10 26./27. OKTOBER 2019
Leo
Gutsch
Die Butter
vom Brot
G
esterntat ich etwasUnerhörtes:Ich
kaufte zweiStreuselschnecken und ei-
nenhalbenLiterMilch,setztemichinunse-
remParkind ie matteHerbstsonne und
schlang innerhalbvonzehn Minuten alles
herunter.
OhGott,wardasschön!
Ichfühltemichwiefrüher,alsichaufdem
WegvonderSchulenachHausebeimBäcker
anhielt,umfür25PfennigeeingroßesStück
Streuselkuchen zu kaufen.DieBäckersfrau
gabmirmanchmaleinGlasMilchdazu,„da-
mitder Kuchenbesserrutscht“,wiesiesagte.
Später habe ich mir sowohl dasKuchen-
essenalsauchdasMilchtrinkenabgewöhnt.
Beidesgaltalshöchstungesund,wegendes
todbringendenZuckers und der für den
Menschen angeblich kaum verdaubaren
Kuhmolke.Nunlasichallerdingsvoreinpaar
TageninderZeitungvoneinerneuenErnäh-
rungsstudie,die alle dieseGewissheiten in-
frage stellt.Zucker,sos agen renommierte
Forscher aus Kanada, sei gar nicht so
schlimm, wie man immer dachte.Ers ei in
Maßen sogar wichtig für denStoffwechsel
und dieDarmflora. Ähnliches gilt für die
gute,alte Kuhmilch, derenGenuss ja in er-
nährungsbewussten Großstadt-Milieus als
VorstufezumSuizidbetrachtetwird.Auchda
geben dieForscher Entwarnung,Milch sei
eines der hochwertigstenProteine und be-
denkenloszuempfehlen.
Ichglaube,esgibt kaum einen anderen
Forschungsbereich, in dem dieEinsichten
undWahrheitensostarkschwankenwiein
der Ernährungswissenschaft.Plötzlich er-
fährtman, dass der eben noch total ge-
sundeOrangensaftdickmacht,dassunser
gutes Bio-Vollkornbrot denMagen reizt,
dass bestimmteGemüsesortenwegen ih-
rerBitterstoffenichtgänzlichungefährlich
sind.SogarrotesFleisch,dasnochvorkur-
zemals krebserregend galt, soll neuesten
Erkenntnissen zufolge völlig ungefährlich
sein. Meine Lieblingsstudiekommt von
derBerlinerCharité.DieForscherdortsa-
gen, es sei imGrunde egal, was man isst,
solange man damit normalgewichtig und
gesundbleibt.
Daswarder Moment,alsichzumBäcker
geranntbin.
Ichfrage mich, warum man eigentlich
so wenig über dieErnährungweiß? Wie
kann es sein, dass man dieDinge ständig
neu betrachten muss?Undwie wir ddas
weitergehen?Vermutlich werden wir ir-
gendwann erfahren, dassVitamine das ei-
gentlicheTeufelszeugsind,dasseinemvon
Chia-Samen dieFußnägel ausfallen.Dass
man dieSalatsoße am besten mitMoto-
renöl zubereitet,weil alles anderekom-
plettunverantwortlichwäre.
Kannmannichteinmaletwasfeststellen,
dasdannaucheinbisschenBestandhat?Ich
meine,ErnährungistdochkeinRandthema,
dasniemandeninteressiert.Esgibtkaumet-
was,das die Menschen so sehr beschäftigt
wie Essen undVerdauung. DerBlähbauch
vonder Beate,der Reizdar mvom Matthias,
VonMaxim Leo
dassinddochThemen,mitdenenmansich
ganzeAbendebeschäftigenkann.
Ichpersönlich war schon immer miss-
trauisch,wennesumGlaubenssätzederEr-
nährungging.DieeinzigewirklicheAutorität
indiesemBereichwarfürmichmeineOma,
diezusagenpflegte:„Wasdichnettansieht,
daskannstduauchessen.“Ichfinde,ind ie-
sem Satz steckt sehr vielWeisheit. Meine
Omakonnte richtig ungehalten werden,
wenn ich mir zumBeispiel ein Leberwurst-
Brot schmierte und dieButter unter der
Wurst vergaß. „Junge,die Wurst grault sich
dochsoalleineaufdemBrot“,sagtesiedann.
ZumThema Butter gibt es übrigens eine
StudieausSchweden,diebelegt,dassselbst
ein hoherVerzehr vonMilchfett dasHerz
und dieGefäße nicht schädigt.Margarine
hingegen,langealsgesundeButter-Alterna-
tivegepriesen,wirdoftausgehärtetenPflan-
zenfettenhergestellt,diedenAnteilanunge-
sundem Cholesterin im Körper erhöhen.In
diesemSinnewünscheich:GutenAppetit!
W
erfüreinprivates,zuHauseeingenom-
menesMenüeineSpeisekarteausdruckt,
istentwederGastbeiderFernsehshow
„Das perfekte Dinner“ oder hat einen
sehr,sehr besonderen Anlass zu feiern. Schade eigent-
lich, denn Speisekarten erzählen so viel, nicht nur das,
wasaufihnensteht.ManlerntetwasüberdenMoment
unddieMenschen,diezusammenBrotbrechen.
Dasausgesprochen rechercheaufwendige Buch
„Wohlbekam’s!“(VerlagDaskulturelleGedächtnis)prä-
sentiertdem Leser nun historische Menükarten, wie
man sie selten zu Gesicht bekommt.Menüs aus drei
Jahrtausendenkommenhierzusammen,vondem,was
der assyrische König Assurnasirpalder Zweite seinen
TausendenGästen im Jahr 879 vorChristus in Nimrud
präsentierte –unter anderem 10000Turteltaubenund
14000Schafe–hinzuKimKardashianundKanyeWests
Hochzeitsmenü: jene hausgemachteHalbmondpasta
undSeeteufel-undRinderfilets,die2014imFortediB el-
vederegegessenwurden.Oderdie weitauswenigerpri-
vilegiertenfranzösischenKriegsgefangeneninBranden-
burg,die1915nurGerste,FettundKartoffelnzuMittag
bekamen.Ja,Geschichteund Kulinarik, was will man
freilichmehr?
Dabei muss man wissen, dass dieMenükarte „à la
russe“,eineAbfolgeverschiedenerGerichte,wiewirsie
heute kennen, erst seit dem 19.Jahrhundertexistiert.
Vorher war es gängig, alleGerichte zeitgleich auf den
Tisch zu stellen, genannt wurde das„serviceàlaf ran-
caise“.DaskonntezuziemlichopulentenBankettsfüh-
ren,wiemansieausBilderndeseuropäischenBarockim
- und 18.Jahrhundertkennt, etwavonRubens und
Poussin.DerartigeDekadenzistheuteverpönt,aberbie-
tetsichhieralsdurchausunterhaltsameLektürean.
DIE BEATLES
sind 1965 auf ihrer ersten USA-Tournee
und lassen es sich nicht nehmen,
dem King of Rock’n’Roll, Elvis Presley, am
- August einen Besuch in seinem Haus
in Bel Air,Los Angeles abzustatten.
Die Stimmung ist schlecht, bis zusammen
musiziertund dieser fleischlastige
Mitternachtssnackverspeist wird.
Pfirsiche
aufdem Mond
EssenistnichtnurGenuss,sondernauchKulturund
Geschichte.WasNeilArmstrongundLadyDisoverspeist
haben,zeigennunhistorischeMenüs
VonNastaReznikavaundSarahPepin
1791 ERÖFFNET
das Stück „Die Jäger“ des Dramatikers
August Wilhelm Iffland dasWeimarer Hoftheater,
dessen LeiterJohannWolfgangvonGoethe ist.
Sieben Jahre später,als das Theater neugestaltet
wird, kommt Iffland zum Frühstück
zum Dichterfürst: auf ein Gläschen
süßenWein und ein Stückchen
Zervelatwurst.
ALS DER NOBELPREIS FÜR PHYSIK
1903 an Henri Becquerel, Marie und
Pierre Curieverliehen wird, ist das
Ehepaar Curie aus Krankheitsgründen
nicht anwesend. Das feierliche
Abendessen samt Schildkrötensuppe
und Haselhuhn findet am 10. Dezember
desselben Jahres im Stockholmer
Grand Hôtel ohne sie statt.
MIT EINER OPULENZ,
die man heute kaum mehrkennt,
kommt das letzte Speisemenü der
ersten Klasse auf derTitanic daher.
Küken, Lamm,Austernund Filet mignon
beglücken die GaumenvonJohn
Jacob Astor,Benjamin Guggenheim und Co.,
bevordas Schiff am 14. April 1912 im
Atlantikversinkt.
ANIHREMTRAGISCHENTODESTAG,
dem31.August1997,fliehenPrinzessinDianaundder
ägyptische Geschäftsmann Dodi Al-Fayed voreiner
MeutePaparazzi. Davorgehen sie nicht wiegeplant
ins Bistrot Benoit zum Abendessen, stattdessen bestellt LadyDi
sich dieses Essen auf ihr Zimmer imPariser Hotel Ritz.
AUCHAUFDEMMOND
brauchtesSpeisundTrank.NeilArmstrongund
Buzz Aldrin landen–nach achtTagenini hrer „Saturn“-Rakete –
am 20. Juli 1969 auf dem Mond,wo sie mit Speckstücken
und Pfirsichen beglücktwerden. Und das mehr als 380 000 Kilometer
vonjeglichen Lebensmitteln entfernt.
VERLAG DAS KULTURELLE GEDÄCHTNIS (6)