hörtedenErwachsenen.Erwachsenekonn-
ten lesen.Undwer lesen kann, istBestim-
mer.
IchwollteauchmalBestimmersein.

Bötzow-Bullerbü


„Ein Zaun teilte unseren Hof in zwei gleichgroße Hälften. Die einewarbetoniert,
die andere gepflastert. Auf der Grenze stand ein spindeldürres Bäumchen. ,Der
betonierteTeil ist derWesten‘, erklärte Rico.“ Bötzowstraße Mitte der 70er.
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