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s ist nicht viel, was eine Weltmacht
hinterlässt, wenn sie sich zurück-
zieht: einige sandfarbene Zelte
mit Tarnnetzen in der Wüste, drei
rot-weiße Funkmasten, Toiletten, Kühl -
boxen, Ölfässer, das Dieselaggregat läuft
noch. So sieht die frühere US-Militärbasis
in der Nähe der Stadt Manbidsch aus, im
Norden Syriens.
Die Amerikaner sind weg. Die neuen
Herren lassen nicht lange auf sich warten.
Am Tag, nach dem die Amerikaner die
Basis verlassen haben, kommen die Rus-
sen. Es ist Dienstag dieser Woche, als ge-
panzerte Fahrzeuge mit wehenden russi-
schen Flaggen Richtung Manbidsch rollen.
Einer der Ersten, die das verlassene US-
Lager betreten, ist Oleg Blochin, ein stäm-
miger Kerl mit Bart und schwarzer Base-
ballkappe auf dem Kopf.
Blochin ist kein Soldat, sondern Re -
porter der russischsprachigen Pro-Kreml-
Agentur Anna News, er wirkt in dem Vi-
deo, das er auf seine Facebook-Seite hoch-
lädt, wie ein gut gelaunter Tourist, der sich
in den Krieg verirrt hat. Offenbar reist er
mit einer Einheit russischer Söldner durch
die Gegend, die im Auftrag Putins verhin-
dern sollen, dass sich türkische Truppen
hier ausbreiten. Blochin ist, wenn man so
will, die Vorhut.
Auf seinem Video ist zu sehen, wie er
an einer schwarzen Mülltonne voller
Coladosen vorbeiläuft, in der Hand die
Kamera. Er schwenkt zum Eingang eines
Zeltes, tritt hinein, links liegt eine Büchse
Hühnerbrustfilet im Regal. Sein Fuß
stößt gegen etwas auf dem Boden. Ein
Football. Auf weiteren Videos, ebenfalls
aufgenommen auf der Militärbasis, ist
ein Gameboy zu sehen, in der Nähe eini-
ge Kartons mit Krispy-Kreme-Donuts
und eine Packung Pringles-Chips. Auf ei-
nem Tisch steht ein Teller, halb voll mit
Essen.
»Jetzt gehen wir in die Unterkunft der
amerikanischen Soldaten«, sagt Blochin.
Seine Kamera schwenkt auf Feldbetten mit
Decken, als wären die Amerikaner nur
kurz auf Patrouille. »Hier arbeitet immer
noch die Klimaanlage«, stellt Blochin fest.
»Draußen ist es heiß, drinnen kühl.«
Die Amerikaner hatten nicht viel Zeit,
das Lager zu verlassen. Ein Sprecher des
Pentagons berichtet gegenüber dem Ma-
gazin »Newsweek«, man habe versucht,
so viel Ausrüstung wie möglich mitzu -
nehmen. Den Rest ließ man zurück. »Sen-
sibles Gerät«, das nicht abtransportiert
werden konnte, sei zerstört worden.
Selten hat ein einzelnes Manöver in der
Weltpolitik eine derart rasante Ketten -
reaktion ausgelöst wie der Abzug der US-
Truppen aus Syrien vergangene Woche:
Nur Stunden nachdem die ersten Ameri-
kaner den Rückweg antraten, marschier-
ten türkische Soldaten in den Nordosten
des Bürgerkriegslands ein. Die Kurden -
miliz YPG, die die Region bislang gemein-
sam mit den Amerikanern kontrollierte,
rief daraufhin in ihrer Not Syriens Diktator
Baschar al-Assad und dessen wichtigsten
Schutzherrn um Hilfe, Russlands Präsiden-
ten Wladimir Putin.
Damit geht ein brutaler Bürgerkrieg
nach acht Jahren in seine wohl letzte, ent-
scheidende Runde, auch wenn die Lage
am Boden weniger übersichtlich ist, als es
den Anschein hat: Die Angriffe des türki-
schen Militärs beschränken sich bislang
auf den hundert Kilometer langen Land-
strich zwischen den Städten Tall Abjad
und Ras al-Ain. Syrische Soldaten haben
in vielen Orten entlang der türkisch-syri-
schen Grenze Stellung bezogen, flankiert
von Russland – sie anzugreifen wäre für
die Türken extrem gefährlich.
So stellt sich die Lage in Syrien derzeit
grob gesagt dar: Die Amerikaner ziehen
ab, die Türken gehen rein, die Kurden flie-
hen, die Russen bremsen den türkischen
Vormarsch. Und der Diktator in Damas-
kus freut sich.
Es ist nun wahrscheinlicher geworden,
dass der womöglich größte Massenmör-
der des 21. Jahrhunderts, Baschar al-As-
sad, mithilfe Moskaus bald Gesamtsyrien
unter seine Herrschaft bringt. Was bedeu-
tet das für Syrien, für die Kurden, für
Europa? Nutzt die Terrormiliz »Islami-
scher Staat« (IS) das Chaos, um sich neu
zu formieren?
Der türkische Präsident Recep Tayyip
Erdoğan bekräftigte zunächst, seine Offen-
sive um jeden Preis fortsetzen zu wollen,
bis der letzte kurdische Kämpfer aus dem
Grenzgebiet vertrieben sei. Es sah so aus,
als würde Erdoğan mit seiner Offensive
den Bruch mit der Nato riskieren. US-Prä-
sident Donald Trump hatte damit gedroht,
die türkische Wirtschaft zu »zerstören«,
falls türkische Soldaten tiefer nach Syrien
eindrängen.
Zwar verkündete US-Vizepräsident
Mike Pence nach einem Treffen mit Er-
doğan am Donnerstagabend in Ankara
überraschend, die USA und die Türkei hät-
ten sich auf eine Waffenruhe geeinigt. Die
Türkei will der YPG nun 120 Stunden ge-
ben, um das Grenzgebiet zu räumen. Das
türkisch-amerikanische Verhältnis wird
sich dadurch vorübergehend etwas ent-
spannen, doch an der Situation in Syrien
dürfte sich kaum etwas ändern, denn es
ist unwahrscheinlich, dass die Kurden voll-
ständig aus dem Gebiet abziehen. Trump
feierte die Waffenruhe dennoch als großen
»Deal«, der angeblich »Millionen von
Menschen« das Leben retten werde.
Dutzende Zivilisten starben bislang bei
den jüngsten Gefechten. Etwa 100 000 ha-
ben ihr Zuhause verloren und befinden
sich auf der Flucht. Droht Europa eine
neue Flüchtlingskrise, wenn Erdoğan die
Tore für Syrer öffnet, wie er mehrfach an-
gekündigt hat?
Eines zeichnet sich schon jetzt immer
deutlicher ab: In Syrien findet eine Wach-
ablösung statt. Der Westen hat kapituliert.
Europäer und Amerikaner haben die
Gräueltaten in Syrien immer wieder ver-
urteilt, aber wenig getan, um sie zu ver-
hindern. Die Despoten triumphieren: As-
sad, Erdoğan und Putin. Die Folgen wer-
den weit über den Nahen Osten hinaus zu
spüren sein.
12 DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019
DELIL SOULEIMAN / AFP / GETTY IMAGES
Zivilistin nahe der Grenzstadt Ras al-Ain: Leid ohne Ende
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Europas Versagen
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