Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

56 REISEN Freitag, 18. Oktober 2019


Eine Stadt im Kaffeerausch

Beim Stichwort Kaffeehauskultur denkt man zuerst an Wien. Dabei hat sich auch an der Westküste


der USA ein Mekka für Kaffeegeniesser etabliert: In Seattle wird dieZubereitung von Espresso


als hohekulinarische Kunst zelebriert. VON ROMINA SPINA


David Schomer steht neben der
Espressomaschine im hinterenTeil des
gewölbtenTresens und schaut streng auf
ein Häufchen frisch gemahlenes Kaf-
feepulver.Rundum herrschtreger Be-
tri eb. Es ist acht Uhr morgens in einem
historischen Café in Seattle. Mit flin-
ken Handbewegungen bereitenBaristi
an der Maschine im vorderenTeil des
Lokals Kaffeespezialitäten zu.


Wissenschafterim Labor


Schomers Blick ist aufdie wenigen
Gramm Kaffee fixiert, die vor ihm auf
einer schneeweissen Untertasse lie-
gen. Vorsichtig hebt der Kaffeemeister
das Geschirrstück gegen das Licht, um
Farbe undKonsistenz des dunkelbrau-
nen Pulvers zu prüfen. Ist derFarbton
dieser Sorte zu hell, zu dunkel? Sind die
Bohnen zu grob oder zu fein gemah-


len? Er atmet tiefein, bevor er zum
Siebträger greift. Nach einer halben Mi-
nute stehen zwei Espressi auf demTre-
sen. Er nimmt seineTasse, schnüffelt
daran, nimmt einen Schluck und fragt
mit ernsterMiene: «Schmeckst du da
Zitrusraus?»
Wie jedenFreitag um diese Zeit bie-
tet Schomer in seinem Café «Espresso
Vivace» in Seattle eine Kaffeedegusta-
tion an. Er istein schlanker Mann mitt-
leren Alters mit Schnauz und weissem
Haarschopf, spricht schnell und detail-
liert über jeden Schritt der Zuberei-
tung undVerkostung von Espresso. Kaf-
fee ist seine Leidenschaft.Trotzdem er-
klärt er die technischenAspekte trocken
und minuziös, fast wie einWissenschaf-
ter. Schomerkommt aus einerFamilie
von Ingenieuren.Er selber war in einem
Labor der USAirForce als Meteorologe
tätig. Dort hat er auch den ersten Kaf-
fee seines Lebensgetrunken, wie er sagt:
eine geruchlose Brühe aus demAuto-
maten vor dem Start der Nachtschicht.
Nicht gerade ein vielversprechender
Anfang für jemanden, der Jahre spä-
ter die Kaffeewelt in Seattle entschei-
dend mitprägen sollte. Besonders ent-
täuschend soll fürDavid Schomer da-
mals die Entdeckung gewesen sein, dass
der Kaffee imPappbecher nichts von
dem betörendenDuft frisch gemahlener
Bohnen hatte, den er mit seiner Kind-
heit inVerbindung brachte.


Beginnder Kaffeerevolution


Jene Zeit, die frühen sechzigerJahre,
markierte den Beginn der Kaffeehaus-
kultur, für die Seattle bekannt ist. Im
lebendigenViertel um die University of
Washington imNordosten der amerika-
nischen Stadt wurden Cafés zu neuen
Treffpunkten. Hier stelltenKünstler
aus, es tratenFolk-Musiker auf, und
hier plante manKundgebungen und
Protestaktionen.Zu den Kaffeerös-


tern, die damalsinSeattleFuss fassten,
gese llten sich1971 dreiJungunterneh-
mer, die am zentralen Pike Place Mar-
ket eineRösterei gründeten.Passend
zur Lage amWasser benannten sie sie
nach einerFigur aus Herman Melvilles
Roman «Moby-Dick»: Starbucks. Spä-
ter wurde in der Nähe auch das gleich-
namige Kaffeehaus eröffnet,das dort bis
heute in Betrieb ist.
Statt nur Filterkaffee erschienen
bald auch andere Kaffeespezialitäten
im Angebot – dies nicht zuletzt dank
dem Import vonEspressomaschinen
aus Italien. Unter jenen, die Nord-
italien besucht hatten und die gleiche
Kaffeekultur nach Seattle bringen woll-
ten, war auch Howard Schultz, der spä-
tere CEO von Starbucks. In den Cafés
von Seattle verkaufte man fortan nicht
nur Getränke, sondern auch ein neues
Lebensgefühl.
Inzwischen hatte Schomer dasLabor
verlassen und eineAusbildung zum Flö-
tisten gemacht. Doch in Seattlekonnte
er mit klassischer Musikkein Geld ver-
dienen. So kam es,dass er1988 ins boo-
mende Kaffeegeschäft einstieg. Die

Espressozubereitung mit Siebträger, so
schien ihm, war eine kulinarischeKunst
mit Ausbaupotenzial. So richtete er an
der Hauptachse Broadway auf Seattles
Capitol Hill zusammen mit seinerPart-
nerin einen Kaffeestand ein.
Die Espressozubereitung siehtScho-
mer als die einzige Methode, um das
feine Kaffeearoma unverändert von der
Bohne in dieTasse zu bringen. Akri-
bisch studierte er jeden Aspekt die-
ses Handwerks und notierte, wie sich
selbst kleinste Veränderungen auf
den Geschmack des Kaffees auswirk-
ten. ÜberJahre experimentierte er an
der Maschine und dokumentierte die
Resultate, die er dann in Artikeln und
in einem Buch veröffentlichte.
In Seattlesowie in den übrigenTei-
len der USA lernten zwei Generationen
von Cafébetreibern undBaristi Scho-
mersTechniken, zuerst viaVideokasset-
ten und später via Internetvideos. Ihm
wird inFachkreisen auch die Einfüh-
rung undVerbreitung der «Latte Art»
in Amerika zugeschrieben, also derVer-
zierungen,die man bei Cappuccino oder
Caffè Latte in den Milchschaum zeich-

net. SchomersVersuche liefen weiter.
In Norditalien hatte er erfahren, dass
Unterschiede bei derWassertemperatur
den Kaffeegeschmack stark beeinflus-
sen konnten.Also musste er dieTempe-
ratur stabilisieren. Hier zahlte sich sein
Fachwissen im Bereich der Präzisions-
messung aus.Als ehemaliger Meteoro-
loge werkelte er so lange, bis ihm am
Mittwoch, dem 28.Februar 2001, der
Durchbruch gelang.

Doppeltes Erdbeben


An jenem Mittwoch bebte die Erde in
Seattle. Mit einer Stärke von 6,8 auf
der Richter-Skala war es das schwerste
Beben an derWestküste seitJahrzehn-
ten. Nebst einemTodesopfer forderten
die ErdstösseHunderte vonVerletzten.
Der Notstand wurde ausgerufen.
Schomer hatte gerade eben sein
langersehntes Ziel erreicht, bevor er
ins Freie rennen musste. Im Gebäude-
inneren hatte er einen Espresso zuberei-
tet, nachdem dieTemperatur mit einem
Regler stabilisiert worden war. Rück-
blickend kam für ihn derAugenblick,als

die dickflüssige, haselnussbraune Crème
in die vorgewärmteTasse schoss, einem
Erdbeben gleich. «Ichkonnte erstmals
das Buttercaramel schmecken. Es war
wie ein Sonnenaufgang», erinnert sich
Schomer. «Das hat mich umgehauen.»
Heute gibt es in Seattle zahlrei-
che Kleinbetriebe, die ausgezeichne-
ten Espresso und andere Kaffeespezia-
litäten servieren. StattLadenketten be-
suchen Einheimische lieber Einzel-
geschäfte, die Wert auf eine nachhaltige
Wertschöpfungskette legen. Lokale, un-
abhängige Kaffeehäuser und Mikrorös-
tereien sind hoch imKurs.Viele von
ihnen bieten auchregelmässig Kaffee-
degustationen an.
Inzwischen haben sich auch jüngere
Betriebe in Seattle etabliert. Moderne
Einrichtungen und Designs widerspie-
geln den Zeitgeist, doch dieKernidee,
dass Kaffee in einem gemütlichen Um-

feld genossen werden soll, bleibt. Cafés
sind Arbeitsorte für Studenten und
Selbständige,Treff punktefür Künst-
ler undPensionierte. Sie stärken das
Gemeinschaftsgefühl, und sie sind der
Zufluchtsort, wenn die Temperatu-
ren draussen tief sind und derRegen
kommt. Hier lebt und atmet die Stadt,
hier kommt man zusammen, macht Ge-
schäfte oder entspannt sich.
SchomersTag hat wie immer mit
einem Espresso Macchiato begonnen.
Selbst nach dreiJahrzehnten im Se-
attler Kaffeegeschäft arbeitet er uner-
müdlich weiter an seinem grossen Ziel:
dem perfekten Espresso. Denn perfekt
soll das Getränk immer, das heisst bei
jeder einzelnen Zubereitung, heraus-
kommen.Damitdies gelinge,müsse
er weitereVerarbeitungsschrittever-
bessern, erklärt Schomer. Eine stabile
Wassertemperatur sei erst der Anfang,
es gehe auch um Dinge wieRöstung,
Mühle oder Mahlgrad.Dazwischen will
er sich weiterhin der Qualitätskontrolle
und derPersonalausbildung widmen.
Von den fünfzigPersonen seinesTeams
stehen die meisten an der Espresso-
maschine. Schomer trainiert sie alle per-
sönlich.Für wie lange? Er zögert nicht:
«Für immer.»

Statt Ladenketten


besuchen Einheimische


lieberEinzelgeschäfte,


die Wert aufnachhaltige


Wertschöpfung legen.


In den Cafés lebt


und atmet die Stadt,


hierkommt man zusam-


men, macht Geschäfte


oder entspannt sich.


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PAZIFIK

In den 1960erJahren kamen die ersten Kaffeeröster–und Seattle entwickelte sichimmer mehrzur Kaffeestadt. BILDERREUTERS
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