Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

134 DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019


COURTESY OTA FINE ARTS, DAVID ZWIRNER, AND VICTORIA MIRO © YAYOI KUSAMA

Prinzessin der Punkte


»Es scheint, dass Kürbisse nicht viel Respekt einflößen«,
sagt die japanische Künstlerin Yayoi Kusama, 90, über das
Gemüse, das ihr Werk seit Jahrzehnten prägt. »Aber ich war
entzückt von ihrer reizvollen, gefälligen Form.« Besonders
»die großzügige Anspruchslosigkeit«, die ein Kürbis ausstrahle,
habe es ihr angetan. Jetzt hat sie zum Auftakt der internatio -
nalen Kunstmesse Fiac in Paris ein Objekt geschaffen, das Pas-

santen garantiert beeindruckt: Ein zehn Meter hoher knall -
gelber Kürbis mit dicken schwarzen Punkten liegt bis zum


  1. Oktober neben der Siegessäule auf der Place Vendôme.
    Die »Prinzessin der Punkte«, wie Kusama wegen ihrer Obses -
    sion für Tupfen gern genannt wird, hat ihn eigens für Paris
    geschaffen. Er ist laut den Veranstaltern ihr bisher größtes Frei-
    luftkunstwerk. Kusama sieht ihr künstlerisches Schaffen als
    Selbsttherapie. Sie leidet seit ihrer Kindheit an Halluzinatio-
    nen und Angstzuständen und lebt seit mehr als 40 Jahren frei-
    willig in einer Nervenheilanstalt in Tokio.PE


Personalien


TIM WEGNER / DER SPIEGEL

Ein Becher Freiheit


Der Journalist Deniz Yüçel,
46, saß ein Jahr lang in der
Türkei im Gefängnis, neun
Monate davon in Einzelhaft.
Während dieser Zeit heiratete
er. In Briefe an seine Frau
legte Yüçel manchmal Peter -
silienblätter. Petersilie war die
»Blume ihrer Liebe«. Es gab
eine Zeit, in der ihm Briefe
seiner Frau vorenthalten wur-
den. Und auch die, die seine

Mutter ihm schrieb, bekam er
nicht. Nur die vier bis sechs
Postkarten pro Woche, die
seine Schwiegermutter ihm
schickte, gab man ihm. »Die
haben wohl gedacht, dass es
eine Strafe ist«, sagte Yüçel
vergangenen Mittwoch im
SPIEGEL-Gespräch live auf
der Frankfurter Buchmesse.
Petersilie gab es wie Dill und
Minze im Gefängnisladen zu
kaufen. Die Petersilie war
nach einer Woche verwelkt,

beim Dill ging es noch schnel-
ler. Doch die Minze trieb
Wurzeln. Er wollte sie ein-
pflanzen, aber das war verbo-
ten. Deswegen stellte er aus
aus gekochten Teebeuteln und
zerkrümelten Eierschalen so
etwas wie Blumenerde her.
Als Topf nutzte Yüçel einen
Jo ghurtbecher, in den er
Löcher stach. Bei jeder
Zellenkon trolle versteckte er
die Pflanze im Kühlschrank.
Gefunden wurde sie nie. RED
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