Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1
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em Walross, einer Robbenart aus der Ordnung der
Raubtiere, hat sich der Mensch in den vergangenen
Jahrhunderten auf zweierlei Weise genähert: als Jäger –
oder als Dichter. Der Jäger greift aus der Nahdistanz an, weil
eine Waffe ihn schützt. Ihm geht es um Nahrung (Fleisch, In-
nereien), um Baumaterial (Knochen, Haut) oder um Schmuck
(Stoßzähne); weil sich fast alles vom Walross verwenden lässt,
waren ganze Populationen irgendwann ausgerottet.
Der Dichter schwärmt und rätselt aus der Ferne. In Lewis
Carrolls Fortsetzung von »Alice im Wunderland« denkt ein
Walross bei einem Spaziergang über die Frage nach: Haben
Schweine Flügel?
John Lennon ließ sich da-
von zu einem Beatles-Song
inspirieren: »I Am the Wal-
rus«, ich bin das Walross.
Der Song ist weitgehend
sinnfrei. »I Am the Walrus
/ goo goo g’joob.«
Das bekannteste Wal-
ross in Deutschland war
Antje. Es lebte in Hagen-
becks Tierpark in Ham-
burg; wenn es nicht auf
der Mundharmonika blies,
machte es Werbung für
den Norddeutschen Rund-
funk.
Ein Walrossmännchen
wird bis zu vier Meter lang
und wiegt bisweilen bis zu
1,6 Tonnen.
Ihren sozialen Rang de-
monstrieren die Tiere, in-
dem sie ihre Stoßzähne vor-
zeigen. In seltenen Fällen messen diese bis zu hundert Zenti-
meter.
Ein Walross ist niedlich oder imposant, je nach Standort.
Es kann allerdings auch gefährlich werden, etwa wenn es ge-
rade ein Junges hat.
Mitte September kam es im Nordpolarmeer zu einer Be-
gegnung zwischen Mensch und Walross, die es in die Nach-
richten schaffte. Ein Weibchen tauchte unweit der Inselgruppe
Franz-Josef-Land, vermutlich auf der Suche nach Muscheln,
Schnecken und Krebstieren. An der Wasseroberfläche war-
tete das Baby, im Mai geboren, es tauchte noch nicht so gut.
Es war ein windstiller Tag in der Arktis, Motorengeräusche
waren deshalb von Weitem zu hören. In diesem Fall näherte
sich ein Boot. Darin saßen sieben Männer, ausgerüstet mit
Gewehren, roten Westen und Sonnenbrillen.
Das Walross holte das Boot unter Wasser ein, drehte sich
auf den Rücken und schlug seine Stoßzähne in das Gummi.
Das Boot schaukelte heftig und füllte sich rasch mit Wasser.
Der Motor verstummte, die Männer schrien. Die nächste In-
sel lag 200 Meter entfernt.


Einen der schreienden Männer kann man wenige Tage
später am Telefon erreichen, trocken und guter Dinge: Leonid
Kruglow, 49, ein russischer Dokumentarfilmer. »Wir dachten,
wir seien auf ein Stück Eis gefahren«, sagt er. »Keiner hatte
gesehen, wie es uns untertaucht hatte.«
Walrosse können unter Wasser auf 35 Stundenkilometer
beschleunigen. »Es hat gerumpelt, wir dachten: Scheiße«,
sagt Kruglow. »Dann erst sah ich es: Das Walross stieg aus
dem Wasser, hing mit dem Kopf im Boot, haute mit den Stoß-
zähnen herum. Hat mein Bein knapp verfehlt.«
Das Walross rutschte zurück ins Wasser. Ein Video, aufge-
nommen an Bord, zeigt, wie ein Mann mit einem Ruder das
Walross vom Boot fernhält, bis der Motor endlich anspringt.
Das Walross verzichtet auf eine Verfolgung. Die Männer,
knöcheltief im arktischen Wasser, schaffen es gerade noch
zur nächsten Eisscholle. Ihr Forschungsschiff schickt Hilfe.
»Wir wollten den Walrossen gar nicht zu nahe kommen«,
sagt Leonid Kruglow. »Dass da ein Baby war, sahen wir erst
nach dem Angriff.«
Die Männer im Boot: zwei Zoologen, ein Kartograf, ein
Dokumentarfilmer, drei Militärs. Eine gemeinsame Reise
der Russischen Geografischen Gesellschaft und der rus -
sischen Nordflotte, die Männer sollten nach den Spuren
verschollener Expeditio-
nen suchen, die sich in den
vergangenen Jahrhunder-
ten hierhergetraut hatten.
Zum Beispiel sollten sie
das Wrack des Schoners
»St. Anna« finden, mit dem
russische Polarforscher 1912
die Nordostpassage erkun-
den wollten. Die »St. An -
na« ist verschollen. Wale -
rijan Albanow, einer der
beiden Überlebenden von
damals, veröffentlichte 1917
seine Erinnerungen. »Un-
weit der Insel«, schrieb er,
»erblickten wir auf einer
großen treibenden Eisschol-
le drei Walrosse – zwei gro-
ße und ein Junges ... Wir
hatten es eigentlich nur auf
das junge Walross abgese-
hen, dessen Fleisch allge-
mein als sehr schmackhaft gilt. Lange und sorgfältig zielten
Lunjajew und ich und drückten beide fast gleichzeitig ab ...
Das Wasser, ganz rot von Blut, brodelte und schäumte, die Wal-
rosse umkreisten brüllend das tote Tier, das offenbar sank,
und suchten es über Wasser zu halten, indem sie bald unter-
tauchten, bald von Neuem zum Vorschein kamen.«
Über einen besonders kalten Abend hatte Albanow ge-
schrieben: »Steck deine Nase nicht dorthin, wo die Natur
die Gegenwart des Menschen nicht wünscht.«
Der Zwischenfall vom September berührt einen Grund-
konflikt: Mensch gegen Natur, Planung gegen Instinkt. Viel-
leicht ist das weltweite Echo deshalb so bemerkenswert. Die
Russische Geografische Gesellschaft hat die merkwürdigsten
Meldungen zusammengestellt, die erschienen sind:
»Walrosse versenken beinahe russisches Kriegsschiff.«
»Putins Marine angegriffen: Landungsboot versenkt.«
»Walross versenkt ein russisches U-Boot in der Antarktis.«
In der Antarktis gibt es keine Walrosse. Was es offenbar
überall auf der Erde gibt: die Sehnsucht, dass die Natur sich
gegen den Menschen wehren möge. Timofey Neshitov

Mutterschutz


Warum ein Walross in der Arktis ein russisches
Forschungsboot attackierte

Eine Meldung und ihre Geschichte

Videoausschnitt mit angreifendem Walross

Von der Website Stern.de
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