Handelsblatt - 21.10.2019

(Brent) #1

die britischen Abgeordneten dazu auf, endlich da-


rüber abzustimmen.


Alles hängt nun vom Unterhaus ab. Die Regie-


rung ist zuversichtlich, diese Woche die erforderli-


che Mehrheit von 320 Stimmen zu bekommen.


Man habe die nötige Anzahl an Unterstützern, sag-


te Außenminister Dominic Raab am Sonntag in der


BBC. Tatsächlich scheint Johnson seine zerstrittene


Partei zumindest vorläufig geeint zu haben. Die


Brexit-Hardliner der European Research Group


(ERG), an deren Widerstand Johnsons Vorgängerin


Theresa May dreimal mit ihrem Vertrag gescheitert


war, stellten sich am Wochenende hinter den Aus-


stiegsvertrag. Und auch die meisten ehemaligen


Konservativen, die Johnson im September wegen


ihrer EU-freundlichen Haltung aus der Fraktion ge-


worfen hatte, scheinen sich damit abgefunden zu


haben. Im Vergleich zur EU-Mitgliedschaft sei die-


ser Austrittsvertrag „zweifellos ein schlechter


Deal“, sagte der hochrespektierte Pro-Europäer


Ken Clarke. Aber er werde ihn unterstützen.


Die frühere Premierministerin Theresa May, de-


ren Sturz Johnson herbeigeführt hatte, gab am


Samstag ein eindringliches Plädoyer für den Aus-


trittsvertrag ab. Sie habe es schon viele Male ge-


sagt, aber es gelte immer noch: „Wenn Sie keinen


ungeordneten Brexit wollen, müssen Sie für einen


Deal stimmen“, rief sie den Abgeordnetenkollegen


zu. Jeder müsse an das nationale Interesse denken.


Seinen Bündnispartner, die nordirische DUP,


muss Johnson hingegen wohl abschreiben. Die


Unionisten fühlen sich verraten, weil der Vertrag


nun eine Zollgrenze zwischen Großbritannien und


Nordirland vorsieht. Es werde eine harte Grenze in


der Irischen See geben, klagte der DUP-Abgeordne-


te Sammy Wilson im Unterhaus. Britische Händler


müssten künftig Zollformulare ausfüllen, um Güter


nach Nordirland zu bringen. Der Unmut über John-


son ist besonders groß, weil er noch vor einem


Jahr auf dem DUP-Parteitag als Ehrengast gefeiert


wurde und dort versprochen hatte, dass es nie eine


Seegrenze geben werde. Am Freitag trat der DUP-


Abgeordnete Ian Paisley demonstrativ bei einer


Veranstaltung der Brexit-Partei von Nigel Farage


auf. „Wir sind Blutsbrüder!“, rief er. Im Unter-


schied zu Johnson kenne Farage den Wert der


Loyalität. Es sieht nicht so aus, als werde Johnson


von der DUP bald eine zweite Chance erhalten.


Ohne die nordirische Partei ist Johnson auf die


Labour-Opposition angewiesen. Hier macht seine


Charmeoffensive wiederum Fortschritte: Mehr als


zehn Labour-Abgeordnete aus Brexit-Wahlkreisen


haben sich bereits für den Deal ausgesprochen. Sie


stimmen Johnsons Einschätzung zu, dass die Briten


den Brexit endlich abhaken wollen.


Einfach wird es für den Premierminister in den


kommenden Tagen aber nicht. Dutzende Ände-


rungsanträge zum Ausstiegsgesetz werden erwar-


tet. Die Labour-Partei etwa will ein konkretes Ziel


für die künftigen Handelsgespräche mit der EU


festschreiben: Die Regierung soll eine Zollunion


und eine enge Anlehnung an die EU-Binnenmarkt-


regeln anstreben. Auch will die Opposition sicher-


stellen, dass die Briten in einem Referendum über


den Austrittsvertrag abstimmen dürfen. Das kün-


digte der Brexit-Sprecher der Labour-Partei, Keir


Starmer, in der BBC an. Als Alternative zu Johnsons


Deal soll der EU-Verbleib auf dem Wahlzettel ste-


hen.


Die Brexit-Gegner haben daher die Hoffnung


nicht aufgegeben, den Austritt doch noch abwen-


den zu können. Am Samstag marschierten Zehn-


tausende durch das Regierungsviertel und forder-


ten ein zweites Referendum. Als der Speaker des


Unterhauses auf der Großbildleinwand auf dem


Parliament Square verkündete, dass die Ratifizie-


rung des Ausstiegsvertrags verschoben würde,


brach die Menge in Jubel aus. „Ausgeschlossen ist


in der britischen Politik gar nichts“, meint Europa-


politiker McAllister. „Sollte es tatsächlich zu einem


zweiten Referendum kommen und sollten sich die


Briten mehrheitlich für einen Verbleib in der EU


entscheiden, würde ich das sehr begrüßen.“


Sie werden jedoch wohl nur eine Chance erhal-


ten, wenn Johnson keine Mehrheit für den Aus-


stiegsvertrag findet. Und das ist am Wochenende


eher unwahrscheinlicher geworden.


Boris Johnson, Jean-Claude Juncker: Wie viele
Verhandlungsrunden werden sie noch bestreiten?

ddp/Xinhua/Sipa USA

Großbritannien und die EU
Zahl der Einwohner 2018 in Millionen

EU-28 gesamt: 513,4 Millionen


EU-28 gesamt: 4,46 Mio. km


EU-28 gesamt: 15 881 Mrd. €


EU-28-Durchschnitt: 6,2 %


EU-28 gesamt: 7 338 Mrd. €


EU-28 gesamt: 240,2 Mrd. €


EU-28 gesamt: 317,1 Mrd. €


Größe des Staatsgebiets in Tausend Quadratkilometern


Bruttoinlandsprodukt 2018, nominal, in Mrd. Euro


Arbeitslosenquote August 2019 in Prozent


Exporte 2018, Waren und Dienstleistungen, nominal, in Mrd. Euro


Militärausgaben in Mrd. Euro


Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Mrd. Euro


HANDELSBLATT Quellen: Europäische Kommission, Eurostat, Sipri

Belgien
BulgarienDänemark
Deutschland

Estland
Finnland
Frankreich
Griechenland
Großbritannien

IrlandItalien
KroatienL

ettlandLitauen


Luxemburg


Malta


Niederlande


Österreich


Polen
Portugal
RumänienSchweden

Slowakei
Slowenien

Spanien
Tschechien

UngarnZypern


249

600

450

300

150

0

66,

80

60

40

20

0

2 394


3 500

2 800

2 100

1 400


0

3,


20

15

10

5

0

717


2 000

1 500

1 000

500

0

43,


60

45

30

15

0

38,


100

80

60

40

20

0

EU-Austrittsabkommen


Zugeständnisse –


auch von der EU


E


U-Kommissionschef Jean-Claude Juncker
nannte es einen „fairen Kompromiss“: Das
neue Nordirland-Protokoll zum britischen
EU-Austrittsvertrag. Der bereits am 14. November
letzten Jahres beschlossene Vertrag bleibt intakt –
mit einer Ausnahme: der Umgang mit der künfti-
gen EU-Außengrenze in Irland. Das neue Proto-
koll dazu wird nur wirksam, wenn Großbritan-
nien und die EU-27 kein Freihandelsabkommen
in der dafür vorgesehenen Übergangsfrist zustan-
de bringen. Die Frist dauert bis Ende 2020 und
ist dann um zwei Jahre verlängerbar. In der Über-
gangszeit bleibt Großbritannien Teil des Europäi-
schen Binnenmarkts und der EU-Zollunion. Erst
nach Ablauf der Frist könnte das Nordirland-Pro-
tokoll Bedeutung erlangen: Man hat damit ein Si-
cherheitsnetz für den Notfall gespannt.
Ziel des sogenannten Backstops ist es, friedens-
gefährdende Grenzkontrollen zwischen der briti-
schen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied
Irland zu vermeiden. Am Ende machten beide
Seiten Zugeständnisse, um eine Einigung zu er-
möglichen. Der britische Premier Boris Johnson
fand sich damit ab, die EU-Außengrenze an die
nordirische Küste, also in britisches Hoheitsge-
biet zu verlagern und dort EU-Zölle zu erheben.
Die EU-27 verzichtete auf ihre ursprüngliche For-
derung, Nordirland in der EU-Zollunion zu belas-
sen und der gesamten EU-Binnenmarktgesetzge-
bung zu unterwerfen. Das Nordirland-Protokoll
sieht nun Folgendes vor:


  • Die bisher im Austrittsvertrag vorgesehene
    Zollunion zwischen ganz Großbritannien und der
    EU entfällt. Stattdessen soll es zwischen Nordir-
    land und der EU eine komplizierte Zollpartner-
    schaft geben. Demnach müssen britische Behör-
    den gemeinsam mit der EU sicherstellen, dass
    auf für die EU bestimmte Importe aus Großbri-
    tannien und aus Drittstaaten EU-Zölle erhoben
    werden.

  • Die EU-Binnenmarktgesetzgebung wird in
    Nordirland nur noch teilweise angewandt: Um-
    welt-, Sozial- und Arbeitsschutzstandards der EU
    gelten nicht mehr.

  • Großbritannien verpflichtet sich, die in Nord-
    irland erhobene Mehrwertsteuer an die Sätze in
    der Republik Irland anzugleichen.

  • Nach vier Jahren kann das Regionalparlament
    von Nordirland entscheiden, ob die britische
    Provinz noch länger im Geltungsbereich der EU-
    Zölle und -Binnenmarktvorschriften verbleibt.
    Kommt keine Mehrheit dafür zustande, dann gel-
    ten die EU-Regeln für Nordirland nur noch zwei
    weitere Jahre. In der Zeit müssen sich beide Sei-
    ten auf eine Alternative einigen. Ruth Berschens


Der Brexit-Streit


MONTAG, 21. OKTOBER 2019, NR. 202


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