Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

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rrelevant. Ein übles, hartes Wort. Gebettet in diesen
Satz: »Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch
handelt, wird die Demokratie irrelevant.« Gesagt
von Roger Hallam, Mitgründer der Protestgruppe
»Extinction Rebellion«, die in der vergangenen Woche
versucht hat, Berlin zu blockieren, um damit auf die
Gefahren des Klimawandels aufmerksam zu machen.
Denn dieses Thema sei »größer als die Demokratie«,
sagte Hallam.
Bislang galt eher, die Demokratie sei die Grundlage
von fast allem, was ein gutes Leben ausmacht: Freiheit,
Wohlstand, Gerechtigkeit. Sie war das größte, beste, was
die Menschheit politisch erreicht hatte, jedenfalls aus
westlicher Sicht. Und nun: irrelevant, weil von einem grö-
ßeren Thema überlagert? Das heißt, sollte es ein politi-
sches System geben, das die Klimaprobleme besser lösen
kann, muss man an der Demokratie nicht festhalten.
Das Wort »Ökodiktatur« schwebt ohnehin schon durch
die Debatte, eher als Dystopie, als Horror. Aber könnte
sie auch eine Hoffnung sein, die Probleme zu lösen und
damit die Erde als lebenswert zu erhalten? Der umstritte-
ne Staatsrechtler Carl Schmitt hielt, weit vor dem
Klimawandel, »kommissarische Diktaturen« für sinnvoll,
um Notlagen zu lösen. Wäre das eine Alternative?
Hallam hat diese Frage indirekt aufgeworfen, als An-
sicht eines Einzelnen. Allerdings ist das Unbehagen an
den Ergebnissen demokratischer Politik weitverbreitet.

Die meisten Jugendlichen, die freitags demonstrieren,
wollen kein anderes System, aber sie sind beunruhigt
oder verängstigt, weil die Demokratien bislang zu wenig
getan haben, um den Klimawandel zu bremsen, obwohl
sie am meisten dazu beigetragen haben, wegen des Wohl-
stands, den sie seit Langem hervorbringen.
Es ist ja auch schwer zu verstehen, warum es so weit
kommen konnte, obwohl schon seit zig Jahren bekannt
ist, was auf die Menschheit zukommt. Ein Thema wie die-
ses gab es noch nicht. Es überwölbt alles, weil es um das
Überleben der Menschheit geht und weil im Prinzip jede
Handlung eines Menschen CO²verbraucht und damit zur
Erderwärmung beiträgt. Es berührt Fragen der Freiheit,
der Gerechtigkeit, der Selbstverwirklichung – alles Fra-
gen, die in Demokratien eine große Rolle spielen.
Gibt es vielleicht doch ein grundsätzliches Problem?
Geht es nicht um Politikerversagen, sondern um System-
versagen? Das hieße, dass die Demokratie strukturell nicht
in der Lage wäre, die enormen Klimaprobleme zu lösen.
Man kann das anhand einiger ihrer wichtigsten Begriffe
untersuchen.

Freiheit
»Nur die Wahrheit macht frei«, schrieb im 19. Jahrhun-
dert der Philosoph Auguste Comte, »und die Wahrheit
erfahre ich, indem ich heute blindlings tue, was ihr, die
ihr Bescheid wisst, mir befiehlt, wozu ihr mich in dem

Die Demokratie schafft das


EssayLieber eine Ökodiktatur als eine überhitzte Erde? Diese Frage schwingt schon mit,
wenn über die Umwelt geredet wird. Aber es ist nicht nötig, die Freiheit aufzugeben.

Von Dirk Kurbjuweit


DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019

LORRAINE O'SULLIVAN / REUTERS
Protest von »Extinction Rebellion« in Dublin
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