Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 27


Die Grenzezwischen Nordirland und derRepublik Irland soll fastunsichtbar bleiben. CLODAGH KILCOYNE / REUTERS

Ein nie geprobter Zaubertrick


Die Lösung des Br exit -Problem s in Nordirland brin gt Firmen viel Papier kram und prophylaktische Zölle


BENJAMIN TRIEBE, LONDON


Die britischeRegierung und die EU
haben sich auf einenWeg geeinigt, der
das schier Unmögliche möglich machen
soll. Die grösste Hürde in den Brexit-Ge-
sprächen war stets, nach einem EU-Aus-
tritt desVereinigtenKönigreichs Grenz-
kontrollen auf der Insel Irland und so
eine Gefährdung des irischenFriedens-
prozesses zu verhindern. Güterkontrol-
len an oder nahe der Grenzekönnen
aber nur wegfallen, wenn die Grenze
zwischen Nordirland und derRepublik
Irland fürWarentransporte irrelevant
ist.Das ist sie nur, wenn sie zwar zwei
Staaten, aber nicht zwei Handelsräume
voneinander trennt.


Drinnen und doch draussen


London und Brüssel haben für ihren
Brexit-Vertragsentwurf deshalb eine
Idee entwickelt, die einer Quadratur
des Kreises gleichkommt: Nordirland
soll in vielenFragen de facto alsTeil
der EU behandelt werden, obwohl es
de jureTeil desVereinigtenKönigreichs
bleibt und mit demKönigreich die EU
verlässt.Das ist ein historisch einmali-
gerVersuch, und dieKomplexität der
Regelungen ist ein guter Grund, ihn zu
unterlassen. Doch Brüssel undDub-
lin wollen eine enge Anbindung Nord-
irlands, während es aus Londoner Sicht
nicht zu stark vomRest desKönigreichs
abgekoppelt werden darf. So ist für die
britischeRegierung entscheidend, dass
Nordirland nicht Teil der EU-Zoll-
union bleibt. In diesemFall könnte Lon-
don nur Handelsabkommen mit Dritt-
ländern für Grossbritannien abschlies-
sen, nicht für das ganzeKönigreich.
Die Streithähne haben sich darauf
geeinigt, Nordirland in dreiFällen wie
ein EU-Mitglied zu betrachten:in Zoll-
fragen, bei derRegulierung und bei der
Mehrwertsteuer. Um dieRegulierung zu
vereinheitlichen, soll Nordirland seine
Standards für einige Produkte an EU-
Standardskoppeln, unter anderem für
Landwirtschaftsgüter. Dann müsste an
der 500 km langen Grenze nichtkon-
trolliert werden, ob dieseWaren in der
EU zugelassen sind.Auch andereRe-
geln werden an jene des EU-Binnen-
marktes gebunden, zum Beispiel für
Staatshilfe.Jegeringer dieregulatori-
schen Unterschiede,desto kleiner der
Bedarf an Überprüfungen.
Auch soll eskeine Zollkontrollen
zwischen Nordirland und derRepublik
Irland geben. DieLandesgrenze ist dann
ein ungeschütztes Einfallstor in den EU-


Binnenmarkt, weil auch zwischen Irland
und demKontinentkeine Güterkontrol-
len stattfinden. Also müssen alle Güter,
die Nordirland aus Drittländern oder
Grossbritannien erreichen, überprüft
werden – bei der Ankunft im nördlichen
Inselteil. Es gäbe also nicht nur eineregu-
latorische, sondern auch eine zollrecht-
liche Hürde zwischen Nordirland und
demRest desKönigreichs.
Prophylaktisch soll der EU-Aussen-
zoll auf alleGütererhoben werden, die
in Nordirland ankommen – auch aus dem
Rest desVereinigtenKönigreichs. Dies,
um Schmuggel zu verhindern, weil nie-
mand vor Ort überprüfenwird, ob die
Güter nicht direkt oder in verarbeiteter
Form von Nordirland nach Irland und
damit in den EU-Raum weitertranspor-
tiert werden. Den Zoll würden die bri-
tischen Behörden einziehen und an die
EU weiterleiten.Verbleiben die Güter
in Nordirland, kann der Importeur den
Zoll von der britischen Behörde zurück-
fordern (wenn dieWaren aus Grossbri-
tannien kamen), oder er wird nachträg-
lich nur mit dem britischen Zoll belastet
(wenn sieauseinem Drittland stammen).

DiesesVerfahren klingt nicht nur
kompliziert, es ist es auch. DerPapier-
aufwand für Unternehmenwäre gross.
Für den Handelsaustausch selbst inner-
halb des eigenenLandes müssten briti-
scheFirmen seitenweise Zolldeklaratio-
nen ausfüllen –Firmen, die bisher gar
nichts einreichenmussten.Aus diesem
Grund sieht das Brexit-Abkommen vor,
eineKommission einzusetzen, dieAus-
nahmen von der Zollpflicht festlegt.

Firmenwollen Entschädigungen


Entscheidendsoll sein,ob bei einer
Warefür Nordirlanddas Risikobesteht,
dass sie nach Irland transportiert wird.
Die Kriterien für dieses Risiko muss die
Kommission in der Übergangsphase, die
mindestens bis Ende 2020 dauern soll,
eruieren.(Die ganze Irland-Regelung
greift erst nach der Übergangsphase,
falls sie nicht aufgrund eines in der Zwi-
schenzeit geschlossenen, neuen Abkom-
mens zwischen der EU und demVerei-
nigtenKönigreich obsolet wird.)
Die bürokratische Hürde, die in der
Irischen See errichtet würde, bliebe

dennoch riesig. Der Unternehmensver-
band Manufacturing Northern Ireland
sp rach am Donnerstag von potenziell
erheblichen Störungen des Handels mit
Grossbritannien.Das Regime seikom-
plex und teuer. NordirischeFirmen soll-
ten für dieKosten undAuflagenkom-
pensiert werden, die sie tragen müssten,
«damitderRest desVereinigtenKönig-
reichs mit dem Brexit weitermachen
kann». Gleichwohl begrüsstees derVer-
band, dass so ein «katastrophaler» No-
Deal-Brexit vermieden würde.
Aber nicht nur London macht ein
grosses Zugeständnis, indem es dieBar-
rierein der Irischen See akzeptiert.
AuchdieEU gehtKompromisse ein:
Nicht nur erhält Nordirland weitrei-
chende Handelsprivilegien, ohne formal
Teil der EU zu sein. Die Union nimmt
den Inselteil auch in sein Informations-
system für Mehrwertsteuerdaten auf,
und EU-Mehrwertsteuerregeln wer-
den dort weiterhin gelten. Neben Zöl-
len undRegulierungen sind Steuern
ein entscheidender, wenn auch häufig
übersehenerFaktor zurVerhinderung
von Grenzkontrollen.Das machte sie

in den vergangenenTagen zu einem er-
heblichen Diskussionspunkt in denVer-
handlungen.
Mehrwertsteuer wird in demLand
erhoben, in dem ein Käufer ein Produkt
erwirbt.Wirddas Produkt aus demAus-
land eingeführt, muss das Importland
davon wissen, um die Steuer erheben
zukönnen. DerVerkäufer wiederum
meldet seinemLand, dass er die dortige
Steuer nicht entrichtet, weil er ja ins
Ausland verkauft.Das Potenzial für Be-
trug ist theoretisch sehr gross. Um die-
sen Betrug einzudämmen, gibt es zwei
Möglichkeiten: Grenzkontrollen aller
ankommendenWaren, damit diese neu
besteuert werden, oder ein automati-
sches Informationssystem zwischen den
Ländern über die gehandeltenWaren,
das dieseKontrollen unnötig macht.
DerAufwand für Mehrwertsteuer-
Kontrollen, die auch für verschickte
Pakete gelten würden, ist erheblich. Doch
umTeil des Informationssystems zu sein,
verlangt die EU eigentlicheine Mitglied-
schaft im Bündnis. Um eineAusnahme
zugestanden zu erhalten,soll Nordirland
an die Mehrwertsteuerregeln der EU ge-
bunden werden. Zwar gibtesinnerhalb
der Gemeinschaft je nachLand unter-
schiedliche Steuersätze, aber denRah-
men gibt die EU vor. Zum Beispiel ist es
nicht erlaubt, Sätze für einzelneWaren-
gruppen nach Belieben zu senken.
Genau das wollten die Brexit-Anhän-
ger immer durchsetzen. Doch in Nord-
irland wird das nun nur schwer möglich
sein, obgleich es formal nicht mehr dem
EU-Steuergebiet angehört. Und wo die
EU-Regeln gelten, ist auch der bei Bre-
xit-Befürwortern ungeliebte Europäi-
sche Gerichtshof zuständig. Das alles
macht BorisJonsons neues Abkommen
für vieleUnionisten, für diekein Blatt
Papier zwischen Nordirland und Gross-
britannien passt, schwer verdaulich.

Eine Legende von einem brasilianischen Bankier


Der Tod vonLázaro Br andão beendet eine Ära in Brasiliens Bankenwelt


ALEXANDER BUSCH


Mit demTod vonLazáro de Mello
Brandão im Alter von 93Jahren verliert
Brasiliens Finanzwelt ihren legendä-
renVertreter, einBankier alter Schule.
76 Jahre hat er denAufstieg desBanco
Bradesco zur zeitweise grössten priva-
ten BankLateinamerikas begleitet. Be-
gonnen hatte Brandão als Buchhalter in
einerVorgänger-Filiale in der Provinz
SãoPaulos. Das war1942.VierzigJa hre
später wurde er Präsident derBank.In
derPosition blieb er 18 Jahre, teilweise
kombiniert mit demVorsitz imAuf-
sichtsrat, den er bis 20 17 führte. Die vier
Präsidenten, die bei der Grossbank bis
heute auf ihn folgten, hat Brandão alle
selbst ausgewählt und eingesetzt.


«NurArbeit schafft Reichtum»


«Seu» Brandão, wie er vonPolitikern
aller Couleur und vonWirtschafts-
führern respektvoll genannt wurde,
prägt mit seiner fast asketischen Be-
scheidenheit und Disziplin Bradesco bis
heute. Der strenggläubige Katholik kam
füreinen 12-stündigen Arbeitstag jeden


Morgen vor sieben Uhr in dieBank
an derPeripherie von SãoPaulo, auch
samstags. Den Stadtteil mit dem Namen
«Cidade de Deus» («Stadt Gottes») be-
legt derBanco Bradesco fast vollständig.
Brandão pflegte an einem kleinen
Buchhaltertisch am Eingang zumVor-

standszimmer zu sitzen, wo die Mitglie-
der der Geschäftsleitung alle an einem
riesigenTisch gemeinsam ihren Ge-
schäften nachgingen. Selbstverständ-
lich wagtekein Direktor nach dem Chef
zu erscheinen. Am Hauptgebäude der
Bank prangt dieAufschrift: «Nur Arbeit
schafftReichtum.» Der Buchhaltertisch
steht seit einigenJahren im Museum,
und die Mitglieder der Geschäftsleitung

haben inzwischen eigeneSchreibtische –
aber sie sitzen immer noch inRufweite
voneinander. Das mache die Entschei-
dungsstruktur bei Bradesco bis heute
extrem agil,weil jeder mit jedem auf
derFührungsebenerede, lobenKon-
kurrenten.

Technologischauf der Höhe


Diekonservative Provinzialität Brade-
scos hat schon vieleKonkurrenten ge-
täuscht. MehrereausländischeBanken
haben versucht, Bradesco mit ihrem
Know-how und ihrer Kapitalstärke an-
zugreifen – vergeblich. HSBC, BBVA ,
ABN Amro,Citibank– alle sind sie
beim Unterfangengescheitert, in Brasi-
lienFuss zu fassen. Sie haben die Agili-
tät und dieKundenorientierung Brade-
scos unterschätzt – und auch den tech-
nologischen Standard:Wegen der hohen
Inflation nutzte dieBank bereits in den
siebzigerJahren ein eigenes Satelliten-
netz, um dieKontobewegungen zu be-
schleunigen. Seit1997 haben dieKun-
den über Internet Zugriff auf ihreKon-
ten. Bill Gates lobte Bradesco als welt-
weit führend im E-Banking.

Einzelkundengeschäft,Firmenfinan-
zierungen undVersicherungen – das
waren seit je die drei Standbeine Bra-
descos. Die zwei Boomphasen in Bra-
siliens InvestmentBanking nach der
Wirtschaftsreform von1994 verpasste
dieBank. Die schillernden Investment-
banker passten einfach nicht zu Bra-
desco,wo imVorstand lange Zeit nie-
mand Englischsprach. 2008 schlossen
sich dieKonkurrenten Itaú und Uni-
banco zusammen und lösten Bradesco
als grösste Privatbank Brasiliens und
Lateinamerikas ab.
Brandãos Diskretion war legendär.
Wer ihn aufsuchte für eines der selten
gewährtenInterviews,derkonnte im
Vorzimmer Gouverneure,Bürgermeis-
ter undFirmenchefs geduldig warten se-
hen. Brandão hatte auch massgeblichen
Einfluss auf die brasilianischeWirtschaft:
Bei den Privatisierungen in den neunzi-
gerJahren zog er die Strippen. Er sorgte
etwa dafür, dass Bradesco beim Erzkon-
zernVale bis heute noch das Sagen hat.
Er setzte mitRoger Agnelli einen seiner
Direktoren an die Spitze. Dieser zählte
zeitweise zu den wichtigsten Managern
in der globalenRohstoffbranche.

Lázaro Brandão
Verstorbener
Ex-Präsident
REUTERS von Bradesco

NZZ Visuals/efl.

Dubl in

IRLAND

BelfastBelfast

NORD-
IRLAND

150Kilometer

ANZEIGE

PC 60-12948-7 /proadelphos.ch

Inserat gespon

sert

Schenken Sie Hoffnung ab 45
Franken pro Monat. Mit einer
Patenschaft verändert sich
das Leben von Kindern zum
Besseren.

proadelphos.ch/kinderpatenschaft
Free download pdf