W
arum noch mal fährt man in
tiefer Dunkelheit zu einem
Frühstück in ein Dorf namens
Schlöben, wo einem ein en -
gagierter Bürgermeister dann wahnsinnig
interessante Dinge über sein Bioenergie-
dorf erzählt – warum jetzt, an einem Sonn-
tag im September, kurz nach fünf Uhr
früh?
Weil »noch niemand auf eine so be-
scheuerte Idee gekommen« ist, darum. Die
Idee: 24 Stunden Wahlkampf, ein ganzer
Tag, eine ganze Nacht. Dafür sitzt jetzt
der Landtagskandidat Moritz Kalthoff
nach einer Nachtschicht in Schlöben, im
östlichen Thüringen, im Wahlkreis
Saale-Holzlandkreis II.
Moritz Kalthoff, 27, ist Briefträ-
ger von Beruf und Sozialdemokrat.
Der SPD geht es in seinem Wahl-
kreis so schlecht wie fast überall im
Osten, wie fast überall in Thüringen.
Hier, wo die Sozialdemokratie ih-
ren Namen fand, liegen die Progno-
sen für die Landtagswahl am 27. Ok-
tober bei sieben bis neun Prozent.
Rot-Rot-Grün regiert, unter
Bodo Ramelow von den Linken,
aber ob das so bleibt und was über-
haupt an Koalitionen möglich ist,
hängt auch davon ab, wie schlecht
die SPD sich dieses Mal schlägt.
»Kann man natürlich sagen, der
Kalthoff ist verrückt: sich als SPD-
Mann hinstellen und sagen, ich
möchte das Direktmandat gewin-
nen«, sagt Kalthoff. Kann man sagen, ja.
Man kann aber auch sagen: Das ist interes-
sant. Was treibt ihn, was treibt die Übrig-
gebliebenen in dieser abgestürzten, ehe-
mals stolzen Partei?
Er als Briefträger kommt dort vorbei,
wo die große Politik selten vorbeikommt,
was sie aber tun sollte, findet Kalthoff. In
einem Alltag, von dem mancher im Willy-
Brandt-Haus wenig weiß.
Moritz Kalthoff, ein bärtiger, breitschult-
riger Typ, der ein bisschen an den Heiligen
Christophorus erinnert, wenn er seine fünf
Monate alte Tochter an der Schulter trägt,
hat Platz 27 der Landesliste der SPD. Sein
Wahlkampfmanager Yannis Bermig, 22,
deutlich schmaler und Student der Sozio-
logie, kandidiert auch, er steht auf Platz
- Damit Kalthoff über die Landesliste
ins Erfurter Parlament käme, müsste die
SPD etwa 25 Prozent der Stimmen gewin-
nen, bei Bermig wären es 40 Prozent, so
haben sie es errechnet. Trotzdem haben
die beiden erstaunlich oft gute Laune.
Der 24-Stunden-Wahlkampf – da muss
man jetzt durch.
Kalthoff wohnt in Eisenberg, in einer
11 000-Einwohner-Stadt zwischen Jena
und Gera, die im 19. Jahrhundert aufstre-
bender Industriestandort war und jetzt
nichts Großes mehr besitzt, eher Mittel-
stand, Ziegel, Möbel, Pianos.
Es gibt einen Marktplatz mit Fachwerk,
Kirche und Heimatmuseum und einem
Büro der AfD, die im Schaufenster vor
Windkraft warnt. Und ein vietnamesisches
Restaurant, in das fast jeder geht, schon
weil kaum etwas anderes da ist.
Es gibt auch ein »Stadion des Friedens«
am Rande der Stadt, morgens um neun
hat Kalthoff dort den 24-Stunden-Wahl-
kampf begonnen. Als Helfer bei den Kreis-
meisterschaften der Leichtathletik, orga-
nisieren, Urkunden verteilen, solche Din-
ge. Man würde das vielleicht nicht Politik
nennen im Willy-Brandt-Haus, aber natür-
lich ist es genau das: Politik.
Am Nachmittag fährt er über die Dörfer
Walpernhain, Rudelsdorf, Silbitz, Camburg.
Dort feiern sie Kinderfest, Dorffest, Sport-
fest. Kalthoff gibt Bier aus, muss unzumut-
bar viele Rostbratwürste essen, die jedes
Mal zu loben sind. Er führt Gespräche über
Fußball, über Kläranlagen und über den
Gasthof, der geschlossen hat, weil die Wir-
tin gestorben ist. Über die Frage auch, wer
mit zu einer Gegendemonstration in den
südlichen Saale-Holzlandkreis I fährt, in
dem mehr harte Rechte unterwegs sind als
in seinem Wahlkreis. Man hilft einander aus.
Es ist wichtig, dass er da gewesen ist,
damit die Leute weitererzählen können:
Der von der SPD war da.
Kalthoff hat etwas von einem Landarzt,
wo fehlt’s denn, was funktioniert nicht, nur
dass er für seine Rezepte Mehrheiten
braucht. Es ist diese Art Politik, die von
Weitem klein erscheint und von Nahem
groß, und die bestimmt, ob die
Leute sich wohlfühlen in ihrer
Umgebung. Zwischen den Festen
in Silbitz und Camburg unterbricht
Kalthoff die Politik für eine Stunde,
damit er nach Hause gehen und die
Tochter ins Bett bringen kann.
»Pubgun« heißt die Band, die in
Camburg unter zu wenig Beifall
spielt, Bon Jovi zum Beispiel, »This
ain’t a song for the broken hearted,
for the faith-departed«. Nicht für
Leute mit gebrochenem Herzen,
die ohne Hoffnung sind.
Wie viel Hoffnung muss man
haben, um kurz vor Mitternacht
durch die Altstadt von Eisenberg
zu ziehen, mit einem Stapel SPD-
Flugblätter in der Hand?
Bei der Europawahl im Mai hat
in dieser Stadt jeder Vierte CDU
gewählt, jeder Fünfte AfD, jeder Siebte
die Linke, jeder Zehnte SPD. Von denen,
die überhaupt zur Wahl gegangen sind;
hier waren es 39 Prozent. Bei der zeitglei-
chen Kommunalwahl lief es etwas besser;
höhere Wahlbeteiligung, mehr Stimmen
für die SPD.
Es ist seltsam unwirklich, mit zwei SPD-
Genossen im gelben Nachtlicht durch eine
schlafende kleine Stadt zu ziehen, die
Kirchturmuhr schlägt elf, schlägt halb
zwölf. Wenige Menschen, mal einer, der
schnell die Tür zuwirft, wenn er Kalthoff
erkennt. Mal einer, der rauchend und
nickend die Broschüre entgegennimmt.
Ein Trinker, der sich tiefer ins Dunkel zu-
rückzieht. Ein Männertrupp, der durch
die Gassen lärmt, Besoffene nur, keine
Gefahr.
60 DER SPIEGEL Nr. 43 / 19. 10. 2019
Gesellschaft
Jenseits von Schlöben
HoffnungenSaale-Holzlandkreis II, das ist, im Osten Thüringens, SPD-Diaspora. Vor fünf Jahren
holte die Partei hier 9,6 Prozent. Vor der Landtagswahl wirbt ein Briefträger für die
Sozialdemokraten. Wofür kämpft man, wenn es nichts zu gewinnen gibt? Von Barbara Supp
SPD-Werbung: Wie viel Hoffnung muss man haben?