Berliner Zeitung - 19.10.2019

(Tina Sui) #1

6 19./20. OKTOBER 2019


MEIN PLATZ


Stefan Heitbrink führt


Besucher über die


Bernauer Straße


Beruf:Freiberuflicher Gästeführer und Diplommusiker (Tenorhorn/Alphorn); Alter:51; geboren in: Gelsenkirchen; wohnt in: Neukölln; Zeit am Platz: mindestens einmal dieWoche

M


eine Führung über das Areal der
Mauer-Gedenkstätte starte ich immer
da, wo dieBernauer undAckerstraße sich
kreuzen.Genauhierbeganneinstderbefes-
tigteBauderMauerundebensoihroffizieller
Abrissim Juli1990. Hatmicheine Gruppege-
bucht,kommeichinmeinemTrabiangefah-
ren.DasistgleicheinwenigOst-West: Ichbin
gebürtigerWessi mit bulgarischenWurzeln.
ZumzertifiziertenGästeführerwurdeichvor

mehralsfünfJahren. FrüherwarichBerufs-
musiker.HeutekannichbeideProfessionen
miteinanderverbinden.Ichmusizierewei-
terhin,sowohlalleinealsauchinEnsembles,
und gleichzeitig bin ich„Stadtbilderklärer“.
Ichliebees ,Menschenzuunterhalten.
DasmacheichindergesamtenStadt.Ich
bieteFührungendurchdaspolitischeBerlin
an, historischeRundgänge oderKiez-Spa-
ziergänge.Die deutscheTeilung und die

Mauer sind dabei natürlich einzentrales
Thema.AnderGedenkstättebraucheichei-
gentlich mindestens dreiStunden Zeit, um
GästendaskomplexeSystemderGrenzan-
lagen näherzubringen.Viele Fakten kann
ich aber nur anreißen, alsoversuche ich,
miteinzelnenEindrückenErinnerungenzu
schaffen.
Außerdem gibt es so viele individuelle
Fragen:OftsindMenschendabei,dieselber

VonJörg Niendorf (Text)
und Benjamin Pritzkuleit (Fotos)


imSozialismusgelebthaben,anderekennen
ihnnurausGeschichtsbüchern.Dasfordert
mich heraus,aber befriedigt imEndeffekt
auch ungemein.IstgenügendZeit vorhan-
den, gehen wir noch in dieKapelle derVer-
söhnung und auf denBesucherturmober-
halb des Dokumentationszentrums.Jeder
kannsichdortinR uheseineGedankenüber
diesen authentischen Ortmachen. Dasist
wichtigbeidieserThematik.

S


iewolleninsBarrowland?“Sofort
legt der Taxifahrer in breitestem
Glasgow-Akzentnach:„Alsjunger
Mannbinichdaschonhin.Ichhabe
diefrühenUB40dortgesehen,wirhaben
ihreLiederauswendiggesungen:Diemuss-
tengarnichtmehrspielen.“
DasBarrowlandgehörtzuGlasgowwie
derCelticFC,dieSt.Mungo’s Cathedralund
die Tearooms des Architekten CharlesRen-
nie Mackintosh.Im Bürowartet TomJoyes,
der Schottlands berühmtesten Musikclub
seitseinerfrühenJugendalszweitesWohn-
zimmer nutzt und seitrund 35 Jahren ma-
nagt. Er geht leicht gebückt, offensichtlich
macht ihm im Altervon68J ahren der Rü-
ckenzuschaffen,abereristkonzentriertund
voller typisch glaswegischemHumor,wenn
ervonseinerArbeiterzählt:„Ichhabeohne
ZweifeldenbestenJobinS chottland.Ichbin
aber auchMuseumsdirektor,denn dasGe-
bäudeundseineGeschichteistwieeinZeit-
tunnel.“


DAS LICHT AM ANFANGdieses Tunnels er-
strahlt1934,alsdieMarktfrauMaggieMcIver
eine Halle über den Ständen des Straßen-
markts„The Barras“ im East Endvon Glas-
gowbauenlässt.AnHeiligabendwirdsieer-
öffnet. DieLegende erzählt, Maggie McIver
habeeinenPlatzschaffenwollen,ummital-
len MarkthändlernWeihnachtenfeiernzu
können.„SchöneromantischeGeschichte“,
grinstJoyes.„Ichglaubeeher,dasssiedasPo-
tenzial eines Ballhauseszum Tanzen er-
kannte.“
1958, kurznach dem Todvon Maggie
McIver,brennen die „Barrowland Ball-
rooms“nieder,wiesiebisdahinhießen.Zwei
Jahrespäter ersteht das Gebäude neu, um
eine Etage aufgestockt–und wirdinden
60er-JahrenzurHeimstattderaufkeimenden
Rockmusikund deren Stars.Letzteres in je-
der Hinsicht, denn vonder Deckefunkeln
dieSterne wie am Abendhimmel.DieLe-
gende will, dass David Bowie einen der
SternestahlundinseinerWohnunginParis
aufhängte.Wieder rücktTomJoyes den My-
thoszurecht:„IchwarandemAbendda,ich
habe das nicht mitbekommen, aber die
Bands nehmenauch gerne mal einen Stern
ausdemDressingroommitalsSouvenir.“
An David Bowie –„ein Gentlemandurch
und durch“ –kann sichTomJoyes gut erin-
nern.Erhatsieallekommenundgehense-
hen.MickJaggerkamnochimBusangefah-
ren, die Stones spieltenals Vorband. „Aus
denFensternkamRauch“,erzähltTomJoyes,
„und Jagger dachte,das Barrowland würde
brennenundwollteschonumdrehen–Glas-
gowhatte damals den Rufeiner toughen
Stadt.AbereswarennurderSchweißunddie
Kondensationaus der Halle,was da raus-
drang.“ Auch Liam Gallagher saß als junger
Bursche nervös hinter der Bühne,das erste
Oasis-Albumwargeradedraußen,nachvier
Songs versagte seine Stimme,obvor Ehr-
furcht oder als Nachwirkung heftigenZe-
chensdie Nachtzuvor,wirdunter den Fans
seit25Jahrendiskutiert.Heutesagter:„Wer
nicht im Barrowland aufgetreten ist, der ist
nieaufgetreten.“
ImBarrowlandistvielesanders.Wenndie
Fans reinkommen, gehen sie auf demWeg
nachobendirektamBackstag e-Bereichvor-
bei. Siekönnen durch dieTüren linsen, hö-
ren, was dieMusike rreden. Im Konzertsaal
selbst steht dasPublikum kaum eine Arm-
länge vonder Bühne.Extra-Verschalungen
an den Säulenreflektieren denSoundauf
eineWeise,dassmanimSaaldas Gefühlbe-
kommt, man säße praktisch in derGitarre.
„Auch Bands,die hier zehnmal gespielt ha-
ben,bleibennervös“,sagtJoyes.„Vorallem,
wenn sie nichtverstehen, was die schotti-
schenFansbrüllen.Diehabenihreneigenen
Chant,,’ereweg o,’ereweg o,’erewef ucki n’
goagain.‘Dabeiwerdensieimmerlauter,da
kannstduschonAngstbekommen.“


Vonder Bühne gebuht wurde erst eine
Band–zumindestkannsichJoyesnurandie
Proclaimerserinnern,dieihrenHit„500Mi-
les“ in einem schlimmenFake-Schottisch
zumBesten gaben.Da ve rstehendieEinge-
borenen keinenSpaß. Ansonsten lieben die
Musike rdiesen Club,gerade wegen seiner
rauhen Seite.Amy Winehouse hat lieber
mehrer eKonzerte hintereinander imBar-
rowland gegeben mit seinen bescheidenen
Kapazitätvon1900Zuschauern,alszurMas-
senabfertigungineinerSportarenazubitten.
AmyMacDonaldsahhiereinenAuftritt von
Pete Doherty und beschloss in der selben
Nacht, Rockstar zu werden. Ihrgrößter Hit
„ThisIsTheLife“besingtdasBarrowland.
EinebesondereBeziehungzumClubha-
benauchdieirischenSawDoctors.Einstde-
bütierten sie alsAufwärmer für dieWater-
boys ,hatten keinen Schlafplatz und über-

nachteten imBackstag e-Raum für dieVor-
gruppen.Zwei Jahrespäter –bereits als
internationaleHallenfüller–traten sie wie-
derauf,undzogendenkleinendunklenVer-
hau den ein Stockwer khöher gelegenen,
weitluxuriöserenUmkleideräumenderStars
vor. Möglicherweise weniger aus nostalgi-
schen Gründen denn ausSelbstschutz.Der
PromoterDonaldMacLeodschrieb einst:
„Hier kannst du alsBand nichts kaputtma-
chen,weilindembeschissenenRaumweni-
gerdrinistalsimörtlichenGefängnisinei-
nerZelle.“
SiebenTagedie WochekommtTomJoyes
hierher .Erb leibt, bis dieBands auf die
Bühne kommen,„ein magischerMoment“,
sagter .Danngehteroderwendetsichande-
renArbeitenzu.SeltenmachterdaeineAus-
nahme.Einmal beiBobDylan:„Derredet
bekanntlich nie,wenn er auf der Bühne ist.

Aberim BarrowlandhatermitdenFansge-
plaudert.“UndbeidenLokalmatadorender
SimpleMinds,die1983ihrVideozu„Water-
front“imBarrowlandgedrehthaben.

IM JÜNGST ERSCHIENENEN BUCH „BAR-
ROWLAND BALLADS“kommennunauchdie
Fansselbstzu Wort:„DieserOr thatmich be-
gleitet durch drei Ehefrauen,sechs Jobs,ei-
nenUniversitätsabschluss“,schreibteinBe-
such er.SchonmancherKundehätteihnan-
gesprochenunddieSäul egezeigt,an derer
seineFraukennengelernthabe ,erzähltTom
Joyes:„Dasistaufde randeren SeitedesTre-
sens auchso.Hiera rbeiten manchmaldrei
GenerationeneinerFamilie.“
ImGebäud eanderGallowgatetrafensich
allerdings nicht nurVerliebte,auchder be-
rüchtigteBibleJohnso llseineOpferimB ar-
rowland kennengelernt habe n, eine Art
schottischerJack th eRipper,der Ende der
60er-JahredreiFrauentötete.Essoll auch
spukenimBarrowland.TomJoyessagtzwar,
erglaubenichtan Gespen ster,„aberic hhabe
rätsel hafte Dinge ge sehen. EinWachmann
riefmichzusichundzeigtemireinÜberwa-
chungsvideo.MansiehtwiezweiDoppeltü-
renplötzlich aufgehen, obwohl davorund
dahinterallesverschlossenist.Danngibtes
da ei nen Gang, de rimmer wieder Besucher
aufschreckenlässt.I ch bi nselbst mit zwei
Geschä ftspartnerneinmal dalang gegangen,
plötzlichschreit dereineau fundruft,obdas
hierverhext sei, denn er habe eine nkalten
Luftzugundeine Berührunggespürt“.
Auchda snächtliche Wachpersonalbleibt
aufder Hut: „Ein Wachmann hatmich ge-
fragt, ob er seinen Hund mitb ringen darf.
Klar,habeic hgesagt,solangeduamnächs-
tenMorgen denHundedrec kwegputz t.Aber
sein Hund weigerte sich, in denzweiten
Stockhinaufzugehen.BeimnächstenWach-
mannmitHundwa resd asselbe .Vieleglau-
ben,dassJameshierherumspukt,einfrühe-
rerTürsteher.Der hatte keinZuhaus e, war
seinganzesLebenbiszuseinemTodhier.“
DerGeist vonJames hält niemandem
vomBarrowlandab .Dieei nzigen Geiste rwa-
renimv ergangenenJahraufdernachträgli-
chenWeihnachtsfeierinderKonzerthal lefür
die Angestellten zu sehen. „BerühmteBar-
rowland-Stars“ war dasThema desAbends.
Undsos tanden IggyPop,AliceCooper,Bono
und viele anderenoch einmal friedlich am
Tresen nebeneinander.Gegenüber imPark
gibt es einen langen Pfad, auf dem alle be-
rühmtenBands undMusiker mit ihrenNa-
menverewigt wurden, die hier aufgetreten
sind,einGlasgow-Walk-of-Fame.
Immerwieder wollten großeEntertain-
mentkonzerne dasBarrowland kaufen.Bis-
lang konnte sichJoyes er folgreich widerset-
zen.An Weihnachtenkannmanden85.Ge-
burtstag feiern. NächstesJahr steht das 60-
jährige JubiläumalsRock-Bühnean.Eswird
turbulent.GlasgowwirdimN ovember2 020
auch Austragungsortfür die UN-Klimakon-
ferenz sein, Schottland vielleicht schon auf
dem Wegind ie Unabhä ngigkeit.Aber das
Barrowlandwir dauchdasallesüberstehen.
„Ich bin für denBrexit “, überraschtTom
Joyes.„Aber nuraus drei Gründen. Ichmag
keineeuropäischenStromsteck er.Dannwill
ich eigeneFangzonen für unsereFischer.
UndichhassedenEurovision SongContest.
WennwirmitdemBrexitausdemEurovision
SongContestrauskommen,binichdafür.“
Dann lacht er und schaut einen dabei
prüfend in dieAugen. Ob er das wirklich so
meint,oderunsnureinweiteres Beispielfür
den hintergründigenHumoraus Glasgow
gibt,bleibteinGeheimnis.

BibleJohn


unddieGeisterdes


„Werhiernichtaufgetretenist,deristnieaufgetreten“,sagtLiam


Gallagher.DaslegendäreBarrowlandinGlasgowfeiert85.Geburtstag.


EinRundgang


VonJohannesPaetzold


Alle lieben diesenmythischen Ortder Rockgeschichte. AberVorsicht, erzählt der langjährige ManagerTomJoyes –hier spukt es! PICTURE ALLIANCE

Ein Kommen und Gehen:TomJoyes mit
Sharleen Spiteri vonTexas. BARROWLAND

JohannesPaetzoldempfiehlt Glasgow
auchwege nder jungen, wilden und
innovativen Restaurant-Szene.

Rock’n’Roll

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