Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1
CAYCE CLIFFORD

W


arren Buffett – geschätztes Ver-
mögen: 83 Milliarden Dollar –
weiß es schon lange: Wer viel hat,
dem wird in den USA gegeben. Superrei-
che wie er, so bekannte der Börsenguru
und Multimilliardär vor einigen Jahren,
müssten weniger Geld ans Finanzamt ab-
führen als ihre Sekretärinnen.
Seine Schicht, sagte der Investor, werde
geradezu »verhätschelt« von einem Kon-
gress, der Milliardären freundlich zu -
geneigt sei. Sie profitierten von »außer -
ordentlichen Steuererleichterungen«, denn
auf Kapitalerträge greift der Fiskus weni-
ger stark zu als auf Gehälter.
Acht Jahre später hat sich an diesem
Befund wenig geändert. Im Gegenteil. Das
Missverhältnis ist noch größer geworden.
Die Ökonomen Gabriel Zucman und Em-
manuel Saez veröffentlichen in diesen Ta-
gen eine umfangreiche Analyse zur US-
Steuerverteilung, die sie als »Triumph der
Ungerechtigkeit« beschreiben*.
Die Berechnungen der Berkeley-Profes-
soren zeigen: Erstmals seit Anfang des vo-
rigen Jahrhunderts liegen die Steuersätze
der reichsten Amerikaner heute wieder
unter denen von Stahlarbeitern, Lehrern
oder Ruheständlern. »Wer soll noch an De-
mokratie glauben«, fragt Zucman, wenn
das Steuersystem »einer privilegierten
Minderheit« zugutekomme?
Diese Frage stellen immer mehr Öko-
nomen. Noch vor wenigen Jahren galt es
in der Profession als ausgemacht, dass
niedrige Abgaben die Konjunktur beleben
könnten und der Steuerwettbewerb unter
den Nationen heilsamen Druck ausüben
könne. Werden die Reichen entlastet, so
lautete die These, wird in der Wirtschaft
mehr investiert, wovon bald auch Niedrig-
und Durchschnittsverdiener profitieren.
Heute hat die Theorie des sogenannten
Trickle Down selbst unter marktradikalen
Ökonomen nur noch wenige Anhänger.
Zu offenkundig sind die Vermögens -
zuwächse der Reichen in den vergangenen
Jahren zulasten der Mittelschicht gegan-
gen. Und zu klar haben die Panama-
Papers- und Luxleaks-Skandale offenbart,
in welch gigantischem Umfang prosperie-
rende Konzerne ihre Heimatländer um
vorgesehene Abgaben geprellt haben. Mul-
tis wie Apple oder Amazon umgehen den


  • Emmanuel Saez, Gabriel Zucman: »The Triumph of
    Injustice«. W. W. Norton & Company; 232 Seiten.


Fiskus, indem sie Teile ihrer Gewinne
in Steueroasen wie Irland oder die Cay-
man Islands verschieben.
Seither wird unter Wirtschaftswissen-
schaftlern eine andere Sichtweise zuneh-
mend beliebter. Je weiter die Schere zwi-
schen Arm und Reich auseinandergeht, ar-
gumentieren etwa Ökonomen der OECD,
desto geringer wird das Innovations- und
Wachstumspotenzial einer Volkswirt-
schaft. Ein Grund: Je mehr Menschen im
Niedriglohnsektor gefangen sind, desto
weniger Chancen haben sie, sich weiter-
zubilden und bessere Jobs zu finden.
Auch die Politik greift die neuen Lehren
auf. In den USA ziehen aussichtsreiche de-
mokratische Präsidentschaftskandidaten
wie Elizabeth Warren oder Bernie Sanders
mit Konzepten für eine Vermögensteuer
in den Wahlkampf.
Zugleich versuchen die Industriestaaten
mit internationalen Vereinbarungen, die
Geschäfte der Steuerparadiese trocken -
zulegen. Denn das Geld, das ihren Finanz-
behörden entgeht, kommt vor allem jenen
Vermögenden zugute, die an den großen
Konzernen beteiligt sind. So trägt der welt-
weite Wettbewerb um die niedrigsten Fir-
mensteuern dazu bei, die Reichen reicher
zu machen.
Diese Mechanik beschreibt auch Zucman
in seinem Buch. Der Ökonom, in Paris ge-
boren, half vor einigen Jahren dem franzö-

sischen Verteilungskritiker Thomas Piketty
bei den Recherchen zu dessen Untersuchung
über »das Kapital im 21. Jahrhundert«. An-
ders als Piketty aber, dessen Zahlen nicht
über jeden Zweifel erhaben waren, gilt Zuc-
man als ausgewiesener Datenexperte.
Für seine Untersuchung hat er das US-
Steueraufkommen der vergangenen knapp
elf Jahrzehnte analysiert – und dabei eine
große Unwucht festgestellt: Die 400 reichs-
ten Amerikaner führten in den Sechziger-
jahren noch durchschnittlich 50 Prozent
ihres Einkommens an den Fiskus ab. Im
vergangenen Jahr lag der Anteil lediglich
bei 23 Prozent. Der durchschnittliche
Steuer satz der unteren Hälfte der Haus-
halte lag dagegen 2018 bei mehr als 24 Pro-
zent. Das US-Abgabensystem sei zu einer
»Flat Tax« verkommen, sagt Zucman, mit
ähnlichen Sätzen für alle und »einer Vor-
zugsbehandlung für Superreiche«.
Die Einkünfte der Wohlhabenden seien
regelrecht explodiert: Während das reichs-
te eine Prozent der US-Bürger seinen
Anteil am Gesamteinkommen in den ver -
gangenen 40 Jahren von rund 11 auf
20 Prozent erhöhen konnte, ist der Anteil
der unteren Bevölkerungshälfte nahezu
spiegelbildlich gesunken (siehe Grafik).
Zucman skizziert eine Gesellschaft, die
in einer verteilungspolitischen Spirale ge-
fangen ist: Die Reichen werden reicher,
weil sie weniger Steuern zahlen. Und weil
sie reicher werden, haben sie mehr Mög-
lichkeiten zum Steuersparen. Wenn das so
weitergeht, so lässt sich Zucmans Analyse
entnehmen, steht am Ende eine Gesell-
schaftsordnung wie im europäischen Mit-
telalter: Einige wenige besitzen praktisch
alles, die anderen haben so gut wie nichts.
Viele Ökonomen halten die wachsende
Kluft zwischen Arm und Reich für eine un-
vermeidliche Folge von Globalisierung
und Digitalisierung.
Zucman ist anderer Meinung. Er glaubt,
dass jede Gesellschaft »frei wählen kann«,
wie sie verschiedene Einkünfte besteuert.
Gerade die US-Geschichte liefere dafür ei-
nen Beleg. Anfang des 20. Jahrhunderts
sei das US-Steuersystem ähnlich unfair ge-
wesen wie heute. Es begünstigte Eisen-
bahnunternehmer, Stahlbarone und Öl-
magnaten. Doch nach Depression, New
Deal und Zweitem Weltkrieg steuerte die
Regierung in Washington um, sie zwang
den Reichen hohe Abgaben auf. In den
Sechzigerjahren lag ihr Höchststeuersatz
zeitweise bei über 90 Prozent. Die USA
hatten eine der ausgewogensten Einkom-
mensverteilungen der Welt.
Erst die Siebzigerjahre mit ihrem Glau-
ben an den schlanken Staat und an freie
Märkte schufen jene ideologische Basis,
auf der die Steuersenkungsprogramme
von Ronald Reagan oder George W. Bush
gedeihen konnten. Den vorläufigen
Schlusspunkt setzte Donald Trump, der

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Wirtschaft

Zeit für Robin Hood


FinanzpolitikKonzerne und Millionäre zahlen neuen Studien zufolge
oft weniger Steuern als die Mittelschicht. Sogar in den USA wird
über Vermögensabgaben diskutiert. Kommt die große Umverteilung?

Autor Zucman
Reif für die Gegenrevolution
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