Der junge Moschus-
ochse konnte die Wölfe
20 Minuten lang
abwehren, bevor er
unterlag. One Eye
(„Einauge“, l.) versucht,
dem Kalb in die Nase
zu beißen und es fest-
zuhalten, während die
anderen Wölfe von
hinten angreifen. So
lernen die Jährlinge
töten, meistens indem
sie junge, alte oder
kranke Tiere anfallen.
Manchmal fangen die
ausgehungerten Wölfe
schon an zu fressen,
bevor die Beute tot ist.
habe. Es war, als ob wir uns bis in unsere DNA
hinein erkannten. Damit meine ich nicht, dass
wir eine persönliche Bindung gehabt hätten –
eher eine auf Speziesebene. Wölfe sind etwas
älter als der moderne Mensch und waren bei der
Entstehung des Homo sapiens schon voll ausge-
bildet. Vielleicht lernten die ersten Menschen
das Jagen von Wölfen – noch bevor einige von
ihnen zu unseren Haustieren wurden.
Wie der Mensch ist auch der Wolf eines der
anpassungsfähigsten Tiere der Welt. Er lebt in
Familienverbänden, die in gewisser Hinsicht
Menschenfamilien mehr ähneln als die unserer
engsten Verwandten, der Primaten. Wenn sich
die Arktis durch den Klimawandel verändert,
werden sich Wölfe wahrscheinlich so anpassen,
wie wir es tun: Indem sie sich neue Fähigkeiten
zunutze machen und, wenn nichts mehr geht,
einfach woanders hinziehen.
K
URZ VOR MEINER An-
kunft auf Ellesmere
hatte das Rudel seine
Mutter verloren. Sie
war vielleicht fünf oder
sechs Jahre alt und
schmal in den Hüften,
sie stand nur noch be-
schwerlich auf – und
hatte doch so eindeutig das Sagen, dass meine
Freunde ihr die Gebrechlichkeit zuerst nicht
angesehen hatten. Vermutlich war sie die Mut-
ter von jedem Wolf in dem Rudel, mit Ausnah-
me ihres Partners, eines schlanken Rüden mit
schneeweißem Fell. Er war der wichtigste Jäger
der Gruppe, aber sie war ihr Mittelpunkt.
Nach mehreren vergeblichen Jagdversuchen
(Wolfsjagden enden oft erfolglos) war es dem
Rudel gelungen, ein etwa hundert Kilo schweres
Moschuskalb zu erlegen. Die Wölfe hatten schon
eine Weile keine große Mahlzeit mehr gefressen
und scharten sich um den Kadaver, keuchend,
erschöpft, ausgehungert. Die Wolfsmutter aber
wehrte die älteren Wölfe ab. Stattdessen ließ sie
nur die vier Welpen fressen, bis ihre Bäuche so
groß wie Bowlingkugeln waren. Wahrscheinlich
war es deren erste Mahlzeit aus Frischfleisch.
Erst am Ende durften alle Mitglieder des
Rudels fressen. Die Tiere stopften sich voll und
verfielen in die Wolfsversion eines Fresskomas.
Etwas später verschwand die Matriarchin. Sie
kehrte nie zurück.
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