Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1

»Willkommen in Sorge« – kurz hinter
diesem allzu zeitgemäßen Ortsschild be-
findet sich das Grenzmuseum. Der Minis-
terpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner
Haseloff (CDU), und der ehemalige Minis-
terpräsident von Niedersachsen, Sigmar
Gabriel (SPD), warten vor dem Eingang
in der Sonne.
Gabriel, 60, und Haseloff, 65, kennen
sich aus der Zeit, in der Gabriel mit seiner
ostdeutschen Frau in Magdeburg lebte:
»Ich habe ihn an der Staatskanzlei mit
dem Kinderwagen vorbeischieben sehen«,
sagt Haseloff, außerdem habe Gabriel
ihm in seiner Zeit als SPD-Chef geholfen,
in seinem Bundesland eine Keniakoalition
zustande zu bringen. Heute lebt Gabriel
in Goslar, Haseloff ist aus Magdeburg an-
gereist.
Der Ort Sorge liegt in Sachsen-Anhalt,
direkt an der Grenze zu Niedersachsen.
Während der deutsch-deutschen Teilung
lag er so nah an der Grenze zum Westen,
dass er zum militärischen Sperrgebiet ge-
hörte.
Haseloff und Gabriel gehen gemeinsam
an der alten Grenze wandern und unter-
halten sich darüber, warum in Ost und
West so wenige den 30. Jahrestag des
Mauer falls feiern – darum sollte es vor
allem gehen an diesem Tag. Doch der
Anschlag auf die Synagoge von Halle
wenige Tage zuvor gibt dem lang geplan-
ten Treffen eine dringende Note. Reiner
Haseloff wirkt in sich gekehrt.


SPIEGEL:Herr Haseloff, wie haben Sie
von dem Attentat und dem Doppelmord
in Ihrem Bundesland erfahren?
Haseloff:Ich war auf dem Weg nach Brüs-
sel. Dort tagte eine EU-Gruppe, die sich
um Kohleausstieg und Klima kümmert.

Das Gespräch führten die Redakteure Susanne Beyer
und Nils Minkmar.

Nach der Landung schalte ich das Handy
an – und die erste Nachricht, die ich lese,
besagt: »Halle – zwei Tote.« Ohne nähe-
ren Zusammenhang. Da dachte ich erst,
das kann doch nicht unser Halle sein, das
muss Halle in Westfalen sein. Während
meines Vortrags wurde deutlich, dass es
sich um einen Terroranschlag handelte. Ich
bin dann sofort zurückgeflogen.
SPIEGEL:Wie fühlen Sie sich jetzt?
Haseloff:Wie unter Schock. Ich konnte
keinen Gedanken formulieren, ohne daran
zu denken. Das ist auch jetzt so.
SPIEGEL:Was sind das für Gedanken?
Haseloff:Wir haben recht schnell verstan-
den, dass dieser Fall Deutschland und
Sachsen-Anhalt vor ganz neue Herausfor-
derungen stellt, die man mit unseren bis-
herigen Instrumenten nicht bewältigen
kann.
SPIEGEL:Weil der Attentäter Ermittlern
vorher gar nicht aufgefallen war?
Haseloff:Ja, sie hatten ihn tatsächlich
nicht auf dem Schirm. Er war für den Staat
aus dem Nichts aufgetaucht – aber er kam
ja nicht aus dem Nichts, er hatte ein reales
Umfeld, und er hat sich im Internet radi-
kalisiert. Es muss also zukünftig Wege ge-
ben, auch auf so jemanden aufmerksam
zu werden.
Gabriel:Ich bin nicht ganz sicher, ob die
Deutschen eigentlich wissen, wie viel
Glück im Unglück wir gehabt haben.
Wenn der Täter, wie er es vorgehabt hatte,
die Tür aufgebrochen hätte und ein Mas-
saker unter Juden in einer Synagoge in
Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhun-
derts verübt hätte ...
SPIEGEL:... hätten wir eine andere Repu-
blik, Herr Gabriel?
Gabriel:Ich bin immer vorsichtig mit sol-
chen Begriffen, aber jedenfalls wäre die
internationale Sicht auf Deutschland eine
andere. Es ist im Übrigen falsch, das At-
tentat von Halle als ein ostdeutsches Pro-

blem zu begreifen. Wir haben auch im
Westen eine Tradition rechter Gewalt, die
bis zum Attentat auf das Oktoberfest in
München 1980 zurückreicht.
SPIEGEL:Im Westen wie im Osten hat sich
die AfD etabliert. Ihr wurde nach dem At-
tentat von vielen Seiten eine Mitschuld an
einer Radikalisierung der Stimmung ins-
gesamt gegeben. Sehen Sie das auch so?
Gabriel:Ja, ganz sicher sogar. Nach dem
Erstarken rechter Terroristen hatte der da-
malige Bundeskanzler Helmut Schmidt
1980 die »Sinus«-Studie in Auftrag ge -
geben. Die Studie untersuchte die Zustim-
mung der Deutschen zum Gedankengut
der NSDAP und wurde unter dem Titel
veröffentlicht: »5 Millionen Deutsche: Wir
sollten wieder einen Führer haben ...«. Das
Ergebnis war, dass 13 Prozent der Wähler
über ein »geschlossenes rechtsextremes
Weltbild« verfügten. Gemeint war natür-
lich die alte westdeutsche Republik. Tat-
sächlich wählten aber nicht mal ein Pro-
zent der Deutschen rechtsradikale Partei-
en. Auch die mit echter Nazi-Ideologie im
Kopf wählten CDU, SPD und FDP oder
Grüne und hielten sich subjektiv für De-
mokraten. Einfach weil es als unanständig
galt, rechtsradikal zu sein. Seitdem Thilo
Sarrazin und ehemalige CDU-Staatssekre-
täre in der AfD den Rechtsradikalismus
enttabuisiert und salonfähig gemacht ha-
ben, brechen diese alten braunen Ideolo-
gien sich wieder eine Bahn an die gesell-
schaftliche Oberfläche.
SPIEGEL:Wie erklären Sie sich, dass ein
junger Mann wie der Attentäter, der jeden-
falls nach dem, was wir jetzt wissen, zu
Juden kaum Kontakt gehabt haben dürfte,
sich so auf das Judentum fixiert?
Haseloff:Es geht generell um die Frage
des Andersseins. Der Hass kann sich gegen
Juden oder Muslime richten, gegen Homo-
sexuelle. Minderheiten werden verantwort-
lich gemacht für eigene Probleme. Mir gibt

48 DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019

Deutschland

»Die Menschen


haben wieder ein Bedürfnis


nach Grenzen«


SPIEGEL-GesprächWas sagt das Attentat von Halle über den Zustand Deutschlands aus? Warum ist die
Stimmung vor dem Mauerfalljubiläum so mies? Sigmar Gabriel aus dem Westen und Reiner Haseloff aus
dem Osten begeben sich auf eine Wanderung entlang der alten Grenze – auf der Suche nach Antworten.
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