Politik
4 ** Berliner Zeitung·Nummer 246·Mittwoch, 23. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································
NACHRICHTEN
Karlsruheweist Klagen
gegen Dieselfahrverbot ab
AutofahrersindvordemBundesver-
fassungsgerichtmitKlagengegen
Dieselfahrverbotein Stuttgartabge-
blitzt.DasKarlsruherGerichtnahm
nacheinerMitteilungvomDienstag
neunVerfassungsbeschwerdennicht
zurEntscheidungan.Siehattensich
gegenFahrverbotefürDieselfahr-
zeugemitderAbgasnormEuro4und
schlechtergerichtet.DieKlägerkriti-
sierten vorallemdie Verkehrsschil-
der,mitdenendasFahrverbot
durchgesetztwird:DieSchilder
seiennicht,wievomGesetzgeberge-
fordert,erfassbar.(dpa)
EU will Klarheit über
Haushalte in Rom undParis
DieEU-KommissionhatvonItalien
undFrankreichrasch„Klarstellun-
gen“überdieHaushaltsplänefürdas
Jahr2020 verlangt.InbeidenFällen
bestehedasRisiko,dassdie Budgets
dieeuropäischenVorgabenfürdie
HaushaltsführungundSchuldenre-
duzierungverletzten,heißtesin
SchreibenandieRegierungenin
RomundParisvomDienstag.Beide
Euro-LänderbekameneineFristbis
Mittwoch.SonstdrohteineAbleh-
nungderHaushaltsplänedurchdie
Kommission.(AFP)
Bewährung für Ingolstadts
Ex-Oberbürgermeister
WegenKorruptionimZusammen-
hangmitImmobiliengeschäftenist
derEx-OberbürgermeisterIngol-
stadts,AlfredLehmann(CSU),zu
zweiJahrenHaftaufBewährungver-
urteiltworden.DasIngolstädter
Landgerichtsprachden69-Jährigen
wegenVorteilsannahmeundBe-
stechlichkeitschuldig.Erhattezuge-
geben,beimKaufmehrererWoh-
nungenVorzugspreiseerhaltenzu
haben.DerStaatwirdbeiLehmann
auchrund 380000 Euroeinziehen.
DamitsollendiefinanziellenVorteile
Lehmannsabgeschöpftwerden.
SolltedasUrteilrechtskräftigwer-
den,würdeLehmannseinePensi-
onsansprücheverlieren.(dpa)
Gantz soll Regierung
in Israel bilden
BennyGantz hat vierWochen Zeit, eine
Regierungkoalition zu bilden. AFP
NachdemScheiterndesisraelischen
MinisterpräsidentenBenjaminNe-
tanjahumitderBildungeinerneuen
RegierungistjetztseinRivaleBenny
Gantzam Zug.PräsidentReuven
RivlinkündigtenachMedienberich-
tenan,dassernunmehrdasMandat
andenfrüherenMilitärchefGantz
vomMitte-BündnisBlau-Weißwei-
tergebenwolle.(dpa)
Abtreibungen und Homo-Ehe
in Nordirland erlaubt
InNordirlandistinderNachtzum
DienstageineneueGesetzgebungin
Kraftgetreten,nachderkünftigAb-
treibungenunterbestimmtenBe-
dingungenundHomo-Ehenerlaubt
sind.DieÄnderungenwarenzuvor
imSommervombritischenUnter-
hausinLondonbeschlossenwor-
den,wiebritischeMedienberichte-
ten.Dadurch werdendie Regelun-
gendenenindenanderenTeilen
Großbritanniensangepasst.(dpa)
Sieg
und
Niederlage
BritischesParlamentkippt
JohnsonsBrexit-Zeitplan
VonKatrin Pribyl, London
A
lles im Brexit-Drama ist nach
Dienstagabend wieder einmal
anders als erwartet.DasParlament
billigtezwardenGesetzesrahmenfür
dasBrexit-AbkommenimGrundsatz.
Entscheidender war jedoch dasVo-
tumüber denZeitplan derweiteren
Beratung,dasdieRegierungverlor.Es
macht im Effekt die Bestrebung von
BorisJohnson,bis zum 31. Oktober
auszutreten, zunichte.Der Premier
hat das Ratifizierungsverfahren des-
halbvorerstaufEisgelegt.
WelcheOptionenhatdie Regierung?
Nachdem die Abgeordneten am
Sonnabendeinen Antrag des Abge-
ordneten Oliver Letwin angenom-
men haben, der vorsieht, dass das
Parlament zunächst die Gesetzge-
bung zur Umsetzungdes Abkom-
mensbilligt,umeinenungeordneten
No-Deal-Brexit auszuschließen,
wolltedieRegierungbisDonnerstag-
nachtüberdieGesetze, diedenAus-
tritt regeln, abstimmenlassen. Nun
wurdederstraffeFahrplangekippt.
Waskommtnochaufdie Abgeordne-
tenzu?
Am Dienstag legte die Regierung
dem Parlament die „Withdrawal
AgreementBill“vor.DasGesetz,das
alleAnpassungenenthält,diedurch
denBrexitnotwendigwerden,wurde
in einerzweiten Lesung debattiert.
BeimanschließendenVotumgabdie
MehrheitderAbgeordnetenihreZu-
stimmu ng–eswareinersterSiegfür
Johnson. Dochder Premier muss
trotzdembangen.Denndie Opposi-
tion wird Zusatzanträge anhängen
wollen, diedie Gestal tdes Brexits
grundlegendveränder nkönnte n.
Könnte der Brexit verhindertwerden?
Dieoppositi onelle Labour-Partei
könnte einenÄnderungsantrag ein-
bringen, demzufolgeJohnsons Deal
demVolki neinem zweitenReferen-
dum zurBestätigung vorg elegt wer-
densoll. DerGroßteil derSozialde-
mokratensowieweitereParlamenta-
rier wünschen, dass als Alternative
auchderEU-VerbleibaufdemWahl-
zettel steht. Ob so ein Antrag Chan-
cen auf eineMehrhe it hat, wird be-
zweifelt.Eherdenkbarist,dasseseine
VorgabedurchdasParlamentschafft,
nach der das Königreich nach dem
Brexit für eine Übergangszeit in der
ZollunionmitderEUverbleibensoll.
Spielt der Zeitplan eine Rolle? Johnson
hat doch einen Aufschub beantragt.
DerPremierwolltedasLandtrotz-
demzum31.OktoberausderEUfüh-
ren.DafürhättedasParlamentdieso-
genannteProgrammeMotionanneh-
menmüssen,derzufolgeallefürden
EU-Austritt nötigenGesetzesanpas-
sungenbisFreitagverabschiedetwer-
densollten.Nachder Ablehnungwird
dieVerschiebungunausweichlich.
Wird die EU dieFrist verlängern?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass
Brüssel einenAufschub auf den 31.
Januar 2020 gewährt. EU-Ratspräsi-
dent DonaldTusk teilte bereits am
DienstagbeiTwittermit,erwerdeden
Staats-undRegierungschefsempfeh-
len,demAntragzuzustimmen.
Boris Johnson hat das Ratifizierungsver-
fahren vorerst auf Eis gelegt. AFP
Weiter,immerweiter
DieBundesbankempfiehlt,dasRentenaltersollebis2070auf69JahreundvierMonateangehobenwerden
VonTobiasPeter
M
üssen dieMenschen
inDeutschlandlänger
arbeiten?DieBundes-
bank hat mit einem
Vorstoß, das Renteneintrittsalter
schrittweise auf fast 70Jahreanzu-
heben, eine heftigeDebatte ausge-
löst.Gewerk schaftenkritisiertendie
Forderung scharf.Werschwer ar-
beite,sterbe häufig früher als der
Durchschnitt der Arbeitnehmer –
aufdiesenZusammenhangverwies
der Deutsche Gewerk schaftsbund
(DGB). „Wer also dasRentenein-
trittsalter anhebt, kürzt all diesen
Menschen eiskalt deren Rente“,
sagte das DGB-Vorstandmitglied
AnnelieBuntenbachderNeuenOs-
nabrückerZeitung.SchondieRente
ab 67 sei „ein Fehler“ gewesen.
Schon heute erreichen viele ältere
ArbeitnehmerinnenundArbeitneh-
mer nach denWorten vonBunten-
bach nicht das gesetzlicheRenten-
alter.
LiberalerügenFehlerder Koalition
Inihrem MonatsberichtOktoberha-
bendie Bundesbank-Ökonomenauf
diedemografischeEntwicklungver-
wiesen:DasVerhältnisvonaltenund
jungen Menschen verschiebt sich
zahlenmäßig zuungunsten der Jün-
geren. Gleichzeitig funktioniertdie
gesetzlicheRentenkasseso,dassdie
jeweils arbeitendeBevölkerung mit
ihren BeiträgendieBezügederaktu-
ellenRentnerfinanziert.
DieBundesbank argumentiert,
die umlagefinanzierte gesetzliche
Rentenversicherung gerate „künftig
unter erheblichenDruck, insbeson-
dereabM itteder2020er-Jahre“.Da-
herseidasRentenaltereinewichtige
StellschraubefürnotwendigeRefor-
men,meinendieBundesbank-Öko-
nomen.Ihre Idee: DasRentenalter
solle bis 2070 auf 69Jahreund vier
Monateangehobenwerden,umdas
Systemstabilzuhalten.
Derstellvertretende FDP-Frakti-
onsvorsitzendeMichaelTheurerbe-
grüßte dieForderun gder Bundes-
bank.„DerVorstoßderBundesbank,
das Renteneintrittsalter auf 69,
Jahrezue rhöhen, ist ein wichtiger
ImpulsinderDebatteumGenerati-
onengerechtigkeit“, sagte Theurer
der Berliner Zeitung (Redaktions-
netzwer kDeutschland). DerFrakti-
onsvizesprach sich für einenKurs-
wechsel in derRentenpolitik aus.
Tobias Petermuss noch
27 Jahre bis zur abschlagsfreien
Rente arbeiten–mindestens.
DAS LEBEN DER ALTEN
25,
Millionen Rentner gibt
es laut Statistischem
Bundesamt
in Deutschland.
16 500
Hundertjährigelebten im
Jahr 2017 in Deutschland.
Weltweit ist ihre Zahl auf
533 000gestiegen.
83,
Jahre beträgt die Lebenser-
wartung heutegeborener
Mädchen in Deutschland–bei
Knaben 78,4 Jahre.
Ein Rentner,der noch mit fast 70 Jahren auf der Baustelle steht. Für diesenVorschlag der Bundesbank kann sich die FDP erwärmen. OLLY-STOCK.ADOBE.COM
„Ein flexibles Renteneintrittsalter
würde denFehler der großenKoali-
tion korrigieren, das Alter für den
Eintritt in denRuhestand abzusen-
ken“,sagteer.
Theurerergänzte:„Werlängerar-
beitet, soll eine höhereRente be-
kommen.Dasgilt auch für einen
Dachdecker,der nach seiner Tätig-
keit auf dem Baugegebenenfalls
eineandereTätigkeitimBetriebaus-
üben kann“, so Theurer.Der FDP-
RentenexperteJohannesVogel regte
an,die DebatteüberdasstarreRen-
tenalter zu durchbrechen. Vogel
sagte: „Nicht mehrPolitiker sollten
darüber entscheiden, wann jemand
inRentegeht,sondernjederMensch
individuell selbst.Dasmacht Sinn,
weil die Lebenswege heutzutage so
vielfältigsind.“
Ablehnung gab esvonSPD,Grü-
nen und Linken.DerFraktionschef
der Linken, Dietmar Bartsch, for-
derte ,die Beitragsbasis für dieRen-
tenkassezuverbreitern.Manmüsse
hinterfragen, warum es fürBeamte,
Selbstständige undPolitiker Extra-
System ezurAl ters vorsorgegebe.
BeifallderArbeitgeber
Unabhängig vonsolchen grundle-
gendenReformideen gibt es meh-
rere unters chiedliche Stellschrau-
ben, mit denen diePolitik auf den
demografischen Wandel reagieren
kann: vonder Anhebung desRen-
tenalters über höhereBeiträge und
Steuerzuschüsse bis hin zu einem
niedrigeren Rentenniveau. Die
große Koalition ausUnion und SPD
hat eineRentenkommission einge-
setzt, die längerfristige Vorschläge
fürdie StabilisierungdesRentensys-
temsentwickelnsoll.
InderUniongibteskonträreAuf-
fassungenzwischenWirtschafts-und
Sozialpolitikern.DieArbeitgeber da-
gegen halten denBundesbank-Vor-
stoßfürökonomischvernünftig.„Die
gewonnene Lebenserwartung muss
auchzueinerlängerenErwerbsphase
führen und darfnicht nur einen im-
mer längerenRuhestand bedeuten“,
sagte Steffen Kampeter,Hauptge-
schäftsführerdesArbeitgeberverban-
des BDA, der Neuen Osnabrücker
Zeitung.(mit köp.)
ZweifelanEvosSieg
BoliviensPräsidentMoralesgewinntdieWahlunterumstrittenenBegleitumständen.ImLandkommteszuZusammenstößen
VonTobias Käufer,Bogota
B
olivien brennt. Wütende De-
monstranten setzen in Potosi
das Gebäude derWahlbehörde in
Brand, in LaPazkommt es zuZu-
sammenstößenzwischenderPolizei
und Protestierenden. DieProvinz
Santa Cruz kündigt einen unbefris-
tetenGeneralstreikan.Ausallengro-
ßen Städten werden Ausschreitun-
gengemeldet.
DieWutder Demonstrantenrich-
tet sich gegen eineWende bei der
Auszählung derStimmen zurPräsi-
dentenwahl.Hießes vonderstaatli-
chen Wahlbehörde am Sonntag-
abendnoch,AmtsinhaberEvoMora-
les und HerausfordererCarlos Mesa
müssten allerVoraussicht nach in
eineStichwahl,wareinenTagspäter
Moralesnundochmitdemnotwen-
digen Vorsprungvonzehn Proz ent
der Stimmen vorne. DenAusschlag
hätten dieStimmen auf dem Land
gegeben, die erstverspätet einge-
troffenseien.InBolivienistderKan-
didat zumPräsidenten gewählt, der
über 40Proz ent derStimmen ge-
winnt und dabei über mindestens
zehn Proz ent Vorsprungverfügt.
Nach95,22 Proz entderausgezählten
gültigen Stimmen führt
Moralesmit46,85Proz ent
vorMesa mit 36,74Pro-
zent. Gerade einmal 0,
Proz ent retten Morales
damitvoreinerStichwahl.
Jetzt entlädt sich der
Zorn der Bevölkerung.In
den sozialenNetzwerken
tauchenVideosvonKisten
mit Stimmzetteln auf, die
vorabmiteinemKreuzfür
dieMorales-ParteiMASversehenwa-
ren. DiekatholischeKirche und die
Menschenrechtsorganisation Hu-
manRightsWatchsprechenvonHin-
weisen aufWahlbetrug, dieWahlbe-
obachter der Organisation Amerika-
nischer Staaten verlangenvonder
Wahlbehörde eineErklärung, wie es
Herausforderer Carlos Mesa
kündigte nun an, die Opposition
werdekeinenzweiten„21.Februar“
hinnehmen und beklagte einen
„beschämenden Betrug“. Der21.
Februar war dasDatum, an dem
Morales im Jahr 2016 dasReferen-
dumverlor,aberdas Ergebnisnicht
akzeptierte.Nun ist seineGlaub-
würdigkeit erneut erschüttert.Mo-
rales’mögliche vierte Präsident-
schaft steht unter keinem guten
Stern. Er riskiertdamit sein politi-
schesErbe.
Dererste frei gewählte indigene
Präsident Boliviens hatte das Land
auf dem Höhepunkt seinerMacht
wirtschaftlich und gesellschaftlich
vorangebracht.Zuletzt aber agierte
Morales zunehmend autoritärer,
ließDutzendekritischeRichterent-
fernen.
Selbst wenn Morales diese Krise
überstehen sollte,der Präsident der
Mehrheit derBolivianer,der er vor
Jahrennochwar,isternichtmehr.
quasi überNacht zu dem „drasti-
schenWechsel“kommenkonnte.
Bolivienstehtnunvoreinerunge-
wissen Zukunft.A mtlich und damit
rechtskräftigistdasErgebnisinBoli-
viennochnicht.Dochschonjetztist
einmöglicherWahlsiegvon
Morales mit einem dicken
Makelbelastet. DieReak-
tion derMenschenzeigt,
dasseineHälftedesLandes
dem lange unangefochten
regierenden Präsidenten
nicht mehr vertraut. Der
Bruch kamvordreiJahren.
DamalshatteMoralesseine
Landsleute zu einemRefe-
rendumgebeten,umdiein
derVerfassu ng vorgesehen en Amts-
zeitbegrenzung zu umgehen. Die
Bolivianer aber sagten nein.Damit
wäre Morales politische Laufbahn
eigentlich imJahr 2019 beendet ge-
wesen. Doch Morales brach sein
Wort und trat mithilfe juristischer
Unterstütz ungnocheinmalan.
Evo Morales ist seit
2006 Präsident.
DPA