Berliner Zeitung - 19.10.2019

(Tina Sui) #1

Zurück auf Los


Mit„Bang“setzenMandoDiaoden Kursfort,
den sie mit ihrem letzten Album „Good
Times“eingeschlagenhaben:Melodieseliger
RockundzackigeGitarrenriffsbildenwieder
diezentralenPfeilerderMusik–sow ieinder
Frühphase der Schweden. Dieelektroni-
schen Experimente,die auf der Platte
„Aelita“dietreueGefolgschafteherverwirr-
tenalsbegeisterten,sindwohlseitdemAus-
stieg des Sängers undGitarristenGustaf
Norén im Jahr 2015 endgültig passé.Jetzt
steht fröhlicherFolkpop von„Long Long
Way“gleichberechtigtnebendemtempera-
mentvollvorpreschendenKracher„OneLast
Fire“. Dasgroovige „Bang My Head“
schwingt sich zur hedonistischen Party-
Hymneauf.EinenderbestenMomentebie-
tet „I WasBlind“ mit seinem stampfenden
Blues und BjörnDixgards rauem Gesang.
„MyWoman“ wagt den Flirtmit dem
Westcoast-Sound.Mit„Scream ForYou“lotet
Dixgardalle Facetten seinerStimme aus –
vondenganztiefenTönenbiszukraftvollem
Gebrüll. Und„Society“ gibt amEnde auch
noch dem Schlagzeug den nötigenRaum,
umrichtigFahrtaufnehmenzukönnen,was
schongenügt,umdieFansdererstenStunde
demütig auf die Knie sinken zu lassen.Hier
findet sich zwar kein potenziellerHitàla
„Dance WithSome-
body“, abervoral-
lem die noisigen
Nummernfunktio-
nierengut.

MandoDiao:
Bang
Playground Music/Cargo

Väter und Söhne


Dies ist ein großer deutscherRoman: Selim
Özdogans„Der dieTräume hört“, einer,der
sichalsKrimiausdemRuhrgebietmitstreet
credibility,Mackertum undTestosteronge-
habe anschleicht, um dann alsFamilienge-
schichte im postmigrantischenMilieu von
Weisheit, Schmerzund Immer-Weiterma-
chen zu erzählen.Nizar Benali ist Privatde-
tektiv und soll imDark net einenDrogen-
Dealerausfindigmachen,alsihmein17-jäh-
riger Sohn in den Schoß fällt,vondessen
Existenzihmnichtsbekanntwar.Alsobalan-
cierters päte Erziehung, schwierigeFamili-
enverhältnisse und gefährlicheFahndungs-
arbeit, indem er alles zusammenwirft und
versucht, dasBeste daraus zu machen. Öz-
doganschreibtfieberndeLiteratur,bisoben-
hin vollgesogen mitErfahrung, mitStraße
und Hood und Dönerbude undWohnzim-
merundMercedesundKnastundClubund
HipHop ,und er hat eineSprache dafür,für
Frust, für Schmach, für den kulturellen
Schrägstand türkischerMigranten, der für
diedarauffolgendeGeneration–dienunsel-
berElternsind–zue inemständigenBalan-
ceaktführtezwischenAnpassungundRebel-
lion. Es ist auch ein intensiverRoman über
VäterundSöhneund
über die derzeitige
Rebellion, die eher
wie Verweigerung
und Trotz daher-
kommt.Großartig.

Selim Özdogan: Der die
Träumehört.Kriminalro-
man. Edition Nautilus, Ham-
burg 2019. 288S.,18Euro

8 19./20. OKTOBER 2019


HITPARADE


SchlussmitHadern


MichaelKiwanukaisteinMensch,dersich
sehrintensivmitsichselbstauseinander-
setzt.AuchdasdritteAlbumdesLondoner
SoulboysdokumentiertdieSuchenachder
eigenenIdentität.Wennerindemintrospek-
tivenLied„SolidGround“fragt:„Howdoesit
feelwhenit'squietandcalmandwithoutme
being there?“, stellt er seinenHang zum
GrüblerischenganzoffenzurSchau.Obwohl
die Grundstimmung derPlatte melancho-
lischist,hadertder32-Jährigenunaberins-
gesamt weniger mit sich als in derVergan-
genheit,unddasspiegeltseineMusikdurch-
auswider.MalumgarnenfunkigeRhythmen
denmarkantenGesang,maleinGospelchor.
Dieentrückte Klavierballade „PianoJoint
(This Kind of Love)“ kontrastiertmit dem
treibenden„You Ain'tThe Problem“,einem
Mutmachlied mit der Botschaft: Hadere
nichtsovielmitdirselbst.BeimInterludium
„AnotherHuman Being“ gehen sanfte Pia-
noklängeplötzlichin eine Schießerei über.
DieakustischeGitarreakzentuiert„Hero“–
PatefürdiesesStückstandderschwarzeBür-
gerrechtler FredHampton. „Final Days“
schließlichist eine Collage aus 80er-Jahre-
Synthesizern, psychedelischenKlangland-
schaftenund einem Astronauten-Sample,
dieeindeutigdieHandschriftdesNewYorker
Produzentenstars
Danger Mouse
trägt. So facetten-
reich kann Soul
sein.

Michael Kiwanuka:
Kiwanuka:
Universal

VonDagmarLeischow

DieemotionaleLücke


DerinDeutschlandlebendeAmerikanerStevenBloomerzählteinamerikanischesLeben


A


lleanderengehenüberdieStraße,
alsdieAmpelimdichtenNewYor-
kerVerkehr auf Grün schaltet, nur
einejungeFraumit weißemStock
bleibt stehen.Dies ist der Anfangsmoment
zwischen der blindenSonia und demGe-
schichtsstudenten Mendel, der ihr seine
Hilfeanbietet,undvondaanistseinLeben
einanderes.
DerIch-ErzählerMendelKabakoverzählt
alsalter MannseinLeben–alsjemand,des-
sen Zugang zurWelt nahezu ausschließlich
überWissenundanalytischesDenkenführt.
Als Professor für AmerikanischeGeschichte
hatte er inNewYorkand er Universität sei-
nenOr tgefunden,unddaihnimLeben(au-
ßerSonia)nichtsandereswirklichbewegtals
derDrang,dietieferenhistorischenZusam-
menhänge seines Landes zu ergründen,
schleichtsichdieseThematiknichtnurhin-
eininseineLebenserzählung,sondernwird
zuderenzentralem Stoff.
Wiekam der amerikanischePräsident
Wilson dazu, Amerika,welches er aus dem
Ersten Weltkrieg heraushalten wollte,dann
dochindenKriegzuführenmitdemmerk-
würdigenArgument,esseiein„Krieg,derdie
Weltdemokratiefestmache“?Washatesfür
das amerikanische Demokratie- und Ge-
rechtigkeitsverständnis im 20.Jahrhundert
bedeutet, dass dievorPogromen und dem
Holocaust ausEuropa flüchtendenJuden
sich in Amerika„in einem Land wiederfan-
den,indemdieHautfarbevielwichtigerwar
alsdie Religion“?UndwaserzählenderViet-
namkriegunddieRückkehrRichardNixons
aufdiepolitischeBühneüberhauptüberdie
amerikanischeDemokratie?
Denndas Jahr,ind emdas Buchspielt,ist
das„JahrdesAffen“1968.Undesi stnichtnur
dieBürgerrechtsbewegung,dieMendelsFa-
milieinunversöhnlichepolitischeLagerzer-
rissen hat.WährendSonia und ihreTochter
Eva„gerechteKriege“immerfüreinDingder
Unmöglichkeit hielten, hatte sich derSohn

Sammy beim amerikanischen Kriegseintritt
nach Pearl Harbour sofortfreiwillig zur Ar-
meegemeldet.
Als zudem begeisterter AnhängerIsraels
finden„seineSchwesterundseineEltern(...)
beiihmkeineMilde,warenwirinseinenAu-
gen doch säkulareJuden der schlimmsten
Sorte, schämten uns unseresJudeseins und
schertenunsnichtumdasSchicksaldesjü-
dischenVolkes“.AlsnunauchnochSammys
Sohn AaronvomCollege verschwindet, um
sichmöglicherweiseausjugendlichemIdea-
lismusinVietnamverheizenzulassen,dreht
Sammy vollends amRadund bittet seinen
alten Vater Mendel, denAbtrünnigen nach
Hausezuholen.
Immerwiederfragtmansich,obdieFigu-
reninS teven BloomsRomannichteinbiss-
chenzusehrDiskussionsteilnehmeranden
großen politischenErörterungen sind, die

Brooklyn 1968: Die Bürgerrechtsbewegung zerreißt in „Mendel Kabakov“eine Familie in unversöhnliche politische Lager. GETTY IMAGES

VonBernadette Conrad


Steven Bloom: Mendel Kabakov und dasJahr desAffen.
Ausdem EnglischenvonSilvia Morawetz.Wallstein, Göttin-
gen2019. 200S.,20Euro

denRomandurchziehen.Wobeiesindiesem
assoziativ und nachdenklich erzählten Le-
bensrückblick auchwesentlich darum geht,
dasssolchobsessiveIntellektualitätmindes-
tens ebenso sehr Schwäche wieStärke ist.
SelbstkritischschautMendeldarauf,undes
sind genau diese sozialen und emotionalen
„Lücken“ seinerExistenz, durch die dann
dochgenugRomanhandlungschimmert.
DennwasmitSoniabegann,scheintauch
mit ihr zu enden. 1968, inMendels 80.Jahr,
ist Sonia seit kurzemtot, und mit ihr auch
das,wassieermöglichthatte.„DieSinne,die
ich als Kind abgeschaltet hatte,waren teil-
weise mein ganzes Leben lang abgeschaltet
geblieben.VonSoniahatteichgelernt,Musik
zu hören,Blumen zuriechen und dieNah-
rung, die ich zu mir nahm, wirklich zu
schmecken.“Wasbleibt, ist dieErinnerung
daran,wasSoniainbestimmtenSituationen
getan hätte:Undsoi st es nunMendel, der
seineKinderzumEsseneinlädtoderderEva
überdie Wangestreicht,wennsie weint.
Steven Bloom,77,hatschonvor40J ahren
seinNewYorkerLebengegeneindeutsches
Leben eingetauscht.In Brooklyn geboren
und aufgewachsen, hatte er noch inNew
Yorkstudiert,aberdannbaldalsjungerDo-
zent amerikanische Landeskunde an der
UniversitätHeidelberggelehrt. Er leitet am
dortigenDeutsch-Amerikanischen Institut
auch Diskussionsgruppen zur amerikani-
schenGeschichte.VielleichtkeinZufall,dass
politischeDiskussionenundAnalyseeineso
bedeutsameRolleinseinenbishersechsRo-
manen spielen. Andersverhält es sich mit
der„politicalcorrectness“,wennerin„Men-
del Kabakov“ Schwarze durchweg als „Ne-
ger“ be zeichnen lässt.Dahinter steht, so
kannmanvermuten,eineAbwehrgegenpo-
litische Schönfärberei und Scheinheiligkeit.
InAmerikaerschienensindBloomsBücher,
wieauchdasvorliegende–souveränvonSil-
via Morawetz übersetzt–jedenfalls bisher
nicht.

OL


KRIMI


DerweiblicheBlick


„IchertragedieseScheißenichtmehrlänger.
IchfahrenachParisundnehmemirGret-
chenTeiglerpersönlichvor“,fauchtAnna
McDonaldaliasSophieBukarankurzvor
demEndevonDeniseMinaswahnwitzigem
Thriller „KlareSache“. Gretchen ist die
reichsteFrauder WeltunddieSachemitder
Parisreise bestimmt keine guteIdee,aber
wassoll ’s,ind iesemBuchistbisdahinschon
so viel Irrwitziges passiert, da wirddie Gute
auchdieHöhlederLöwinüberstehen.Anna
wurde vonihrem Mannverlassen,deretwas
mit der Frau des Popstars anfing, mit dem
Anna dann nachNorden fährt, während sie
einen Podcast hörtüber den mysteriösen
UntergangeinerteurenJacht,derenBesitzer
siekannte,alssienochSophiewar.Derwar
mit Gretchen verheiratet, ging nun also mit
derJachtunter,damussAnnanatürlichwas
unternehmen–und das ist erst der Anfang!
DasErstaunlichean diesem Roman ist je-
doch weder die Geschwindigkeit noch der
Absurditätsgrad,sondernderweiblicheBlick
auf dieses so männlich vorschablonierte
GenrederJagdaufdasBöse,dienichtsund
niemand aufhalten kann.Hier nehmen die
Frauen alles in dieHand, das Böse und das
Gute,und telefonie-
renauch mitten im
anstrengendsten
Schlagabtausch
schnell noch mit
denKindern. Toll.


Denis eMina: Klare Sache.
Thriller. DeutschvonZoë
Beck.Argument, Hamburg


  1. 352S.,21Euro


VonGüntherGrosser
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