Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1
Fehmarnbelt-Tunnel
»Angst ist ein Faktor«

Der Münchner Verkehrs -
planer Martin Vieregg, 54,
über die erwartete Kos -
tenexplosion bei der geplan-
ten Fehmarnbelt-Querung
nach Dänemark

SPIEGEL:Herr Vieregg, der Bundesrech-
nungshof geht neuerdings davon aus, dass
die Schienenanbindung zum geplanten
Fehmarnbelt-Tunnel statt rund 800 Millio-
nen Euro am Ende mindestens 3,5 Milliar-
den Euro kosten wird. Überrascht Sie das?
Vieregg:Ja, tatsächlich. Ich hätte nicht
damit gerechnet. In Norddeutschland gibt
es meines Wissens keine Berge, die man
untertunneln müsste.
SPIEGEL:Was treibt die Kosten dann?
Vieregg: Das größte Problem ist aus mei-
ner Sicht, dass es ursprünglich gar keine
richtige Planung gab. Man hat sich etwas
überlegt und dann kurz überschlagen,
was es wohl kostet. Statt einer Erneue-
rung der alten Dieselstrecke kommt jetzt
ein zweigleisiger Neubau. 800 Millionen
waren von Anfang an völlig unrealistisch.
Ein Ausbau durch die Orte entlang der
alten Strecke wäre sogar noch teurer
geworden. Jetzt hat man zum ersten Mal
eine ernst zu nehmende Prognose.
SPIEGEL: Treiben die Klagen gegen das
Projekt von Umweltverbänden und Kom-
munen wie Bad Schwartau den Preis?
Vieregg: Angst ist natürlich ein Faktor!
Die Planer sind den Anwohnern sehr ent-
gegengekommen: 55 von 88 Kilometer
Ausbaustrecke sollen neu gebaut werden.
Dazu gibt es eine lange Liste mit Lärm-
schutzwänden und anderen Wünschen,

die nicht vorgeschrieben sind. Sollten die
umgesetzt werden, wird es noch teurer.
Das wäre bundesweit ein Präzedenzfall.
SPIEGEL: Der Rechnungshof fordert
das Bundesverkehrsministerium auf, das
Projekt neu zu bewerten. Hat Andreas
Scheuer (CSU) versagt?
Vieregg: Der Bundesverkehrsminister
und seine Kollegen stehen enorm unter
Druck. Man hat 2008 einen Staatsvertrag
mit Dänemark gemacht: Ihr zahlt den
Tunnel, wir die Anbindung in Deutsch-
land. Geplant wurde hinterher. Solche
Bierdeckelprojekte gibt es leider oft – mit
bekanntem Ergebnis.
SPIEGEL: Die Grünen warnen vor einem
»Stuttgart 21 des Nordens« ...
Vieregg:... in Dänemark könnte es das
werden. Wenn beim Tunnelbau die Geolo-
gie nicht stimmt, können sich die Kosten
unterirdischer Strecken vervielfachen. Die
Politik rückt oft mit der Wahrheit nicht
raus, um solche Projekte durchzusetzen.
SPIEGEL: Lohnt sich der Tunnel über-
haupt angesichts der Verkehrsprognosen?
Vieregg: Das ist die große Frage. Es
wird oft auf die viel befahrene Öresund-
Verbindung verwiesen. Aber Kopen -
hagen und Malmö sind eine Metropol -
region. Das kann man von Ostholstein
nicht sagen. Am Ende fahren die Schwe-
den über die Strecke einmal im Jahr
in den Italienurlaub und die Deutschen
an Ostern nach Dänemark. Würde
man ehrlich planen, hätte das Projekt
vermutlich kaum eine Chance.
SPIEGEL: Warum ist der Tunnel den
Skandinaviern dann so wichtig?
Vieregg: Das ist wohl ein psychologischer
Effekt. Der Landweg wird dadurch 170
Kilometer kürzer, und man hat das Gefühl,
dichter an Mitteleuropa zu sein. RED

OBJEKTIF / IMAGO IMAGES

Illegale Einreisen

Bundespolizei verstärkt
Grenzüberwachung

 Die Bundespolizei bereitet sich offen-
bar auf einen Anstieg der illegalen
Migration nach Deutschland vor. In
einem Schreiben von Anfang Oktober
wies das Bundespolizeipräsidium in
Potsdam die Direktionen an, »ab sofort
bis auf Weiteres die grenzpolizeilichen
Maßnahmen ... zu intensivieren«. Ziel
sei es, die unerlaubte Migration und
die grenzüberschreitende Kriminalität
besser zu erfassen sowie »bisher nicht
bekannte Modi Operandi sowie Täter-
strukturen« der Schleuser zu erkennen.
Hintergrund soll auch der große Unter-
schied zwischen der Zahl der festgestell-
ten unerlaubten Einreisen und der Zahl
der Asylanträge in Deutschland sein.
Zwischen Januar und August 2019 wur-
den in Deutschland knapp 100 000
Erstanträge auf Asyl gestellt, im selben
Zeitraum registrierte die Bundespolizei

26 490 unerlaubte Einreisen. Die Ver-
stärkung der grenzpolizeilichen Maß-
nahmen betrifft insbesondere die Gren-
zen zur Schweiz und zu den Nieder -
landen, aber auch andere Abschnitte
wie den Grenzraum zu Tschechien. Ein
Augenmerk liegt auf der wachsenden
Zahl von Fernbussen, die quer durch
Europa fahren. Auch der aus Griechen-
land kommende Flugverkehr soll ver-
stärkt beobachtet werden, weil zahlrei-
che Migranten versucht haben, mit
falschen Papieren per Flugzeug nach
Deutschland einzureisen. Zu den Maß-
nahmen gehören stichprobenartige
Kontrollen an den Grenzen sowie die
Fahndung mit mobilen Einheiten bis zu
30 Kilometer im Inland, auf denen die
Bundespolizei Kontrollen durchführen
kann. Bundesinnenminister Horst See-
hofer (CSU) würde diesen Raum gern
erweitern. Die regionalen Schwerpunk-
te sollen die Direktionen in eigener
Zuständigkeit festlegen; das Präsidium
hat ihnen bei Engpässen Unterstüt zung
zugesagt. Die Kontrollen an der Gren-
ze zu Österreich wurden kürzlich ver-
längert. AUL

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AfD

»Höcke stigmatisiert«


 Experten haben Äußerungen von AfD-
Politiker Björn Höcke über Menschen
kritisiert, die eine Aufmerksamkeitsdefizit-
störung (ADS) haben. Der Spitzenkan -
didat der AfD Thüringen hatte sich bei
einem Wahlkampftermin in Bad Langen-
salza am Dienstag an junge, laut protes -
tierende Demonstranten gewandt und
gesagt: »Ich war ja 15 Jahre Lehrer, ich
hatte auch mit einigen Schülern zu tun,
die haben an ADS gelitten.« Dagegen, so
Höcke weiter, gebe es »ein sehr wirksa-
mes Medikament, das heißt Ritalin,
schreibt euch das mal auf«. Er habe in der
Nähe eine Apotheke gesehen: »Geht mal
vorbei, und besorgt euch Ritalin.« Die
AfD-Sympathisanten im Publikum erwi-
derten die Äußerungen mit Gelächter und
Applaus. »Das ist ein klarer Fall von Stig-

matisierung«, sagt Johannes Streif, Vize-
vorsitzender von ADHS Deutschland,
einem bundesweiten Selbsthilfeverein für
Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-
Hyperaktivitätsstörung (ADHS): »Men-
schen, die eine solche Diagnose haben,
sollen dadurch abgewertet werden als Stö-
rer.« Jörg Fegert, Psychiater an der Uni -
klinik Ulm, warnt, solche Äußerungen
hätten eine »gefährliche Tendenz«, da sie
alle Menschen mit solchen psychischen
Störungen ausgrenzten. »Höcke unterstellt,
dass Menschen mit AD(H)S nicht urteils -
fähig seien, aber das stimmt überhaupt
nicht«, so Fegert. Christopher Lauer, frühe-
rer Landesvorsitzender der Berliner Pira-
ten, der selbst ADHS hat, wünscht sich
mehr Solidarität: »Hätte Höcke andere
gruppenbezogene Schimpfwörter benutzt,
wäre die öffentliche Gegenreaktion wahr-
scheinlich größer.« Höckes Worte seien
»geschmacklos und niederträchtig«. AKM

SACHELLE BABBAR / PICTURE ALLIANCE
Polizisten bei Grenzkontrolle
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