Berliner Zeitung - 26.10.2019

(Ron) #1

26./27. OKTOBER 2019 9


RÜCKBLICK VON ARNO WIDMANN


Trapezunt, die Revolution


undThessaloniki


schen Revolution. DieRegierungsgeschäfte
wirdkünftigdasDirektoriumführen.Bisdie
MilitärdiktaturNapoleonBonapartesderRe-
publikendgültigdenGarausmachenwird.


  1. Oktober 1912


Griechenland: Griechische Truppen ver-
treibenwährendderBalkankriegedieOs-
manen ausThessaloniki.Der26. Oktober
wirdgewählt,weil es derNamenstag des
Stadtheiligen und Schutzpatrons von
Thessaloniki, Demetrios ,ist. Ausdem
multikulturellenThessalonikiwirdind en
folgendenJahrzehnten eine griechische
Stadt.

Und am 26. Oktober 1969 in der
Berliner Zeitung

Der neue Deutsche:Wirproduzierenfünfmal
sovielwieimGründungsjahrunsererRepu-
blik. In zehn Monaten stellen wir heute so

Sultan Mehmed II riecht an einer
Rose. BILKENT UNIVERSITY

DerKonvent empfängt 1793 hol-
ländische Republikaner.IMAGO IMAGES

vielherwiedasgesamteausgedehntekapi-
talistischeDeutschlandvordemKriege.Das
jährlicheNationaleinkommen hat sich seit
1949 vervierfacht, dieHundert-Milliarden-
Mark-Grenzeüberschritten.Aber das alles
ist nicht die eigentliche Leistung, sondern
nurihr Ergebnis. Wirhaben, indem wir in
gemeinsamerArbeitunserLandzumGu-
ten veränderten, uns selbstverändert. Es
war das Anderswerden,vondem Johan-
nesR. Becherspricht,dasunsletztendlich
diese großartigen Leistungen auf allen
GebietenunseresLebensvollbringenließ.
Ja,wir sind anders geworden.Ausdem
DeutschlandderKonzentrationslagerund
des preußischenMilitarismus,des Ras-
senwahns und des blind-wütigenAnti-
kommunismus wurde hier einStaat des
Friedens und der friedlichen Arbeit, der
VölkerfreundschaftunddesSozialismusge-
boren. AufdemTerritoriumdesaltenPreu-
ßen steht dieWiege de sneuen, sozialisti-
schen Menschen.Undhier hat sichGorkis
Wort erfüllt: „EinMensch –wie stolz das
klingt.“


  1. Oktober 1461


Trapezunt:Unter Sultan Mehmed II. erobern
osmanischeTruppen dasKaiserreichTrape-
zunt in Anatolien, den letzten in Kleinasien
verbliebenen griechischenStaat. DieHagia
Sophiain Trapezuntwirdind erFolgezur Mo-
scheeumgewandelt.2009wirddertürkische
FußballvereinTrabzon Karadeniz sportpatri-
otischumbenanntin1461Trabzon.



  1. Oktober 1795
    Demokratie:DerfranzösischeNationalkon-
    vent tagt letztmals während derFranzösi-


E


sistnichtdasSchlechtesteandenJubiläen,dasssieim-
merwiedereinmalzumKassensturzführen,zueiner
Generalrevision.GutdreiJahrzehntenachdemMauer-
fallstelltsichaufeinmaldieFrage:Werwaresdenn,der
dieMauerzumEinsturzbrachte?Darüberist,nichtnurunter
Historikern,eineDebatteausgebrochen.WelcherEinzelne,wel-
cheGruppekönntenmitRechtvonsichsagen,siehättendeners-
tenSteingeworfen,hättenallesinsRollengebracht?
Waresd asHäufleinderTollkühnen,dieam7.Oktober,pünkt-
lich zum40. Jahrestag der DDR, inBerlin auf dieStraße gingen?
KurznachMittagtrafmansichamAlexanderplatzvorderWeltzeit-
uhr,damals,als noch alles gefährlich war und die Häscher der
StaatssicherheitunterdenwenigenwildEntschlossenenihreOp-
fer leicht herausgreifen konnten.Ichsehe sie noch, schlecht ge-
tarnt in ihren blassenWindjacken, mit denHandgelenktaschen,
diemirseitherverhasstsind,wiesiesichplötzlichzudreienund
vierenaufeinenderUnserenstürzten,ihnbeiseitezerrtenundab-
führten.
OderwarenesdiewütendenBürger,diesichschonindeners-
tenOktobertagenamDresdnerHauptbahnhofeineSchlachtmit
derPolizeilieferten,ausProtestgegendieWillkürderRegieren-
den? Manerinneresich: DieStaatsführung beging damals den
schwerenFehler,dieTransportederAusreisewilligenausderPra-
gerBotschaftübereigenesTerritoriumzulenken(„AktionZug“),
auf die Souveränität des Landes pochend.Daserst brachte die
WutderDaheimgebliebenenzumKochenundführtezublutigen
Zusammenstößen.20000 Menschen belagerten den Bahnhof,
Pflastersteineflogen, Autos brannten, bürgerkriegsähnlicheZu-
stände.Wer diesen blindenZorn einmal sah, kann ihn schwer
verg essen,erfragtsichauch,wievielesbraucht,dasserplötzlich
aufsneueausbricht.
Warenesa lsodie BotschaftsbesetzervonPragundBudapest,
mit denen alles begann,Familien mitKind und Kegel, die mit
dem Mutder Verzweifelten auch das andereDeutschland, die
Bundesrepublik, in etwas hineinzogen, das größer war als die
Vorstellungskraftaller?
Oder waren es erst dieTeilnehmer der späteren Leipziger
Montagsdemonstrationen,frageicheifersüchtig–jeneHundert-
tausend,dieseitdem9.OktoberWochefür Wochesichnachdem
Schneeballeffekt formierten, eine friedlicheKirchentagsmenge,
darunter aber auch dieFrustrierten, dieRandalierer,mit und
ohne Glatze, Deutschlandfahnen schwenkend, ein Schoß, aus
demauchdaszukünftigePegida-Publikumkroch?Jedenfallsim-
mer mehrMenschen, bis jene kritischeMasse erreicht war,die
dasSystemzumKippenbrachte?


WANN BEGANN JENE EIGENDYNAMIK,dieschließlich,alsgrößten
Überraschungseffekt derGeschichte,die Öffnung derBerliner
Maueram9.Novembererzwang?Erzwang,sageich,undwirwis-
sendochalle,auchdieshättesonichtkommenmüssen.Derbe-
rühmteNotizzettel vonGünterSchabowski,Politbüromitglied,gilt
alseinhistorischesVersehen,einZufall,derzumUmschlagpunkt
wurde ,eine Kleinigkeit, dieGroßes bewirkte.(DasOriginal liegt
heuteim“Hausder Geschichte“inBonn.Jemandkönntemirden
Gefallen tun und mir das kostbareSchmierblatt beiGelegenheit
einmalzeigen.)
OderwaresdasWirkenderBürgerrechtlerinalldenJahrenzu-
vor, die beharrlicheUntergrundarbeit vielerDissidenten im gan-
zenOstblock?Wardie Initialzündung derStreik der Danziger
Werftarbeiter und dieGründung der ersten unabhängigenGe-
werk schaft Solidarnosc?Oder nochweiter zurück, derAuftritt
PapstJohannesPaulII.inseinemHeimatland,beidemHundert-
tausendeGläubige zum erstenMaldie stille Macht einer nicht
mehrstaatlichorganisiertenMengespürten?
Esistmüßig,ausalldiesenUrsachendieeine,ausalldenAnläs-
sendeneinenherauszupickenundzufavorisieren.IndenZeiten
des Kalten Krieges gehörten auch dieStrategien der beteiligten
Mächte zumSpielverlauf.Präsident Reagans Schachzug, dieSo-
wjetuniondurcheinWettrüstenindieKniezuzwingen.Präsident
GorbatschowswundersamePolitikderschrittweisenAbdankung
bis hin zurEntscheidung, die DDR, das sowjetischeProtektorat,
sichselberzuüberlassen.
Diesmalwarallesanders,diesmalbliebendiePanzerindenKa-
sernen, diesmal wurde derAufstand nicht gewaltsam niederge-
schlagenwieam17.Juni1953inOst-Berlin.Diesmalschwemmte
dieWelledergewaltlosenDemonstrationendiebisdahinallmäch-
tigenVolksvertreterhinweg,brachdenBetonaufundflutetesämt-
liche Institutionen derDiktatur,inklusiveder Staatssicherheits-
zentren. DieFrage,wer das ganzeins Rollen brachte,kommt zu
spät,siewirddashistorischeWunderdieserOktobertagevon1989
niemalseinholen.
Odersollteichsagen:Halt,halt,wirwarendas!Sollteichaufuns
zeigen,dieRebellendererstenStundevomAlexanderplatz,denn
ich war damals dabei?Soll ich auf die alles entscheidendenTage
danachverweisenunddamitaufuns,dieHaufenUnerschrocke-
ner,aberauchUnbedarfter,mittlerweileeinigeTausend,diesichin
BerlinundanderswoaufeinDuellmitmassivenPolizei-undMili-
tärkräfteneinließen?WirwarenkeineHelden,wirhattenaberauch


nichtsmehrmitdenStubenhockerngemein,denpassivenMitläu-
fernaufihrenBalkonenundhinterdenGardinen,denenwirvon
derStraßeherzuriefen:„Leute,laßtdasGlotzensein/Kommther-
unter,reihteuchein!“,denEvergreenallerProtestmarschierer.Die
aufgeräumteStimmung,derlaunigeToninunserenReihenhatten
sofortihrBeruhigendes,imKontrastzudendüsterenPanzerfahr-
zeugen,wieausdemNichtsimStadtzentrumaufgetaucht,denSi-
renenderPolizeifahrzeuge,diedurchdieStraßenjagten.
Nein, wir waren keine Krieger derDemokratie,wir waren
Clowns ,die verzweifelt nachFreiheit rangen wie man nachLuft
ringt, weil man dabei ist zu ersticken.DieErstickungsgefahr war
nichtnureinGefühl,ichhattesieauchphysischkennengelerntin
sovielenausweglosenSituationenmeinesnochjungenLebens,in
SchuleundArmeedienstundalsStudent,beiAppellenundinVer-
sammlungen,inHundertenergebnislosenDebattenundzeitver-
schwendenden Aktivitäten, in denen mein Leben zerbröselt
wurde .Nunwaresgenug,nunsprangenwirausdemSchattenund
kamenzusammen:Wolltendochmalsehen,wievieleesvonuns
gab.UnddaswarderStreik,wirbestreiktendiefestgefahreneWirk-
lichkeit. Aber für uns war es eher einHappening mit staatlichen
Komparsen,dieallerdingsechteWaffentrugen,Pistolenundselbst
Maschinengewehre. Für uns war es ein dadaistischesSpektakel,
die größte nur denkbarePerformance,denn wir warenPerfor-
mance-Artisten.IchsprechefürmichundmeineFreundeausder
KünstlerszenevomPrenzlauerBerg (nichtalle,nichtdie wendigen
Stasi-Spitzel),ichkannnurvonunsreden,diewirunsgutgenug
kannten,vonElseundUlfunddenanderen,dieschließlichver-
haftetwurden.

DAMALSGERIETENAUCHWIRINDIEMASCHINE.Auseiner
Launeheraus,eswarmeinGeburtstag,warenwirindieNacht
ausgeschwärmt,mittenhineininsGetümmel,inzwischenso
übermütig,dasswirdiearmenKerleinihrenUniformenver-
höhnten.BisunsaneinerStraßeneckeeinPolizeikommando
festhielt,ihrVorgesetztergabdenBefehl,undwirwurdenaufei-
nenLastergeworfen,durchdiehalbeStadtgekarrt,immermehr
vonuns.Wurdenböseverprügelt,stundenlangenSchikanenauf
Polizeirevieren ausgesetzt, anderntags mit einemStrafgeld ent-
lassen –die Gefängnisse waren schon überfüllt.„Konterrevolu-
tionäreSchweine!“,schrienunsdieVertreterder Volkspolizeibei
ihren PrügelorgieninsGesicht.Esfehltenichtviel,undsiehätten
vonder SchusswaffeGebrauch gemacht.Aber dann wurde der
Druckder Straßeübermächtig,invielenStädtengabesjetztDe-
monstrationen,FernsehbilderverstärktendenEffekt.DieWeltöf-
fentlichkeitwargeweckt,undallesnahmseinenfinalenLauf.
Aberhaltenwirfest:denAnstoßhattenureineMinderheitge-
geben. Diegroße Masse der Angepassten blieb lieber zuHause
undverfolgtedieRevolutionamBildschirm,ganzzuschweigen
vondenSystemtreuen.SiehättenaucheinechinesischeLösung,
vonderihrletzterStaatsratsvorsitzenderschwärmte,hingenom-
men.FürunsaberwarderPunkterreicht,wowirmitdiesemRe-
gime amEnde waren.Vierzig JahreUnfreiheit, das war genug.
Allzu lange hatten wir uns jedeMaßnahme in dem nachSta-
lin’schen Bauplänen eingerichtetenMusterstaat gefallen lassen.
Unsging es nicht mehr umReformen,Mitgestaltung, endlose
DisputeüberdenbesserenSozialismus.UnsgingesumMacht-
wechsel,radikalenNeuanfang–„Konterrevolutionäre!“
DasbestimmtbisheuteunserePerspektive,das,undnichtdas
Gejammer undGeschimpfe derer,die um ihren Obrigkeitsstaat
gebrachtwurdenundihnnun,woallesanderskam,gernwieder
hätten,bitteinmoderaterForm.IchwilldieseFeierstundenicht
verderben.Aberichwillauchandeuten,worindieUrsachender
allgemeinenUnzufriedenheitliegen.
WerwarendenndieAkteurevon1989,jenerRevolutionohne
Revolutionäre? Es waren Bürgerrechtler,Dissidenten,Freiheits-
sucher,KünstlerundTräumerallerArt,DemonstrantenausFrust
oder politischerBewusstheit, Kämpfer für dieMenschenwürde,
sieallehabenihrenAnteildaran.Selbstnochdie„Wendehälse“,
auchdasHeerder MitläuferderletztenStunde,alskeine Gefahr
mehr bestand, bis das ganzesich totlief.Ichsehe noch, wie die
letzten ihreTransparente einrollten und nachHause gingen,
durchfroren wie nach einerverregnetenSilvesternacht.Und
dannkamauchschondasBegrüßungsgeldundallesweitere,die
Wahlen, dieEinheit, dieTreuhandanstalt und diePostenvertei-
lungim Verhältnis1:100Ost-Westodersoähnlich.
Am Ende hat nur ein kleinerTeil der Ostdeutschen bekom-
men, was sie sichvorgestellt hatten.Unter den Enttäuschten
sorgt dieAbwicklung der DDR bis heute fürEmpörung.Fragt
mansie ,wovonsiegeträumthaben(undgeträumthabenviele),
bekommt man tausendGeschichten zu hören:Viele gingen gut
aus,aber es hörtsich anders an.DieFrage ist immer,woj eder
EinzelneindenentscheidendenOktobertagenstand.Gehörteer
zu den Andersdenkenden,vondenen Rosa Luxemburg(etwas
unbestimmt)sprach,dieKommunistin,mitderkeinStaatzuma-
chen war.Die ermordete polnische Jüdin fällt mir immer dann
ein,wennichandieBerlinerMauerdenke.„StalinsDenkmalfür
Rosa Luxemburg“, wieHeiner Müller schrieb,eine Zeile,die si-
cherdie Zeitenüberdauernwird.

Wir


Clowns

derFreiheit


Der1962inDresdengeboreneLyriker,


EssayistundÜbersetzerDursGrünbeinistseit


den90er-Jahreneinerderbekanntesten


deutschenAutoren.Hiererzählter,wieerals


BewohnervonPrenzlauerBerg1989erlebte


VonDurs Grünbein



  1. Oktober 1989:
    Gerangel zwischenPolizei und Demonstranten
    auf dem Alexanderplatz.
    DPA, IMAGO IMAGES

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