„Das Tempo hat sich seit April noch
einmal verlangsamt.“
Kristalina Georgiewa, IWF-Chefin, über das globale
Wirtschaftswachstum
Worte des Tages
Rüstung
Deutscher
Schlendrian
I
n Frankreich wie in Deutsch-
land gibt es einen breiten poli-
tischen Konsens, neue Waffen-
systeme gemeinsam zu entwickeln,
für ganz Europa. Die seit zwei Jah-
ren vereinbarten Großprojekte
Kampfflugzeug und Panzer sollen
die Industrie in Europa technolo-
gisch auf Augenhöhe mit den USA
halten, und sie sollen militärisch
das teure Klein-Klein der nationalen
Rüstungsbeschaffungen beenden.
Jedoch: Bei der Umsetzung dieser
strategischen Großvorhaben hakt
und knirscht es bei jedem Schritt.
Die Ursache liegt in der Unter-
schiedlichkeit der politischen Syste-
me: Frankreichs Zentralstaat lenkt
seine staatlichen Rüstungsfirmen in
den Großprogrammen gleich mit.
In Deutschland klammert man sich
an die Ideologie, dass der Staat sich
aus dem Markt herauszuhalten hat.
Aber gibt es überhaupt einen ech-
ten Markt für Rüstungsgüter? Auch
in Deutschland bedient die Rüs-
tungsindustrie erst einmal den ei-
nen Kunden: die Bundeswehr. An
keine andere Armee darf sie ohne
Genehmigung der Bundesregierung
exportieren – und das, bitte, darf
sich auch niemals ändern.
Weil die Unternehmen also auch
in Deutschland abhängig vom Staat
sind, ist es ziemlich absurd, dass
die Bundesregierung auf deutsch-
französischen Gipfeltreffen wohl-
klingende Vereinbarungen unter-
zeichnet, dann aber die Umsetzung
der konkreten Projekte Kampflug-
zeug und Panzer schleifen lässt. So
wird es immer wieder zum Missver-
ständnis kommen, dass die Franzo-
sen glauben, alles wäre geklärt,
während die Bundesregierung war-
tet, bis die Firmen ihre Konsortien
bilden – oder auch nicht.
Es hat sich unter Politikern einge-
schliffen, möglichst großen Abstand
zur Rüstungsindustrie zu halten.
Das ist für deutsche Firmen ein
Wettbewerbsnachteil, solange
Frankreichs Firmen in den Gemein-
schaftsprojekten volle politische Rü-
ckendeckung genießen. Bei Militär-
projekten ist deshalb eine intensive
industriepolitische Koordinierung
durch die Bundesregierung not-
wendig. Sonst überlässt sie Frank-
reichs Industrie das Feld allein.
Für die Militärprojekte mit
Frankreich muss Deutschland
industriepolitischen Ehrgeiz
entwickeln, fordert Donata Riedel.
Die Autorin ist Korrespondentin in
Berlin. Sie erreichen sie unter:
E
rinnerungen an die Finanzkrise 2009
werden derzeit wach. Kurz vor Ende des
Jahrzehnts befindet sich die Weltwirt-
schaft wieder mitten in einem Ab-
schwung. Wie damals kämpfen auch
heute fast alle Staaten auf der ganzen Welt gleichzei-
tig mit fallenden Wachstumsraten. Wie damals sind
erneut hohe Schulden eine Gefahr für die Finanz -
stabilität, diesmal weniger auf der Banken- und Staa-
ten-, dafür aber auf Unternehmensebene. Und wie-
der blicken alle Beobachter und Akteure bei der Be-
kämpfung der Wirtschaftskrise vor allem auf die No-
tenbanken.
Doch auch wenn es einige Parallelen zu 2009 gibt,
ist die Welt zehn Jahre später eine völlig andere.
Während die Finanz- eine Jahrhundertkrise war, be-
findet sich die Weltwirtschaft heute in einem norma-
len Abschwung. Vergleiche mit der Situation vor
zehn Jahren sind deshalb unverhältnismäßig. Und es
gibt weitere Unterschiede zu damals – und die sind
beunruhigend.
2009 reagierten die G20-Staaten schnell und ent-
schlossen auf die Finanzkrise. Ob die Runde der 20
größten Industrie- und Schwellenländer (G20) heute
aber die Kraft besäße, geschlossen zu handeln, ist
mehr als fraglich. Zu sehr rüttelt US-Präsident Do-
nald Trump an der multilateralen Nachkriegsord-
nung, eine Krise würde er mit protektionistischen
Alleingängen womöglich eher verschlimmern. Die
G20 ist damit just in einer Zeit schwach, in der nicht
nur ein Abschwung ins Haus steht, sondern alte öko-
nomische Gesetzmäßigkeiten und Gewohnheiten
der Weltwirtschaft außer Kraft gesetzt werden. Die
Welt steht einer neuen Krise ziemlich wehrlos gegen-
über.
Schon jetzt hat die protektionistische US-Handels-
politik viel Schaden angerichtet, sie hat die globale
Konjunktur im Alleingang Richtung Abschwung ge-
stoßen. Sollten die Handelskonflikte nicht gelöst
werden, würde dies die Weltwirtschaft allein im
nächsten Jahr weitere 700 Milliarden Dollar kosten.
Dabei sind Zölle nicht einmal das Hauptproblem.
Viel schwerer lastet die Unsicherheit, die die Zoll-
schranken mit sich bringen, auf der Weltwirtschaft.
Im August kletterte der „Globale Unsicherheitsin-
dex“ auf Rekordstand. Die Welt befindet sich in ei-
nem Zustand der Dauerunsicherheit.
Das zweite Wesensmerkmal dieser neuen Wirt-
schaftsunordnung ist neben Protektionismus ein
neues ökonomisches Phänomen: Die Inflation als
ökonomische Richtgröße hat vorerst ausgedient.
Trotz aller Versuche, die Teuerungsrate mit immer
neuen geldpolitischen Maßnahmen zu stützen, liegt
sie in fast allen westlichen Industriestaaten unter
dem Ziel der Notenbanken oder krebst an der Null -
linie.
Das Neue dabei: Anders als zur Zeit der „Stagnati-
on“ in den 1970- und 1980er-Jahren geht die geringe
Inflation heute nicht mit hoher Arbeitslosigkeit ein-
her. Die Politik muss sich daher auf eine neue Art
von Konjunkturkrisen einstellen.
Die niedrige Inflation einfach hinzunehmen wäre
hochgefährlich. Auf Dauer schaden zu geringe Teue-
rungsraten einer Volkswirtschaft genauso wie zu ho-
he. Den Unternehmen, weil ihre Schulden real weni-
ger stark sinken. Den Notenbanken, weil ihre Glaub-
würdigkeit leidet, wenn sie ihr Mandat der
Preisstabilität nicht einlösen. Investoren, weil sie
durch die Niedrigzinsen in risikoreiche Anlagen ge-
trieben werden. Und der Politik, weil sie nun über
höhere Ausgaben die niedrige Inflation bekämpfen
muss, weil die Notenbanken ihr Pulver bereits ver-
schossen haben – und das trotz teils heute schon ho-
her Schuldenstände.
Neben dem Protektionismus und dem vorläufigen
Ende der Inflation gibt es einen dritten Unsicher-
heitsfaktor. Hat China in den vergangenen Jahren die
globale Konjunktur mit seiner boomenden Wirt-
schaft stets nach oben gezogen, scheint das Wachs-
tumsmodell der Volksrepublik nun an seine Grenzen
zu stoßen. Das Wachstum wird in diesem Jahr so
niedrig ausfallen wie seit den 1990er-Jahren nicht
mehr, eine Rückkehr zu alter Stärke ist unwahr-
scheinlich.
Der Hunger nach Maschinen „made in Germany“
dürfte im nächsten Jahrzehnt geringer ausfallen als
im ausklingenden. Dies, gepaart mit den Struktur-
veränderungen der Automobilindustrie, wird insbe-
sondere die deutsche Industrie und den deutschen
Mittelstand vor Probleme stellen, die kein Konjunk-
turprogramm der Welt lösen kann.
Beim IWF-Treffen in Washington versuchten Fi-
nanzminister und Notenbanker, Optimismus zu ver-
breiten. Eine Abrüstung des Handelskriegs würde
die globale Konjunktur schnell wieder beleben, wo-
von insbesondere Deutschland profitieren würde.
Das ist sicher richtig. Doch die anderen Probleme
werden selbst in diesem „Best-Case-Szenario“ nicht
verschwinden. Und sie sind schwieriger zu lösen.
Die G20 muss schnell Antworten finden, wie sie mit
der neuen Unordnung der Weltwirtschaft umgehen
will.
Leitartikel
Die neue große
Unordnung
Unsicherheit gibt
den Takt der
Weltwirtschaft
vor, ökonomische
Gesetze scheinen
außer Kraft. Die
Politik muss
handeln, sagt
Martin Greive.
Die Welt
befindet sich in
einem Zustand
der Dauer -
unsicherheit.
Der Autor ist Korrespondent in Berlin.
Sie erreichen ihn unter:
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Meinung
& Analyse
MONTAG, 21. OKTOBER 2019, NR. 202
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